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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik

sein. Angeblich war damals General Kaufmann mit 15000 Mann auf dem
Wege nach Kabul, und Abramvff sollte mit 2500 Mann die Stämme des
Hindukusch revoltiren, als der Berliner Friede kam. Auf die Zahl kommt
es dabei weniger an, als auf den Eindruck, den eine England feindliche Truppen¬
macht, in Afghanistan einrückend, zunächst in dem wichtigsten Teil von Indien,
in Nordindien, hervorbringen würde. Auf die eingebornen Truppen der Eng¬
länder, ans die es kein gutes Licht wirft, daß Aura Khan von Dschandol seinen
kleinen Krieg in Tschitral mit einer Elitetruppe führte, die mit gestohlenen
oder weggeworfnen Sniderbttchsen der indischen Armee bewaffnet war, würde
ein solcher Vormarsch panisch wirken. Es wäre ein politisches Erdbeben von
unberechenbaren Folgen für die mit den Waffen allein nie zu haltende Macht
Englands in Indien. Daher wollen die Einwürfe gar nichts sagen, Rußland
könne nicht mehr als 4000 Mann über den Dorahpaß nach Tschitral schicken,
wie General Roberts meint, oder (nach Leutnant Curzon, dem Pamirforscher),
es sei höchstens möglich, daß vom Murghab aus drei Heersäulen vou je
1500 Mann über deu Kilikpaß nach Hunsa, über den Baroghilpaß nach Aasiu und
über den Dorahpaß nach Tschitral vorbrechen. Natürlich meint er, es würde kaum
ein Mann davon zurückkehren, aber sie würden doch einen großen Truppen-
körper aus Indien Herausziehen. Sie würden mehr thun als das! Das Bor¬
dringen einer wettbewerbeuden abendländischen Macht gegen den weiten Kreis,
den England um seine indische Stellung gezogen hat, hat ja schon jetzt unter
den kleinen Grenzmächten Indiens die Unruhe und das Widerstreben hervor¬
gerufen, die Rawlinson 1875 vorhergesagt hat. Damals standen die Russen
noch nicht in Merw. "Solange die Wüste zwischen den aralo-kaspischen
Grundlinien der Russen und dem Murghab liegt, sind die Afghanen ruhig,
und wir können in Indien unsern Verwaltungsrefvrmen obliegen, ohne von unsern
nördlichen Nachbarn Notiz zu nehmen; aber wenn die russische Grenze von
Krasnowodsk nach Merw vorgeschoben wird, dann ist die Lage vollständig
verändert und Afghanistan unmittelbar bedroht. Dieselben Ursachen, die einst
die Russen zwangen, am Jaxartes aufwärts zu marschieren, würden sie dann
zwingen, im Thal des Murghab vorzudringen." Der Fall ist seit 1884 ein¬
getreten, Rußland ist sogar noch weiter gegangen, als Rawlinson befürchtet
hatte. Der tröstliche Hinweis, daß beide Mächte den Islam zum gemeinsamen
Feinde hätten, verfängt gar nicht, denn die streng islamitischen Afghanen hält
England nur mit riesigen Opfern ab, an Rußland zu fallen. Es ist sehr un¬
wahrscheinlich, daß sich die Prophezeiung Sobolefs bewahrheiten wird: Ru߬
land und England in Indien unmittelbar aneinandergrenzend und in engem
Bunde die größte Landmacht und Seemacht vereinigend.

Zwei Mächte auf so ganz verschiedner Grundlage können nicht neben
einander bestehen, ohne daß die eine auf die andre wirkt. Die Grundverschieden-
heit ihrer Auffassung Asiens und ihrer Stellung zu deu Asiaten ist es, was sie


Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik

sein. Angeblich war damals General Kaufmann mit 15000 Mann auf dem
Wege nach Kabul, und Abramvff sollte mit 2500 Mann die Stämme des
Hindukusch revoltiren, als der Berliner Friede kam. Auf die Zahl kommt
es dabei weniger an, als auf den Eindruck, den eine England feindliche Truppen¬
macht, in Afghanistan einrückend, zunächst in dem wichtigsten Teil von Indien,
in Nordindien, hervorbringen würde. Auf die eingebornen Truppen der Eng¬
länder, ans die es kein gutes Licht wirft, daß Aura Khan von Dschandol seinen
kleinen Krieg in Tschitral mit einer Elitetruppe führte, die mit gestohlenen
oder weggeworfnen Sniderbttchsen der indischen Armee bewaffnet war, würde
ein solcher Vormarsch panisch wirken. Es wäre ein politisches Erdbeben von
unberechenbaren Folgen für die mit den Waffen allein nie zu haltende Macht
Englands in Indien. Daher wollen die Einwürfe gar nichts sagen, Rußland
könne nicht mehr als 4000 Mann über den Dorahpaß nach Tschitral schicken,
wie General Roberts meint, oder (nach Leutnant Curzon, dem Pamirforscher),
es sei höchstens möglich, daß vom Murghab aus drei Heersäulen vou je
1500 Mann über deu Kilikpaß nach Hunsa, über den Baroghilpaß nach Aasiu und
über den Dorahpaß nach Tschitral vorbrechen. Natürlich meint er, es würde kaum
ein Mann davon zurückkehren, aber sie würden doch einen großen Truppen-
körper aus Indien Herausziehen. Sie würden mehr thun als das! Das Bor¬
dringen einer wettbewerbeuden abendländischen Macht gegen den weiten Kreis,
den England um seine indische Stellung gezogen hat, hat ja schon jetzt unter
den kleinen Grenzmächten Indiens die Unruhe und das Widerstreben hervor¬
gerufen, die Rawlinson 1875 vorhergesagt hat. Damals standen die Russen
noch nicht in Merw. „Solange die Wüste zwischen den aralo-kaspischen
Grundlinien der Russen und dem Murghab liegt, sind die Afghanen ruhig,
und wir können in Indien unsern Verwaltungsrefvrmen obliegen, ohne von unsern
nördlichen Nachbarn Notiz zu nehmen; aber wenn die russische Grenze von
Krasnowodsk nach Merw vorgeschoben wird, dann ist die Lage vollständig
verändert und Afghanistan unmittelbar bedroht. Dieselben Ursachen, die einst
die Russen zwangen, am Jaxartes aufwärts zu marschieren, würden sie dann
zwingen, im Thal des Murghab vorzudringen." Der Fall ist seit 1884 ein¬
getreten, Rußland ist sogar noch weiter gegangen, als Rawlinson befürchtet
hatte. Der tröstliche Hinweis, daß beide Mächte den Islam zum gemeinsamen
Feinde hätten, verfängt gar nicht, denn die streng islamitischen Afghanen hält
England nur mit riesigen Opfern ab, an Rußland zu fallen. Es ist sehr un¬
wahrscheinlich, daß sich die Prophezeiung Sobolefs bewahrheiten wird: Ru߬
land und England in Indien unmittelbar aneinandergrenzend und in engem
Bunde die größte Landmacht und Seemacht vereinigend.

Zwei Mächte auf so ganz verschiedner Grundlage können nicht neben
einander bestehen, ohne daß die eine auf die andre wirkt. Die Grundverschieden-
heit ihrer Auffassung Asiens und ihrer Stellung zu deu Asiaten ist es, was sie


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[0117] Zur Kenntnis der englischen Meltpolitik sein. Angeblich war damals General Kaufmann mit 15000 Mann auf dem Wege nach Kabul, und Abramvff sollte mit 2500 Mann die Stämme des Hindukusch revoltiren, als der Berliner Friede kam. Auf die Zahl kommt es dabei weniger an, als auf den Eindruck, den eine England feindliche Truppen¬ macht, in Afghanistan einrückend, zunächst in dem wichtigsten Teil von Indien, in Nordindien, hervorbringen würde. Auf die eingebornen Truppen der Eng¬ länder, ans die es kein gutes Licht wirft, daß Aura Khan von Dschandol seinen kleinen Krieg in Tschitral mit einer Elitetruppe führte, die mit gestohlenen oder weggeworfnen Sniderbttchsen der indischen Armee bewaffnet war, würde ein solcher Vormarsch panisch wirken. Es wäre ein politisches Erdbeben von unberechenbaren Folgen für die mit den Waffen allein nie zu haltende Macht Englands in Indien. Daher wollen die Einwürfe gar nichts sagen, Rußland könne nicht mehr als 4000 Mann über den Dorahpaß nach Tschitral schicken, wie General Roberts meint, oder (nach Leutnant Curzon, dem Pamirforscher), es sei höchstens möglich, daß vom Murghab aus drei Heersäulen vou je 1500 Mann über deu Kilikpaß nach Hunsa, über den Baroghilpaß nach Aasiu und über den Dorahpaß nach Tschitral vorbrechen. Natürlich meint er, es würde kaum ein Mann davon zurückkehren, aber sie würden doch einen großen Truppen- körper aus Indien Herausziehen. Sie würden mehr thun als das! Das Bor¬ dringen einer wettbewerbeuden abendländischen Macht gegen den weiten Kreis, den England um seine indische Stellung gezogen hat, hat ja schon jetzt unter den kleinen Grenzmächten Indiens die Unruhe und das Widerstreben hervor¬ gerufen, die Rawlinson 1875 vorhergesagt hat. Damals standen die Russen noch nicht in Merw. „Solange die Wüste zwischen den aralo-kaspischen Grundlinien der Russen und dem Murghab liegt, sind die Afghanen ruhig, und wir können in Indien unsern Verwaltungsrefvrmen obliegen, ohne von unsern nördlichen Nachbarn Notiz zu nehmen; aber wenn die russische Grenze von Krasnowodsk nach Merw vorgeschoben wird, dann ist die Lage vollständig verändert und Afghanistan unmittelbar bedroht. Dieselben Ursachen, die einst die Russen zwangen, am Jaxartes aufwärts zu marschieren, würden sie dann zwingen, im Thal des Murghab vorzudringen." Der Fall ist seit 1884 ein¬ getreten, Rußland ist sogar noch weiter gegangen, als Rawlinson befürchtet hatte. Der tröstliche Hinweis, daß beide Mächte den Islam zum gemeinsamen Feinde hätten, verfängt gar nicht, denn die streng islamitischen Afghanen hält England nur mit riesigen Opfern ab, an Rußland zu fallen. Es ist sehr un¬ wahrscheinlich, daß sich die Prophezeiung Sobolefs bewahrheiten wird: Ru߬ land und England in Indien unmittelbar aneinandergrenzend und in engem Bunde die größte Landmacht und Seemacht vereinigend. Zwei Mächte auf so ganz verschiedner Grundlage können nicht neben einander bestehen, ohne daß die eine auf die andre wirkt. Die Grundverschieden- heit ihrer Auffassung Asiens und ihrer Stellung zu deu Asiaten ist es, was sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/117>, abgerufen am 04.07.2024.