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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Lntrückt in die Zukunft

einigen Verwänden erklärte, daß er jetzt nach Hause gehen müsse. Obwohl
mich seine Grillen ein wenig Wunder nahmen, machte ich mir doch weiter
keine Gedanken darüber. Ziemlich spät nach Mitternacht trat ich den Heim¬
weg aus dem Restaurant an. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich
auf halber Strecke den jungen Arzt traf, der bei meinem Anblick den Hut tiefer
ins Gesicht drückte und ohne Gruß an mir vorübereilte!"

Am andern Morgen geht Hertzka in die Wohnung des Freundes, um sich
von ihm zu verabschieden, weil er mit dem Abendschnellzug Paris verlassen
will. An der Hausthür stößt er auf Jules alten Diener Pierre, der barhaupt,
mit verstörtem Gesicht, ohne auf seinen Anruf zu hören, auf die Straße rennt.
Von bangen Ahnungen erfüllt, steigt Hertzka zur Wohnung des Freundes hinauf
und findet dort den Portier, der ihm mitteilt, daß das Schlafzimmer Ray-
monts trotz allem Pochen und Rufen geschlossen bleibe, obwohl er in der
Nacht heimgekehrt sei und seine Wohnung nicht mehr verlassen habe. Unter¬
dessen kehrt der alte Diener mit einem Schlosser zurück, und als dieser die
Thür mit Gewalt öffnet, findet man das Zimmer leer und das Bett unbe¬
rührt. Der Schlüssel aber war von innen zweimal umgedreht, die Fenster
verschlossen; daß Rnymont in dein Zimmer gewesen war, ließ sich also nicht
mehr bezweifeln, aber wie er es hatte verlassen können, blieb unerklärlich.
Auch die angestrengtesten Nachforschungen der Polizei führten nicht auf die
Spur des rätselhaft Verschwundnen.'

Genau ein Jahr nach diesem Vorgcmg sührt der Zufall Herrn Hertzka
wieder nach Paris. Natürlich eilt er ohne Verzug nach Naymonts Wohnung,
wo ihn Pierre mit der traurigen Mitteilung empfängt, daß er alle Hoffnung
aufgegeben habe, seinen armen Herrn wiederzusehen. Darauf gehen beide in
das Schlafzimmer, in dem alles noch genau so ist, wie im vorigen Jahre.
Lassen wir nun das folgende Herrn Hertzka erzählen.

Plötzlich stieß Pierre einen Schrei ans.

Was giebts? fragte ich, überrascht nach dem Bette blickend, in der Zuversicht,
den jungen Arzt dort liegen zu sehe". Aber der Alte wies mit allen Anzeichen
äußersten Entsetzens nach dem Schreibtisch.

Da da, Herr Doktor! brachte er mühsam hervor.

Sehen Sie Gespenster? -- Ich glaubte nicht anders, als daß Pierres auf¬
geregte Phantasie den Geist Raymouts erblicke.

Nein -- da da!

Am Schreibtisch?

Mit schlotternden Knieen trat er näher und berührte scheu mit der Finger¬
spitze einen Gegenstand, den ich vorher wohl gesehen hatte, ohne ihm jedoch be¬
sondre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es war ein unscheinbares Ding, das nichts
weniger als erschreckend aussah, eine Kapsel aus weißem Metall.

Das macht Ihnen solche Angst? fragte ich erstaunt.

Aber sehen Sie es nur an, Herr Doktor!

Nun?


Lntrückt in die Zukunft

einigen Verwänden erklärte, daß er jetzt nach Hause gehen müsse. Obwohl
mich seine Grillen ein wenig Wunder nahmen, machte ich mir doch weiter
keine Gedanken darüber. Ziemlich spät nach Mitternacht trat ich den Heim¬
weg aus dem Restaurant an. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich
auf halber Strecke den jungen Arzt traf, der bei meinem Anblick den Hut tiefer
ins Gesicht drückte und ohne Gruß an mir vorübereilte!"

Am andern Morgen geht Hertzka in die Wohnung des Freundes, um sich
von ihm zu verabschieden, weil er mit dem Abendschnellzug Paris verlassen
will. An der Hausthür stößt er auf Jules alten Diener Pierre, der barhaupt,
mit verstörtem Gesicht, ohne auf seinen Anruf zu hören, auf die Straße rennt.
Von bangen Ahnungen erfüllt, steigt Hertzka zur Wohnung des Freundes hinauf
und findet dort den Portier, der ihm mitteilt, daß das Schlafzimmer Ray-
monts trotz allem Pochen und Rufen geschlossen bleibe, obwohl er in der
Nacht heimgekehrt sei und seine Wohnung nicht mehr verlassen habe. Unter¬
dessen kehrt der alte Diener mit einem Schlosser zurück, und als dieser die
Thür mit Gewalt öffnet, findet man das Zimmer leer und das Bett unbe¬
rührt. Der Schlüssel aber war von innen zweimal umgedreht, die Fenster
verschlossen; daß Rnymont in dein Zimmer gewesen war, ließ sich also nicht
mehr bezweifeln, aber wie er es hatte verlassen können, blieb unerklärlich.
Auch die angestrengtesten Nachforschungen der Polizei führten nicht auf die
Spur des rätselhaft Verschwundnen.'

Genau ein Jahr nach diesem Vorgcmg sührt der Zufall Herrn Hertzka
wieder nach Paris. Natürlich eilt er ohne Verzug nach Naymonts Wohnung,
wo ihn Pierre mit der traurigen Mitteilung empfängt, daß er alle Hoffnung
aufgegeben habe, seinen armen Herrn wiederzusehen. Darauf gehen beide in
das Schlafzimmer, in dem alles noch genau so ist, wie im vorigen Jahre.
Lassen wir nun das folgende Herrn Hertzka erzählen.

Plötzlich stieß Pierre einen Schrei ans.

Was giebts? fragte ich, überrascht nach dem Bette blickend, in der Zuversicht,
den jungen Arzt dort liegen zu sehe». Aber der Alte wies mit allen Anzeichen
äußersten Entsetzens nach dem Schreibtisch.

Da da, Herr Doktor! brachte er mühsam hervor.

Sehen Sie Gespenster? — Ich glaubte nicht anders, als daß Pierres auf¬
geregte Phantasie den Geist Raymouts erblicke.

Nein — da da!

Am Schreibtisch?

Mit schlotternden Knieen trat er näher und berührte scheu mit der Finger¬
spitze einen Gegenstand, den ich vorher wohl gesehen hatte, ohne ihm jedoch be¬
sondre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es war ein unscheinbares Ding, das nichts
weniger als erschreckend aussah, eine Kapsel aus weißem Metall.

Das macht Ihnen solche Angst? fragte ich erstaunt.

Aber sehen Sie es nur an, Herr Doktor!

Nun?


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[0627] Lntrückt in die Zukunft einigen Verwänden erklärte, daß er jetzt nach Hause gehen müsse. Obwohl mich seine Grillen ein wenig Wunder nahmen, machte ich mir doch weiter keine Gedanken darüber. Ziemlich spät nach Mitternacht trat ich den Heim¬ weg aus dem Restaurant an. Wie groß war aber mein Erstaunen, als ich auf halber Strecke den jungen Arzt traf, der bei meinem Anblick den Hut tiefer ins Gesicht drückte und ohne Gruß an mir vorübereilte!" Am andern Morgen geht Hertzka in die Wohnung des Freundes, um sich von ihm zu verabschieden, weil er mit dem Abendschnellzug Paris verlassen will. An der Hausthür stößt er auf Jules alten Diener Pierre, der barhaupt, mit verstörtem Gesicht, ohne auf seinen Anruf zu hören, auf die Straße rennt. Von bangen Ahnungen erfüllt, steigt Hertzka zur Wohnung des Freundes hinauf und findet dort den Portier, der ihm mitteilt, daß das Schlafzimmer Ray- monts trotz allem Pochen und Rufen geschlossen bleibe, obwohl er in der Nacht heimgekehrt sei und seine Wohnung nicht mehr verlassen habe. Unter¬ dessen kehrt der alte Diener mit einem Schlosser zurück, und als dieser die Thür mit Gewalt öffnet, findet man das Zimmer leer und das Bett unbe¬ rührt. Der Schlüssel aber war von innen zweimal umgedreht, die Fenster verschlossen; daß Rnymont in dein Zimmer gewesen war, ließ sich also nicht mehr bezweifeln, aber wie er es hatte verlassen können, blieb unerklärlich. Auch die angestrengtesten Nachforschungen der Polizei führten nicht auf die Spur des rätselhaft Verschwundnen.' Genau ein Jahr nach diesem Vorgcmg sührt der Zufall Herrn Hertzka wieder nach Paris. Natürlich eilt er ohne Verzug nach Naymonts Wohnung, wo ihn Pierre mit der traurigen Mitteilung empfängt, daß er alle Hoffnung aufgegeben habe, seinen armen Herrn wiederzusehen. Darauf gehen beide in das Schlafzimmer, in dem alles noch genau so ist, wie im vorigen Jahre. Lassen wir nun das folgende Herrn Hertzka erzählen. Plötzlich stieß Pierre einen Schrei ans. Was giebts? fragte ich, überrascht nach dem Bette blickend, in der Zuversicht, den jungen Arzt dort liegen zu sehe». Aber der Alte wies mit allen Anzeichen äußersten Entsetzens nach dem Schreibtisch. Da da, Herr Doktor! brachte er mühsam hervor. Sehen Sie Gespenster? — Ich glaubte nicht anders, als daß Pierres auf¬ geregte Phantasie den Geist Raymouts erblicke. Nein — da da! Am Schreibtisch? Mit schlotternden Knieen trat er näher und berührte scheu mit der Finger¬ spitze einen Gegenstand, den ich vorher wohl gesehen hatte, ohne ihm jedoch be¬ sondre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es war ein unscheinbares Ding, das nichts weniger als erschreckend aussah, eine Kapsel aus weißem Metall. Das macht Ihnen solche Angst? fragte ich erstaunt. Aber sehen Sie es nur an, Herr Doktor! Nun?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/627>, abgerufen am 28.07.2024.