Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Lage des Handwerks

präsumtiv unwahrhaftige Klasse von Menschen ansehen." Alle diese von Wil-
mowski anschaulich geschilderten Mißstände würden aufhören.

Einen Scheingrund, der oft zur Verteidigung der freien Advokatur vor¬
gebracht wird, läßt übrigens Wilmowski unerwähnt. Man sagt vielfach, daß
durch die freie Advokatur der Rechtsuchende die Auswahl unter einer größern
Anzahl von Anwälten habe, und daß das ein Vorteil für die Rechtspflege sei.
Die Irrigkeit dieser Annahme ergiebt sich für die Hauptthätigkeit des Auwalts,
also für den Zivilprozeß sofort, wenn man sich die Folgen der Lokalisirung
der Anwaltschaft vergegenwärtigt. Wer früher einen Prozeß bei den ost-
preußischen Landgerichten zu Braunsberg oder Lyck zu führen hatte, der konnte
sich als Prozcßbevvllmächtigten einen der etwa tausend Anwälte aussuchen,
die es damals in Preußen gab. Heute muß sich infolge der durch die Zivil¬
prozeßordnung eingeführten Lokalisirung ein Bürger von Berlin oder Münster
gerade an einen der vier oder fünf Anwälte wenden, die bei dem genannten
ostpreußischen Prozeßgericht zugelassen sind; kein andrer Anwalt kann die Stelle
des Prozeßbevollmächtigten übernehmen. Mit andern Worten: die etwaigen
günstigen Folgen der Freizügigkeit werden durch die Lokalisirung der Anwalt¬
schaft aufgehoben! Es ist ein merkwürdiger Widerspruch, daß von zwei zu
gleicher Zeit in Kraft tretenden Gesetzen das eine eine unbeschränkte Anzahl
von Anwälten ermöglicht, das andre aber dem Rechtsuchenden die größte
Beschränkung in der Wahl seines Vertreters auflegt, das eine eine unbe¬
schränkte Freizügigkeit der Anwaltschaft einführt, das andre aber dem Anwalt
verbietet, Arbeit überall da anzunehmen, wo sie ihm angeboten wird. Jene
Lokalisirung mag ja geboten sein infolge der Grundsätze der Mündlichkeit und
des Parteibetriebes im Zivilprozeß.




Die Tage des Handwerks

le Grenzboten haben wiederholt hervorgehoben, daß die seit Jahr¬
zehnten übliche Methode der Agitatoren, die Not "des Hand¬
werks" und "der Landwirtschaft" zu beklagen, ein wahres Un¬
glück ist, weil darüber die Untersuchung versäumt wird, welche
Handwerker und welche Landwirte eigentlich Not leiden, und
worin eigentlich ihre Not besteht. Der Verein für Sozialpolitik hat sich der
Mühe dieser Untersuchung in Beziehung auf die Landwirtschaft schon vor zehn


Die Lage des Handwerks

präsumtiv unwahrhaftige Klasse von Menschen ansehen." Alle diese von Wil-
mowski anschaulich geschilderten Mißstände würden aufhören.

Einen Scheingrund, der oft zur Verteidigung der freien Advokatur vor¬
gebracht wird, läßt übrigens Wilmowski unerwähnt. Man sagt vielfach, daß
durch die freie Advokatur der Rechtsuchende die Auswahl unter einer größern
Anzahl von Anwälten habe, und daß das ein Vorteil für die Rechtspflege sei.
Die Irrigkeit dieser Annahme ergiebt sich für die Hauptthätigkeit des Auwalts,
also für den Zivilprozeß sofort, wenn man sich die Folgen der Lokalisirung
der Anwaltschaft vergegenwärtigt. Wer früher einen Prozeß bei den ost-
preußischen Landgerichten zu Braunsberg oder Lyck zu führen hatte, der konnte
sich als Prozcßbevvllmächtigten einen der etwa tausend Anwälte aussuchen,
die es damals in Preußen gab. Heute muß sich infolge der durch die Zivil¬
prozeßordnung eingeführten Lokalisirung ein Bürger von Berlin oder Münster
gerade an einen der vier oder fünf Anwälte wenden, die bei dem genannten
ostpreußischen Prozeßgericht zugelassen sind; kein andrer Anwalt kann die Stelle
des Prozeßbevollmächtigten übernehmen. Mit andern Worten: die etwaigen
günstigen Folgen der Freizügigkeit werden durch die Lokalisirung der Anwalt¬
schaft aufgehoben! Es ist ein merkwürdiger Widerspruch, daß von zwei zu
gleicher Zeit in Kraft tretenden Gesetzen das eine eine unbeschränkte Anzahl
von Anwälten ermöglicht, das andre aber dem Rechtsuchenden die größte
Beschränkung in der Wahl seines Vertreters auflegt, das eine eine unbe¬
schränkte Freizügigkeit der Anwaltschaft einführt, das andre aber dem Anwalt
verbietet, Arbeit überall da anzunehmen, wo sie ihm angeboten wird. Jene
Lokalisirung mag ja geboten sein infolge der Grundsätze der Mündlichkeit und
des Parteibetriebes im Zivilprozeß.




Die Tage des Handwerks

le Grenzboten haben wiederholt hervorgehoben, daß die seit Jahr¬
zehnten übliche Methode der Agitatoren, die Not „des Hand¬
werks" und „der Landwirtschaft" zu beklagen, ein wahres Un¬
glück ist, weil darüber die Untersuchung versäumt wird, welche
Handwerker und welche Landwirte eigentlich Not leiden, und
worin eigentlich ihre Not besteht. Der Verein für Sozialpolitik hat sich der
Mühe dieser Untersuchung in Beziehung auf die Landwirtschaft schon vor zehn


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0125" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221101"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Lage des Handwerks</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_398" prev="#ID_397"> präsumtiv unwahrhaftige Klasse von Menschen ansehen." Alle diese von Wil-<lb/>
mowski anschaulich geschilderten Mißstände würden aufhören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_399"> Einen Scheingrund, der oft zur Verteidigung der freien Advokatur vor¬<lb/>
gebracht wird, läßt übrigens Wilmowski unerwähnt. Man sagt vielfach, daß<lb/>
durch die freie Advokatur der Rechtsuchende die Auswahl unter einer größern<lb/>
Anzahl von Anwälten habe, und daß das ein Vorteil für die Rechtspflege sei.<lb/>
Die Irrigkeit dieser Annahme ergiebt sich für die Hauptthätigkeit des Auwalts,<lb/>
also für den Zivilprozeß sofort, wenn man sich die Folgen der Lokalisirung<lb/>
der Anwaltschaft vergegenwärtigt. Wer früher einen Prozeß bei den ost-<lb/>
preußischen Landgerichten zu Braunsberg oder Lyck zu führen hatte, der konnte<lb/>
sich als Prozcßbevvllmächtigten einen der etwa tausend Anwälte aussuchen,<lb/>
die es damals in Preußen gab. Heute muß sich infolge der durch die Zivil¬<lb/>
prozeßordnung eingeführten Lokalisirung ein Bürger von Berlin oder Münster<lb/>
gerade an einen der vier oder fünf Anwälte wenden, die bei dem genannten<lb/>
ostpreußischen Prozeßgericht zugelassen sind; kein andrer Anwalt kann die Stelle<lb/>
des Prozeßbevollmächtigten übernehmen. Mit andern Worten: die etwaigen<lb/>
günstigen Folgen der Freizügigkeit werden durch die Lokalisirung der Anwalt¬<lb/>
schaft aufgehoben! Es ist ein merkwürdiger Widerspruch, daß von zwei zu<lb/>
gleicher Zeit in Kraft tretenden Gesetzen das eine eine unbeschränkte Anzahl<lb/>
von Anwälten ermöglicht, das andre aber dem Rechtsuchenden die größte<lb/>
Beschränkung in der Wahl seines Vertreters auflegt, das eine eine unbe¬<lb/>
schränkte Freizügigkeit der Anwaltschaft einführt, das andre aber dem Anwalt<lb/>
verbietet, Arbeit überall da anzunehmen, wo sie ihm angeboten wird. Jene<lb/>
Lokalisirung mag ja geboten sein infolge der Grundsätze der Mündlichkeit und<lb/>
des Parteibetriebes im Zivilprozeß.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Tage des Handwerks</head><lb/>
          <p xml:id="ID_400" next="#ID_401"> le Grenzboten haben wiederholt hervorgehoben, daß die seit Jahr¬<lb/>
zehnten übliche Methode der Agitatoren, die Not &#x201E;des Hand¬<lb/>
werks" und &#x201E;der Landwirtschaft" zu beklagen, ein wahres Un¬<lb/>
glück ist, weil darüber die Untersuchung versäumt wird, welche<lb/>
Handwerker und welche Landwirte eigentlich Not leiden, und<lb/>
worin eigentlich ihre Not besteht. Der Verein für Sozialpolitik hat sich der<lb/>
Mühe dieser Untersuchung in Beziehung auf die Landwirtschaft schon vor zehn</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0125] Die Lage des Handwerks präsumtiv unwahrhaftige Klasse von Menschen ansehen." Alle diese von Wil- mowski anschaulich geschilderten Mißstände würden aufhören. Einen Scheingrund, der oft zur Verteidigung der freien Advokatur vor¬ gebracht wird, läßt übrigens Wilmowski unerwähnt. Man sagt vielfach, daß durch die freie Advokatur der Rechtsuchende die Auswahl unter einer größern Anzahl von Anwälten habe, und daß das ein Vorteil für die Rechtspflege sei. Die Irrigkeit dieser Annahme ergiebt sich für die Hauptthätigkeit des Auwalts, also für den Zivilprozeß sofort, wenn man sich die Folgen der Lokalisirung der Anwaltschaft vergegenwärtigt. Wer früher einen Prozeß bei den ost- preußischen Landgerichten zu Braunsberg oder Lyck zu führen hatte, der konnte sich als Prozcßbevvllmächtigten einen der etwa tausend Anwälte aussuchen, die es damals in Preußen gab. Heute muß sich infolge der durch die Zivil¬ prozeßordnung eingeführten Lokalisirung ein Bürger von Berlin oder Münster gerade an einen der vier oder fünf Anwälte wenden, die bei dem genannten ostpreußischen Prozeßgericht zugelassen sind; kein andrer Anwalt kann die Stelle des Prozeßbevollmächtigten übernehmen. Mit andern Worten: die etwaigen günstigen Folgen der Freizügigkeit werden durch die Lokalisirung der Anwalt¬ schaft aufgehoben! Es ist ein merkwürdiger Widerspruch, daß von zwei zu gleicher Zeit in Kraft tretenden Gesetzen das eine eine unbeschränkte Anzahl von Anwälten ermöglicht, das andre aber dem Rechtsuchenden die größte Beschränkung in der Wahl seines Vertreters auflegt, das eine eine unbe¬ schränkte Freizügigkeit der Anwaltschaft einführt, das andre aber dem Anwalt verbietet, Arbeit überall da anzunehmen, wo sie ihm angeboten wird. Jene Lokalisirung mag ja geboten sein infolge der Grundsätze der Mündlichkeit und des Parteibetriebes im Zivilprozeß. Die Tage des Handwerks le Grenzboten haben wiederholt hervorgehoben, daß die seit Jahr¬ zehnten übliche Methode der Agitatoren, die Not „des Hand¬ werks" und „der Landwirtschaft" zu beklagen, ein wahres Un¬ glück ist, weil darüber die Untersuchung versäumt wird, welche Handwerker und welche Landwirte eigentlich Not leiden, und worin eigentlich ihre Not besteht. Der Verein für Sozialpolitik hat sich der Mühe dieser Untersuchung in Beziehung auf die Landwirtschaft schon vor zehn

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/125
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/125>, abgerufen am 24.07.2024.