Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Erdrückt in die Zukunft

irdischen Schlafgemachs kannte. So erwacht er hundertdreizehn Jahre später
im Beisein des Dr. Leete, der den Besinnungslosen, den alle andern für tot
hielten, in seine Wohnung schaffen ließ und durch systematische Wiederbelebungs¬
versuche aus seinem todesähnlichen Zustande zurückrief.

Unser Interesse an dem Geschick Julians wird noch dadurch gesteigert,
daß die Frau des Dr. Leete eine Enkelin jener Edles Bartlett ist, die in der
Verhängnisvolleu Nacht vom 30. auf den 31. Mai ihren Bräutigam verlor.
Nachdem sie vierzehn Jahre lang den totgeglaubten Geliebten betrauert hatte,
war sie eine Ehe aus Achtung eingegangen und hatte einen Sohn hinterlassen,
den Vater der Frau Leete. Diese hatte ihre Großmutter nie gesehen, aber
viel von ihr gehört, und als ihr eine Tochter geboren wurde, gab sie ihr den
Namen Edles. Dieser Umstand macht es begreiflich, daß die kleine Edles
Leete, als sie heranwuchs, an allem, was ihre Urahne betraf, und besonders
an der traurigen Geschichte von dem Tode ihres Bräutigams tiefen Anteil
nahm. Die Erzählung war schon an sich geeignet, das Mitgefühl eines roman¬
tischen Mädchens zu erregen. Dazu kam aber, daß ein Bild der Edles Bart¬
lett und ein Paket der Briefe, die Julian West an seine Braut geschrieben
hatte, zu den Familienerbstncken gehörten. Diese Dinge genügten, der Ur¬
enkelin die traurige Geschichte lebendig zu macheu. Halb scherzend pflegte sie
ihren Eltern zu sagen, daß sie nie heiraten würde, bis sie einen Geliebten
wie Julian West fände, und einen solchen gebe es nicht mehr. Ans diese
romantische Schwärmerei bezog sich auch das Gespräch, das der zum Bewußt¬
sein erwachende Julian vernommen hatte, und dessen Bedeutung ihn, als er
sie später erfuhr, zum glücklichsten Menschen machte.

Vergleichen wir nun mit diesem Roman des Herrn Julian West den des
Herrn Theodor Hertzka. Hertzka? Das ist doch der Name des Schriftstellers,
aber nicht des Nomanhelden! Wir begreifen die Ungeduld des Lesers über diese
Verwechslung, aber sie ist nicht unser Werk, sondern der Schriftsteller Hertzka
hat sich wirklich mit seiner Person in den Roman hineinbegeben.

Herr Hertzka besucht in Paris einen jungen Arzt, Jules Raymout, mit
dessen Vater er seit seiner Knabenzeit befreundet gewesen ist. Der früh ver¬
waiste Jules, auf den er die Freundschaft, die ihn mit dem Vater verbunden,
übertragen hat, treibt physiologische Studie" und hat erst vor kurzem eine
Untersuchung über die Physiologie des Schlafs veröffentlicht. Eines Abends
besuchen sie die italienische Oper. "Die Bellincioni -- so erzählt Hertzka
sang göttlich, aber ich bemerkte, daß mein Begleiter von ihrem Zauber unge¬
rührt blieb, und daß sein Auge starr am Boden haftete, während seine Finger
nervös mit dem Opernglase spielten. Nach und nach heiterte sich jedoch seine
Stirn auf, und er fand seine frohe Laune wieder. In gehobner Stimmung
verließen wir das Haus, und ich nahm ihn unter den Arm, um mit ihm den
Weg nach einem Restaurant einzuschlagen, als er sich entschuldigte und unter


Erdrückt in die Zukunft

irdischen Schlafgemachs kannte. So erwacht er hundertdreizehn Jahre später
im Beisein des Dr. Leete, der den Besinnungslosen, den alle andern für tot
hielten, in seine Wohnung schaffen ließ und durch systematische Wiederbelebungs¬
versuche aus seinem todesähnlichen Zustande zurückrief.

Unser Interesse an dem Geschick Julians wird noch dadurch gesteigert,
daß die Frau des Dr. Leete eine Enkelin jener Edles Bartlett ist, die in der
Verhängnisvolleu Nacht vom 30. auf den 31. Mai ihren Bräutigam verlor.
Nachdem sie vierzehn Jahre lang den totgeglaubten Geliebten betrauert hatte,
war sie eine Ehe aus Achtung eingegangen und hatte einen Sohn hinterlassen,
den Vater der Frau Leete. Diese hatte ihre Großmutter nie gesehen, aber
viel von ihr gehört, und als ihr eine Tochter geboren wurde, gab sie ihr den
Namen Edles. Dieser Umstand macht es begreiflich, daß die kleine Edles
Leete, als sie heranwuchs, an allem, was ihre Urahne betraf, und besonders
an der traurigen Geschichte von dem Tode ihres Bräutigams tiefen Anteil
nahm. Die Erzählung war schon an sich geeignet, das Mitgefühl eines roman¬
tischen Mädchens zu erregen. Dazu kam aber, daß ein Bild der Edles Bart¬
lett und ein Paket der Briefe, die Julian West an seine Braut geschrieben
hatte, zu den Familienerbstncken gehörten. Diese Dinge genügten, der Ur¬
enkelin die traurige Geschichte lebendig zu macheu. Halb scherzend pflegte sie
ihren Eltern zu sagen, daß sie nie heiraten würde, bis sie einen Geliebten
wie Julian West fände, und einen solchen gebe es nicht mehr. Ans diese
romantische Schwärmerei bezog sich auch das Gespräch, das der zum Bewußt¬
sein erwachende Julian vernommen hatte, und dessen Bedeutung ihn, als er
sie später erfuhr, zum glücklichsten Menschen machte.

Vergleichen wir nun mit diesem Roman des Herrn Julian West den des
Herrn Theodor Hertzka. Hertzka? Das ist doch der Name des Schriftstellers,
aber nicht des Nomanhelden! Wir begreifen die Ungeduld des Lesers über diese
Verwechslung, aber sie ist nicht unser Werk, sondern der Schriftsteller Hertzka
hat sich wirklich mit seiner Person in den Roman hineinbegeben.

Herr Hertzka besucht in Paris einen jungen Arzt, Jules Raymout, mit
dessen Vater er seit seiner Knabenzeit befreundet gewesen ist. Der früh ver¬
waiste Jules, auf den er die Freundschaft, die ihn mit dem Vater verbunden,
übertragen hat, treibt physiologische Studie» und hat erst vor kurzem eine
Untersuchung über die Physiologie des Schlafs veröffentlicht. Eines Abends
besuchen sie die italienische Oper. „Die Bellincioni — so erzählt Hertzka
sang göttlich, aber ich bemerkte, daß mein Begleiter von ihrem Zauber unge¬
rührt blieb, und daß sein Auge starr am Boden haftete, während seine Finger
nervös mit dem Opernglase spielten. Nach und nach heiterte sich jedoch seine
Stirn auf, und er fand seine frohe Laune wieder. In gehobner Stimmung
verließen wir das Haus, und ich nahm ihn unter den Arm, um mit ihm den
Weg nach einem Restaurant einzuschlagen, als er sich entschuldigte und unter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0626" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220952"/>
          <fw type="header" place="top"> Erdrückt in die Zukunft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2319" prev="#ID_2318"> irdischen Schlafgemachs kannte. So erwacht er hundertdreizehn Jahre später<lb/>
im Beisein des Dr. Leete, der den Besinnungslosen, den alle andern für tot<lb/>
hielten, in seine Wohnung schaffen ließ und durch systematische Wiederbelebungs¬<lb/>
versuche aus seinem todesähnlichen Zustande zurückrief.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2320"> Unser Interesse an dem Geschick Julians wird noch dadurch gesteigert,<lb/>
daß die Frau des Dr. Leete eine Enkelin jener Edles Bartlett ist, die in der<lb/>
Verhängnisvolleu Nacht vom 30. auf den 31. Mai ihren Bräutigam verlor.<lb/>
Nachdem sie vierzehn Jahre lang den totgeglaubten Geliebten betrauert hatte,<lb/>
war sie eine Ehe aus Achtung eingegangen und hatte einen Sohn hinterlassen,<lb/>
den Vater der Frau Leete. Diese hatte ihre Großmutter nie gesehen, aber<lb/>
viel von ihr gehört, und als ihr eine Tochter geboren wurde, gab sie ihr den<lb/>
Namen Edles. Dieser Umstand macht es begreiflich, daß die kleine Edles<lb/>
Leete, als sie heranwuchs, an allem, was ihre Urahne betraf, und besonders<lb/>
an der traurigen Geschichte von dem Tode ihres Bräutigams tiefen Anteil<lb/>
nahm. Die Erzählung war schon an sich geeignet, das Mitgefühl eines roman¬<lb/>
tischen Mädchens zu erregen. Dazu kam aber, daß ein Bild der Edles Bart¬<lb/>
lett und ein Paket der Briefe, die Julian West an seine Braut geschrieben<lb/>
hatte, zu den Familienerbstncken gehörten. Diese Dinge genügten, der Ur¬<lb/>
enkelin die traurige Geschichte lebendig zu macheu. Halb scherzend pflegte sie<lb/>
ihren Eltern zu sagen, daß sie nie heiraten würde, bis sie einen Geliebten<lb/>
wie Julian West fände, und einen solchen gebe es nicht mehr. Ans diese<lb/>
romantische Schwärmerei bezog sich auch das Gespräch, das der zum Bewußt¬<lb/>
sein erwachende Julian vernommen hatte, und dessen Bedeutung ihn, als er<lb/>
sie später erfuhr, zum glücklichsten Menschen machte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2321"> Vergleichen wir nun mit diesem Roman des Herrn Julian West den des<lb/>
Herrn Theodor Hertzka. Hertzka? Das ist doch der Name des Schriftstellers,<lb/>
aber nicht des Nomanhelden! Wir begreifen die Ungeduld des Lesers über diese<lb/>
Verwechslung, aber sie ist nicht unser Werk, sondern der Schriftsteller Hertzka<lb/>
hat sich wirklich mit seiner Person in den Roman hineinbegeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2322" next="#ID_2323"> Herr Hertzka besucht in Paris einen jungen Arzt, Jules Raymout, mit<lb/>
dessen Vater er seit seiner Knabenzeit befreundet gewesen ist. Der früh ver¬<lb/>
waiste Jules, auf den er die Freundschaft, die ihn mit dem Vater verbunden,<lb/>
übertragen hat, treibt physiologische Studie» und hat erst vor kurzem eine<lb/>
Untersuchung über die Physiologie des Schlafs veröffentlicht. Eines Abends<lb/>
besuchen sie die italienische Oper. &#x201E;Die Bellincioni &#x2014; so erzählt Hertzka<lb/>
sang göttlich, aber ich bemerkte, daß mein Begleiter von ihrem Zauber unge¬<lb/>
rührt blieb, und daß sein Auge starr am Boden haftete, während seine Finger<lb/>
nervös mit dem Opernglase spielten. Nach und nach heiterte sich jedoch seine<lb/>
Stirn auf, und er fand seine frohe Laune wieder. In gehobner Stimmung<lb/>
verließen wir das Haus, und ich nahm ihn unter den Arm, um mit ihm den<lb/>
Weg nach einem Restaurant einzuschlagen, als er sich entschuldigte und unter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0626] Erdrückt in die Zukunft irdischen Schlafgemachs kannte. So erwacht er hundertdreizehn Jahre später im Beisein des Dr. Leete, der den Besinnungslosen, den alle andern für tot hielten, in seine Wohnung schaffen ließ und durch systematische Wiederbelebungs¬ versuche aus seinem todesähnlichen Zustande zurückrief. Unser Interesse an dem Geschick Julians wird noch dadurch gesteigert, daß die Frau des Dr. Leete eine Enkelin jener Edles Bartlett ist, die in der Verhängnisvolleu Nacht vom 30. auf den 31. Mai ihren Bräutigam verlor. Nachdem sie vierzehn Jahre lang den totgeglaubten Geliebten betrauert hatte, war sie eine Ehe aus Achtung eingegangen und hatte einen Sohn hinterlassen, den Vater der Frau Leete. Diese hatte ihre Großmutter nie gesehen, aber viel von ihr gehört, und als ihr eine Tochter geboren wurde, gab sie ihr den Namen Edles. Dieser Umstand macht es begreiflich, daß die kleine Edles Leete, als sie heranwuchs, an allem, was ihre Urahne betraf, und besonders an der traurigen Geschichte von dem Tode ihres Bräutigams tiefen Anteil nahm. Die Erzählung war schon an sich geeignet, das Mitgefühl eines roman¬ tischen Mädchens zu erregen. Dazu kam aber, daß ein Bild der Edles Bart¬ lett und ein Paket der Briefe, die Julian West an seine Braut geschrieben hatte, zu den Familienerbstncken gehörten. Diese Dinge genügten, der Ur¬ enkelin die traurige Geschichte lebendig zu macheu. Halb scherzend pflegte sie ihren Eltern zu sagen, daß sie nie heiraten würde, bis sie einen Geliebten wie Julian West fände, und einen solchen gebe es nicht mehr. Ans diese romantische Schwärmerei bezog sich auch das Gespräch, das der zum Bewußt¬ sein erwachende Julian vernommen hatte, und dessen Bedeutung ihn, als er sie später erfuhr, zum glücklichsten Menschen machte. Vergleichen wir nun mit diesem Roman des Herrn Julian West den des Herrn Theodor Hertzka. Hertzka? Das ist doch der Name des Schriftstellers, aber nicht des Nomanhelden! Wir begreifen die Ungeduld des Lesers über diese Verwechslung, aber sie ist nicht unser Werk, sondern der Schriftsteller Hertzka hat sich wirklich mit seiner Person in den Roman hineinbegeben. Herr Hertzka besucht in Paris einen jungen Arzt, Jules Raymout, mit dessen Vater er seit seiner Knabenzeit befreundet gewesen ist. Der früh ver¬ waiste Jules, auf den er die Freundschaft, die ihn mit dem Vater verbunden, übertragen hat, treibt physiologische Studie» und hat erst vor kurzem eine Untersuchung über die Physiologie des Schlafs veröffentlicht. Eines Abends besuchen sie die italienische Oper. „Die Bellincioni — so erzählt Hertzka sang göttlich, aber ich bemerkte, daß mein Begleiter von ihrem Zauber unge¬ rührt blieb, und daß sein Auge starr am Boden haftete, während seine Finger nervös mit dem Opernglase spielten. Nach und nach heiterte sich jedoch seine Stirn auf, und er fand seine frohe Laune wieder. In gehobner Stimmung verließen wir das Haus, und ich nahm ihn unter den Arm, um mit ihm den Weg nach einem Restaurant einzuschlagen, als er sich entschuldigte und unter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/626
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/626>, abgerufen am 28.07.2024.