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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Lage des Handwerks

die eignen Kinder zu mißhandeln dürfte in diesen offnen Behausungen, denen
die fortschreitende "Zivilisation" freilich wohl auch über kurz oder lang den
Garaus machen wird, kaum möglich sein. In den "Untersuchungen" wird
das Wohnungselend u. ni. in den Berichten über die Leipziger Schuster und
die Mainzer Tischler hervorgehoben. Dazu sieht sich noch der arme Miet¬
kasernenbewohner zum nomadisiren, zum öftern Umziehen genötigt, was ihm
nicht bloß unverhältnismäßig große unproduktive Ausgaben verursacht, sondern
auch sein bischen Hausrat in kurzer Zeit zu Grunde richtet und die Gewin¬
nung einer festen Kundschaft noch unmöglicher macht, als sie aus dem oben
angeführten Grunde schon ist. Gelingt es aber einem Handwerker, Wurzel zu
schlagen, und gedeiht sein Geschäft, so kommt der Hauswirt und schöpft ihm durch
Erhöhung der Miete den Nahm ab. (Dieser Umstand wird in den Berichten
über die Schuhmacherei in Altona und über das Schlächtergewerbe in Düssel¬
dorf hervorgehoben.) Ob wohl diese Art städtischer Hörigkeit weniger drücken
mag als die ländliche im Mittelalter?

Endlich ist ein Übelstand nicht zu vergessen, der weder mit dem Kapital
noch mit der Maschine etwas zu schaffen hat, noch mich mit dem Ban der
heutigen Gesellschaft, sondern rein moralischer Natur ist: die abscheuliche Pump¬
wirtschaft, die kein Einsichtiger mit der berechtigten Kreditwirtschaft verwechseln
wird. Es ist überflüssig, die daraus entspringenden Schäden nochmals aus¬
einanderzusetzen, jedermann kennt sie. Es genügt zu bemerke", daß alle Or¬
ganisationen, alle Schutzgesetze dem Kleinmeister nichts nützen können, wenn er
es nicht durchsetzen kann, daß ihn seine Kunden bar bezahlen. Alle Orgnni-
sativnsentwürfe, mit denen sich der Minister für Handel und Gewerbe so un¬
endlich viel Mühe giebt, werden, selbst wenn sie über alles Erwarten gelingen,
nicht halb so viel nützen, als es nützen würde, wenn das Gesetz den Hand¬
werkern das Recht unbeschränkter Selbsthilfe gegen faule Kunden einräumte,
und wenn die Handwerker davon Gebrauch machten und sich zur planmäßigen
Selbsthilfe organisirten. Von moralischer Einwirknng ist kaum noch etwas zu
erwarten; wie das leichtsinnige und gewissenlose Schuldenmachen sittlich zu
beurteilen sei, lernt ja wohl jedes Kind in der Schule.

(Schluß folgt)




Die Lage des Handwerks

die eignen Kinder zu mißhandeln dürfte in diesen offnen Behausungen, denen
die fortschreitende „Zivilisation" freilich wohl auch über kurz oder lang den
Garaus machen wird, kaum möglich sein. In den „Untersuchungen" wird
das Wohnungselend u. ni. in den Berichten über die Leipziger Schuster und
die Mainzer Tischler hervorgehoben. Dazu sieht sich noch der arme Miet¬
kasernenbewohner zum nomadisiren, zum öftern Umziehen genötigt, was ihm
nicht bloß unverhältnismäßig große unproduktive Ausgaben verursacht, sondern
auch sein bischen Hausrat in kurzer Zeit zu Grunde richtet und die Gewin¬
nung einer festen Kundschaft noch unmöglicher macht, als sie aus dem oben
angeführten Grunde schon ist. Gelingt es aber einem Handwerker, Wurzel zu
schlagen, und gedeiht sein Geschäft, so kommt der Hauswirt und schöpft ihm durch
Erhöhung der Miete den Nahm ab. (Dieser Umstand wird in den Berichten
über die Schuhmacherei in Altona und über das Schlächtergewerbe in Düssel¬
dorf hervorgehoben.) Ob wohl diese Art städtischer Hörigkeit weniger drücken
mag als die ländliche im Mittelalter?

Endlich ist ein Übelstand nicht zu vergessen, der weder mit dem Kapital
noch mit der Maschine etwas zu schaffen hat, noch mich mit dem Ban der
heutigen Gesellschaft, sondern rein moralischer Natur ist: die abscheuliche Pump¬
wirtschaft, die kein Einsichtiger mit der berechtigten Kreditwirtschaft verwechseln
wird. Es ist überflüssig, die daraus entspringenden Schäden nochmals aus¬
einanderzusetzen, jedermann kennt sie. Es genügt zu bemerke», daß alle Or¬
ganisationen, alle Schutzgesetze dem Kleinmeister nichts nützen können, wenn er
es nicht durchsetzen kann, daß ihn seine Kunden bar bezahlen. Alle Orgnni-
sativnsentwürfe, mit denen sich der Minister für Handel und Gewerbe so un¬
endlich viel Mühe giebt, werden, selbst wenn sie über alles Erwarten gelingen,
nicht halb so viel nützen, als es nützen würde, wenn das Gesetz den Hand¬
werkern das Recht unbeschränkter Selbsthilfe gegen faule Kunden einräumte,
und wenn die Handwerker davon Gebrauch machten und sich zur planmäßigen
Selbsthilfe organisirten. Von moralischer Einwirknng ist kaum noch etwas zu
erwarten; wie das leichtsinnige und gewissenlose Schuldenmachen sittlich zu
beurteilen sei, lernt ja wohl jedes Kind in der Schule.

(Schluß folgt)




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[0136] Die Lage des Handwerks die eignen Kinder zu mißhandeln dürfte in diesen offnen Behausungen, denen die fortschreitende „Zivilisation" freilich wohl auch über kurz oder lang den Garaus machen wird, kaum möglich sein. In den „Untersuchungen" wird das Wohnungselend u. ni. in den Berichten über die Leipziger Schuster und die Mainzer Tischler hervorgehoben. Dazu sieht sich noch der arme Miet¬ kasernenbewohner zum nomadisiren, zum öftern Umziehen genötigt, was ihm nicht bloß unverhältnismäßig große unproduktive Ausgaben verursacht, sondern auch sein bischen Hausrat in kurzer Zeit zu Grunde richtet und die Gewin¬ nung einer festen Kundschaft noch unmöglicher macht, als sie aus dem oben angeführten Grunde schon ist. Gelingt es aber einem Handwerker, Wurzel zu schlagen, und gedeiht sein Geschäft, so kommt der Hauswirt und schöpft ihm durch Erhöhung der Miete den Nahm ab. (Dieser Umstand wird in den Berichten über die Schuhmacherei in Altona und über das Schlächtergewerbe in Düssel¬ dorf hervorgehoben.) Ob wohl diese Art städtischer Hörigkeit weniger drücken mag als die ländliche im Mittelalter? Endlich ist ein Übelstand nicht zu vergessen, der weder mit dem Kapital noch mit der Maschine etwas zu schaffen hat, noch mich mit dem Ban der heutigen Gesellschaft, sondern rein moralischer Natur ist: die abscheuliche Pump¬ wirtschaft, die kein Einsichtiger mit der berechtigten Kreditwirtschaft verwechseln wird. Es ist überflüssig, die daraus entspringenden Schäden nochmals aus¬ einanderzusetzen, jedermann kennt sie. Es genügt zu bemerke», daß alle Or¬ ganisationen, alle Schutzgesetze dem Kleinmeister nichts nützen können, wenn er es nicht durchsetzen kann, daß ihn seine Kunden bar bezahlen. Alle Orgnni- sativnsentwürfe, mit denen sich der Minister für Handel und Gewerbe so un¬ endlich viel Mühe giebt, werden, selbst wenn sie über alles Erwarten gelingen, nicht halb so viel nützen, als es nützen würde, wenn das Gesetz den Hand¬ werkern das Recht unbeschränkter Selbsthilfe gegen faule Kunden einräumte, und wenn die Handwerker davon Gebrauch machten und sich zur planmäßigen Selbsthilfe organisirten. Von moralischer Einwirknng ist kaum noch etwas zu erwarten; wie das leichtsinnige und gewissenlose Schuldenmachen sittlich zu beurteilen sei, lernt ja wohl jedes Kind in der Schule. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/136>, abgerufen am 24.07.2024.