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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Es giebt aber noch andre greifbarere Gründe für die Befürchtungen Eng¬
lands. Skobeleff sagte nach der Unterwerfung der Teke-Turkmeuein "Wenn
wir hier stehen bleiben, ist das Fell nicht wert, daß man es gerbt." Rußland
muß aus den zwingendsten Gründen fortschreiten, denn es kann nicht dauernd
acht bis zehn Millionen Rubel im Jahre in den Steppen ausgeben, an deren
Südrand die lohnendsten Ziele winken. Wohl gehen russische Waren bis an
die Grenzen von Indien, und der Rubel begegnet der Rupie in Persien und
Mesopotamien, in Kaschgar, Uarkand, Ladak und auf den Märkten Tibets. Aber
der Landtransport ist weit, und England hat den billigen Seeweg, auf dem
der Schnellverkehr in solchem Maße entwickelt ist, daß englische Offiziere, die
in diesem Frühjahr nach Beendigung des Feldzugs nach Tschitral geschickt
wurden, den Weg von London nach Dir am Südfuße des Hindukusch in
sechzehn Tagen zurücklegten. Die ganze russische Ausfuhr nach Asien (1891
siebenundsiebzig Millionen Rubel) ist kaum der dritte Teil der englischen nach
Indien. Jede Meile näher an Indien bringt also Rußland in eine bessere
wirtschaftliche Stellung, und ohne eine Zweiglinie nach Herat ist die be¬
rühmte Transkaspibahn nur halb fertig.

Indien ist aber überhaupt nur ein Teil eines großen asiatischen Problems.
Da Nußland auf England am Goldner Horn und am Euphrat, in Persien und
in Tibet, in China und in Japan, ja selbst im Beringsmecr trifft, bedeutet ihm
der Vormarsch gegen Indien einen Stoß, der England auf dieser ganzen langen
Linie trifft. Als während des letzten Orientkriegs Rußland eine militärische
Gesandtschaft in Kabul erscheinen ließ, fühlte sich England schwer bedroht
und hat viel gethan, um selbst diese verhältnismäßig unbedeutende Sache für
die Zukunft unmöglich zu machen. Damals wurde von russischer Seite die
Drohung ausgesprochen, England müsse zum Entgelt für seine rnssenfeiudliche
Haltung im Schwarzen Meere durch einen Vormarsch zum Hindukusch mindestens
genötigt werden, Kabul zu besetzen. Daß ein Vordringen Rußlands an den
Persischen Meerbusen die jetzige See- und künftige Landverbindung zwischen
England und Indien zugleich bedrohen würde, ist ebenso klar. Diese Seite
der großen weltgeschichtlichen Bewegung der Nordmacht gegen Süden wird
nicht genug gewürdigt. Nußland hält Persien heute thatsächlich in seiner
Hand, und das stärkt seine Stellung gegenüber Afghanistan um ebensoviel,
als es die Englands schwächt.




Es giebt aber noch andre greifbarere Gründe für die Befürchtungen Eng¬
lands. Skobeleff sagte nach der Unterwerfung der Teke-Turkmeuein „Wenn
wir hier stehen bleiben, ist das Fell nicht wert, daß man es gerbt." Rußland
muß aus den zwingendsten Gründen fortschreiten, denn es kann nicht dauernd
acht bis zehn Millionen Rubel im Jahre in den Steppen ausgeben, an deren
Südrand die lohnendsten Ziele winken. Wohl gehen russische Waren bis an
die Grenzen von Indien, und der Rubel begegnet der Rupie in Persien und
Mesopotamien, in Kaschgar, Uarkand, Ladak und auf den Märkten Tibets. Aber
der Landtransport ist weit, und England hat den billigen Seeweg, auf dem
der Schnellverkehr in solchem Maße entwickelt ist, daß englische Offiziere, die
in diesem Frühjahr nach Beendigung des Feldzugs nach Tschitral geschickt
wurden, den Weg von London nach Dir am Südfuße des Hindukusch in
sechzehn Tagen zurücklegten. Die ganze russische Ausfuhr nach Asien (1891
siebenundsiebzig Millionen Rubel) ist kaum der dritte Teil der englischen nach
Indien. Jede Meile näher an Indien bringt also Rußland in eine bessere
wirtschaftliche Stellung, und ohne eine Zweiglinie nach Herat ist die be¬
rühmte Transkaspibahn nur halb fertig.

Indien ist aber überhaupt nur ein Teil eines großen asiatischen Problems.
Da Nußland auf England am Goldner Horn und am Euphrat, in Persien und
in Tibet, in China und in Japan, ja selbst im Beringsmecr trifft, bedeutet ihm
der Vormarsch gegen Indien einen Stoß, der England auf dieser ganzen langen
Linie trifft. Als während des letzten Orientkriegs Rußland eine militärische
Gesandtschaft in Kabul erscheinen ließ, fühlte sich England schwer bedroht
und hat viel gethan, um selbst diese verhältnismäßig unbedeutende Sache für
die Zukunft unmöglich zu machen. Damals wurde von russischer Seite die
Drohung ausgesprochen, England müsse zum Entgelt für seine rnssenfeiudliche
Haltung im Schwarzen Meere durch einen Vormarsch zum Hindukusch mindestens
genötigt werden, Kabul zu besetzen. Daß ein Vordringen Rußlands an den
Persischen Meerbusen die jetzige See- und künftige Landverbindung zwischen
England und Indien zugleich bedrohen würde, ist ebenso klar. Diese Seite
der großen weltgeschichtlichen Bewegung der Nordmacht gegen Süden wird
nicht genug gewürdigt. Nußland hält Persien heute thatsächlich in seiner
Hand, und das stärkt seine Stellung gegenüber Afghanistan um ebensoviel,
als es die Englands schwächt.




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[0119] Es giebt aber noch andre greifbarere Gründe für die Befürchtungen Eng¬ lands. Skobeleff sagte nach der Unterwerfung der Teke-Turkmeuein „Wenn wir hier stehen bleiben, ist das Fell nicht wert, daß man es gerbt." Rußland muß aus den zwingendsten Gründen fortschreiten, denn es kann nicht dauernd acht bis zehn Millionen Rubel im Jahre in den Steppen ausgeben, an deren Südrand die lohnendsten Ziele winken. Wohl gehen russische Waren bis an die Grenzen von Indien, und der Rubel begegnet der Rupie in Persien und Mesopotamien, in Kaschgar, Uarkand, Ladak und auf den Märkten Tibets. Aber der Landtransport ist weit, und England hat den billigen Seeweg, auf dem der Schnellverkehr in solchem Maße entwickelt ist, daß englische Offiziere, die in diesem Frühjahr nach Beendigung des Feldzugs nach Tschitral geschickt wurden, den Weg von London nach Dir am Südfuße des Hindukusch in sechzehn Tagen zurücklegten. Die ganze russische Ausfuhr nach Asien (1891 siebenundsiebzig Millionen Rubel) ist kaum der dritte Teil der englischen nach Indien. Jede Meile näher an Indien bringt also Rußland in eine bessere wirtschaftliche Stellung, und ohne eine Zweiglinie nach Herat ist die be¬ rühmte Transkaspibahn nur halb fertig. Indien ist aber überhaupt nur ein Teil eines großen asiatischen Problems. Da Nußland auf England am Goldner Horn und am Euphrat, in Persien und in Tibet, in China und in Japan, ja selbst im Beringsmecr trifft, bedeutet ihm der Vormarsch gegen Indien einen Stoß, der England auf dieser ganzen langen Linie trifft. Als während des letzten Orientkriegs Rußland eine militärische Gesandtschaft in Kabul erscheinen ließ, fühlte sich England schwer bedroht und hat viel gethan, um selbst diese verhältnismäßig unbedeutende Sache für die Zukunft unmöglich zu machen. Damals wurde von russischer Seite die Drohung ausgesprochen, England müsse zum Entgelt für seine rnssenfeiudliche Haltung im Schwarzen Meere durch einen Vormarsch zum Hindukusch mindestens genötigt werden, Kabul zu besetzen. Daß ein Vordringen Rußlands an den Persischen Meerbusen die jetzige See- und künftige Landverbindung zwischen England und Indien zugleich bedrohen würde, ist ebenso klar. Diese Seite der großen weltgeschichtlichen Bewegung der Nordmacht gegen Süden wird nicht genug gewürdigt. Nußland hält Persien heute thatsächlich in seiner Hand, und das stärkt seine Stellung gegenüber Afghanistan um ebensoviel, als es die Englands schwächt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/119>, abgerufen am 24.07.2024.