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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Lage des Handwerks

Vergebens. Alle Zunftgesetze und Polizeiverordnungen, alle Sperrmaßregeln
und lästige" Beschränkungen vermochten nicht zu verhindern, daß sich einzelne
Meister zu Fabrikanten emporschwangen, die Kleinmeister aber im Elend ver¬
kümmerten, daß ein Heer von Handwerksgesellen heranwuchs, die keine Aussicht
hatten, selbständig zu werden, und in geschlossener Organisation den Meistern
feindlich gegenübertrat, daß die Zunftmeister über Pfuscher, Störer und Böu-
haseu klagten, über "mutwillige Buben," die ihnen die Arbeit wegnahmen,
obwohl der Mutwille in weiter nichts bestand, als daß diese Vnder eben mich
leben wollten. Die alten Zunftordnungen, Chroniken und Satiren sind voll
von diesen Klagen, die sich vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts bis in
unsre Tage herein ununterbrochen fortziehen; auch die Verfasser der vorliegenden
Berichte haben einige davon aufgenommen. Unsre Zunftmeister täuschen sich
also sehr, wenn sie den berühmten goldnen Boden 'ur ein Produkt des Zunft¬
zwangs ansehen. In der ersten Hälfte des Mittelalters, wo das Handwerk
wirklich einen goldnen Boden hatte, gab es wenig oder keinen Zunftzwang,
und in der zweiten, wo der Zunftzwang den Verlornen goldnen Boden wieder¬
schaffen sollte, ist ihm das nirgends gelungen.

Machen wir uns die an sich klare Sache an einem einzelnen Gewerbe
noch klarer. In der Zeit, wo auf tausend Einwohner ein Schuster kommen
mochte, müssen Stiefel ungemein teuer gewesen sein, obwohl das Vieh, daher
auch das Leder spottbillig war. Hätte damals jeder Deutsche im Jahre el"
Paar Schuhe abgerissen, so hätten die Leute immer abwechselnd ein Jahr
beschuht und dann ein paar Jahre barfuß gehe" müssen, denn auch der fleißigste
und geschickteste Schuhmacher bringt ohne Maschine an einem Tage noch nicht
ein Paar Stiefel, geschweige denn drei Paar fertig. Die Stiefel mußten also
sehr gediegen gemacht werden, sodaß sie mehrere Jahre hielten, und so standen
sich beide Teile gut. Der Landmann mußte zwar einen hohen Preis zahlen,
aber die Ausgabe traf ihn nur selten, der Schuster aber hatte einen hohen
Verdienst, auch wenn er allein oder nur mit einem Gesellen arbeitete. Als
dann die Zahl der Schuster so zunahm, daß schon auf je hundert oder noch
weniger Personen einer kam, mußte selbstverständlich der Preis seiner Ware
bedeutend sinken, und nur noch die Masse, d. h. in diesem Falle die Aus¬
beutung von Gesellen und Lehrlingen, konnte ihm das zum Lebensunterhalt
nötige einbringen. Dann kam in unserm Jahrhundert die Maschine. Anfangs
schadete sie dem Kleinmeister noch nicht so viel, weil die Schuhfabriken für
das Ausland arbeiteten, und wohl auch Kleinmeister sich an der Fabrikation
für den Export beteiligten. Aber in unsrer Zeit sind alle Länder der Erde,
mit Ausnahme einiger ganz wilden, Industrieländer geworden, und da sich
jede Erfindung, jede Industrie mit rasender Schnelligkeit über die ganze zivi-
lisirte Welt verbreitet, so konnten die Schnhfabriken ihre auswärtigen Absatz¬
gebiete nicht lange behaupten. Aus Nüblings Bericht über das Schuster-


Die Lage des Handwerks

Vergebens. Alle Zunftgesetze und Polizeiverordnungen, alle Sperrmaßregeln
und lästige» Beschränkungen vermochten nicht zu verhindern, daß sich einzelne
Meister zu Fabrikanten emporschwangen, die Kleinmeister aber im Elend ver¬
kümmerten, daß ein Heer von Handwerksgesellen heranwuchs, die keine Aussicht
hatten, selbständig zu werden, und in geschlossener Organisation den Meistern
feindlich gegenübertrat, daß die Zunftmeister über Pfuscher, Störer und Böu-
haseu klagten, über „mutwillige Buben," die ihnen die Arbeit wegnahmen,
obwohl der Mutwille in weiter nichts bestand, als daß diese Vnder eben mich
leben wollten. Die alten Zunftordnungen, Chroniken und Satiren sind voll
von diesen Klagen, die sich vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts bis in
unsre Tage herein ununterbrochen fortziehen; auch die Verfasser der vorliegenden
Berichte haben einige davon aufgenommen. Unsre Zunftmeister täuschen sich
also sehr, wenn sie den berühmten goldnen Boden 'ur ein Produkt des Zunft¬
zwangs ansehen. In der ersten Hälfte des Mittelalters, wo das Handwerk
wirklich einen goldnen Boden hatte, gab es wenig oder keinen Zunftzwang,
und in der zweiten, wo der Zunftzwang den Verlornen goldnen Boden wieder¬
schaffen sollte, ist ihm das nirgends gelungen.

Machen wir uns die an sich klare Sache an einem einzelnen Gewerbe
noch klarer. In der Zeit, wo auf tausend Einwohner ein Schuster kommen
mochte, müssen Stiefel ungemein teuer gewesen sein, obwohl das Vieh, daher
auch das Leder spottbillig war. Hätte damals jeder Deutsche im Jahre el»
Paar Schuhe abgerissen, so hätten die Leute immer abwechselnd ein Jahr
beschuht und dann ein paar Jahre barfuß gehe» müssen, denn auch der fleißigste
und geschickteste Schuhmacher bringt ohne Maschine an einem Tage noch nicht
ein Paar Stiefel, geschweige denn drei Paar fertig. Die Stiefel mußten also
sehr gediegen gemacht werden, sodaß sie mehrere Jahre hielten, und so standen
sich beide Teile gut. Der Landmann mußte zwar einen hohen Preis zahlen,
aber die Ausgabe traf ihn nur selten, der Schuster aber hatte einen hohen
Verdienst, auch wenn er allein oder nur mit einem Gesellen arbeitete. Als
dann die Zahl der Schuster so zunahm, daß schon auf je hundert oder noch
weniger Personen einer kam, mußte selbstverständlich der Preis seiner Ware
bedeutend sinken, und nur noch die Masse, d. h. in diesem Falle die Aus¬
beutung von Gesellen und Lehrlingen, konnte ihm das zum Lebensunterhalt
nötige einbringen. Dann kam in unserm Jahrhundert die Maschine. Anfangs
schadete sie dem Kleinmeister noch nicht so viel, weil die Schuhfabriken für
das Ausland arbeiteten, und wohl auch Kleinmeister sich an der Fabrikation
für den Export beteiligten. Aber in unsrer Zeit sind alle Länder der Erde,
mit Ausnahme einiger ganz wilden, Industrieländer geworden, und da sich
jede Erfindung, jede Industrie mit rasender Schnelligkeit über die ganze zivi-
lisirte Welt verbreitet, so konnten die Schnhfabriken ihre auswärtigen Absatz¬
gebiete nicht lange behaupten. Aus Nüblings Bericht über das Schuster-


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[0176] Die Lage des Handwerks Vergebens. Alle Zunftgesetze und Polizeiverordnungen, alle Sperrmaßregeln und lästige» Beschränkungen vermochten nicht zu verhindern, daß sich einzelne Meister zu Fabrikanten emporschwangen, die Kleinmeister aber im Elend ver¬ kümmerten, daß ein Heer von Handwerksgesellen heranwuchs, die keine Aussicht hatten, selbständig zu werden, und in geschlossener Organisation den Meistern feindlich gegenübertrat, daß die Zunftmeister über Pfuscher, Störer und Böu- haseu klagten, über „mutwillige Buben," die ihnen die Arbeit wegnahmen, obwohl der Mutwille in weiter nichts bestand, als daß diese Vnder eben mich leben wollten. Die alten Zunftordnungen, Chroniken und Satiren sind voll von diesen Klagen, die sich vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts bis in unsre Tage herein ununterbrochen fortziehen; auch die Verfasser der vorliegenden Berichte haben einige davon aufgenommen. Unsre Zunftmeister täuschen sich also sehr, wenn sie den berühmten goldnen Boden 'ur ein Produkt des Zunft¬ zwangs ansehen. In der ersten Hälfte des Mittelalters, wo das Handwerk wirklich einen goldnen Boden hatte, gab es wenig oder keinen Zunftzwang, und in der zweiten, wo der Zunftzwang den Verlornen goldnen Boden wieder¬ schaffen sollte, ist ihm das nirgends gelungen. Machen wir uns die an sich klare Sache an einem einzelnen Gewerbe noch klarer. In der Zeit, wo auf tausend Einwohner ein Schuster kommen mochte, müssen Stiefel ungemein teuer gewesen sein, obwohl das Vieh, daher auch das Leder spottbillig war. Hätte damals jeder Deutsche im Jahre el» Paar Schuhe abgerissen, so hätten die Leute immer abwechselnd ein Jahr beschuht und dann ein paar Jahre barfuß gehe» müssen, denn auch der fleißigste und geschickteste Schuhmacher bringt ohne Maschine an einem Tage noch nicht ein Paar Stiefel, geschweige denn drei Paar fertig. Die Stiefel mußten also sehr gediegen gemacht werden, sodaß sie mehrere Jahre hielten, und so standen sich beide Teile gut. Der Landmann mußte zwar einen hohen Preis zahlen, aber die Ausgabe traf ihn nur selten, der Schuster aber hatte einen hohen Verdienst, auch wenn er allein oder nur mit einem Gesellen arbeitete. Als dann die Zahl der Schuster so zunahm, daß schon auf je hundert oder noch weniger Personen einer kam, mußte selbstverständlich der Preis seiner Ware bedeutend sinken, und nur noch die Masse, d. h. in diesem Falle die Aus¬ beutung von Gesellen und Lehrlingen, konnte ihm das zum Lebensunterhalt nötige einbringen. Dann kam in unserm Jahrhundert die Maschine. Anfangs schadete sie dem Kleinmeister noch nicht so viel, weil die Schuhfabriken für das Ausland arbeiteten, und wohl auch Kleinmeister sich an der Fabrikation für den Export beteiligten. Aber in unsrer Zeit sind alle Länder der Erde, mit Ausnahme einiger ganz wilden, Industrieländer geworden, und da sich jede Erfindung, jede Industrie mit rasender Schnelligkeit über die ganze zivi- lisirte Welt verbreitet, so konnten die Schnhfabriken ihre auswärtigen Absatz¬ gebiete nicht lange behaupten. Aus Nüblings Bericht über das Schuster-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/176>, abgerufen am 04.07.2024.