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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Erdrückt in die Ankunft

konnte. Das Verfahren war jedoch so einfach, daß der Magnetiseur dem
Diener des Herrn West gezeigt hatte, wie es zu machen sei. Außer diesen
drei Personen wußte keiner von der Sache, die Braut sollte aus naheliegenden
Gründen erst nach der Hochzeit davon erfahren. Als nun an jenem Abend
der Arzt kam, teilte er Herrn West mit, daß er am nächsten Tage nach einer
andern Stadt übersiedeln werde, wo eine gewinnversprechende Vakanz eingetreten
sei; zugleich gab er seinem Patienten, der über diese Mitteilung natürlich wenig
erfreut war, die Adressen einiger andern Magnctiseure, an die er sich mit
Vertrauen wenden dürfe. Dadurch beruhigt, befahl Herr West seinem Diener,
ihn am nächsten Morgen um neun Uhr zu wecken; dann legte er sich ins Bett
und überließ sich den Hantirungen des Magnetiseurs. Sein ungewöhnlich
nervöser Zustand war vielleicht schuld daran, daß er langsamer als sonst das
Bewußtsein verlor, aber schließlich überkam ihn eine köstliche Schläfrigkeit.

Damit schließt das Kapitel. Das nächste beginnt mit folgenden Sätzen:

Er wird gleich die Augen öffnen. Es ist besser, wenn er zuerst nur einen
von uns sieht.

Versprich mir also, daß du ihm nichts sagen wirst.

Die erste Stimme war die eines Mannes, die zweite die einer Frau, und
beide sprachen im Flüsterton (Herr West erzählt).

Ich will sehen, wie es ihm geht, erwiderte der Mann.

Nein nein, versprich es mir! verlangte die andre Stimme.

Laß ihr den Willen, flüsterte eine dritte, ebenfalls weibliche Stimme.

Gut gut, ich verspreche es also, antwortete der Mann. Geht schnell! Er
kommt zu sich.

Kleider rauschten, und ich öffnete die Augen. Ein stattlich aussehender Manu
von etwa sechzig Jahren beugte sich über mich, mit einem Ausdruck großen Wohl¬
wollens, gemischt mit starker Neugierde in seinen Zügen. Er war mir völlig
unbekannt. Ich stützte mich auf deu Ellbogen und sah mich um. Das Zimmer
war leer. Ich war sicherlich nie darin gewesen, auch in keinem, das ähnlich
möblirt gewesen wäre. Ich sah wieder meinen Gefährten an. Er lächelte.

Wie befinden Sie sich? fragte er.

Wo bin ich? fragte ich.

Sie sind in meinem Hause, war die Antwort.

Wie kam ich hierher?

Auf diese Frage erhält nun Herr West eine Antwort, die der Leser viel¬
leicht schon geahnt hat: Bei der Herstellung der Fundamente eines Neubaus
grub man -- im Jahre 2000 -- ein großes Gewölbe aus, das wohl erhalten
war, obwohl eine Aschen- und Kohlenschicht, die darüber lag, erkennen ließ,
daß ein darüberstehendes Hans durch Feuer zerstört worden war. In diesem
Gewölbe schlief Herr Julian West, der am 31. Mai 1887 deshalb nicht geweckt
worden war, weil sein Diener bei der Feuersbrunst, die in jener Nacht das
Hans zerstörte, ums Leben kam, und weil nußer diesem Diener und dem in¬
zwischen weggezognen Magnetiseur kein Mensch das Geheimnis des unter-


Grenzboteu III 1895 78
Erdrückt in die Ankunft

konnte. Das Verfahren war jedoch so einfach, daß der Magnetiseur dem
Diener des Herrn West gezeigt hatte, wie es zu machen sei. Außer diesen
drei Personen wußte keiner von der Sache, die Braut sollte aus naheliegenden
Gründen erst nach der Hochzeit davon erfahren. Als nun an jenem Abend
der Arzt kam, teilte er Herrn West mit, daß er am nächsten Tage nach einer
andern Stadt übersiedeln werde, wo eine gewinnversprechende Vakanz eingetreten
sei; zugleich gab er seinem Patienten, der über diese Mitteilung natürlich wenig
erfreut war, die Adressen einiger andern Magnctiseure, an die er sich mit
Vertrauen wenden dürfe. Dadurch beruhigt, befahl Herr West seinem Diener,
ihn am nächsten Morgen um neun Uhr zu wecken; dann legte er sich ins Bett
und überließ sich den Hantirungen des Magnetiseurs. Sein ungewöhnlich
nervöser Zustand war vielleicht schuld daran, daß er langsamer als sonst das
Bewußtsein verlor, aber schließlich überkam ihn eine köstliche Schläfrigkeit.

Damit schließt das Kapitel. Das nächste beginnt mit folgenden Sätzen:

Er wird gleich die Augen öffnen. Es ist besser, wenn er zuerst nur einen
von uns sieht.

Versprich mir also, daß du ihm nichts sagen wirst.

Die erste Stimme war die eines Mannes, die zweite die einer Frau, und
beide sprachen im Flüsterton (Herr West erzählt).

Ich will sehen, wie es ihm geht, erwiderte der Mann.

Nein nein, versprich es mir! verlangte die andre Stimme.

Laß ihr den Willen, flüsterte eine dritte, ebenfalls weibliche Stimme.

Gut gut, ich verspreche es also, antwortete der Mann. Geht schnell! Er
kommt zu sich.

Kleider rauschten, und ich öffnete die Augen. Ein stattlich aussehender Manu
von etwa sechzig Jahren beugte sich über mich, mit einem Ausdruck großen Wohl¬
wollens, gemischt mit starker Neugierde in seinen Zügen. Er war mir völlig
unbekannt. Ich stützte mich auf deu Ellbogen und sah mich um. Das Zimmer
war leer. Ich war sicherlich nie darin gewesen, auch in keinem, das ähnlich
möblirt gewesen wäre. Ich sah wieder meinen Gefährten an. Er lächelte.

Wie befinden Sie sich? fragte er.

Wo bin ich? fragte ich.

Sie sind in meinem Hause, war die Antwort.

Wie kam ich hierher?

Auf diese Frage erhält nun Herr West eine Antwort, die der Leser viel¬
leicht schon geahnt hat: Bei der Herstellung der Fundamente eines Neubaus
grub man — im Jahre 2000 — ein großes Gewölbe aus, das wohl erhalten
war, obwohl eine Aschen- und Kohlenschicht, die darüber lag, erkennen ließ,
daß ein darüberstehendes Hans durch Feuer zerstört worden war. In diesem
Gewölbe schlief Herr Julian West, der am 31. Mai 1887 deshalb nicht geweckt
worden war, weil sein Diener bei der Feuersbrunst, die in jener Nacht das
Hans zerstörte, ums Leben kam, und weil nußer diesem Diener und dem in¬
zwischen weggezognen Magnetiseur kein Mensch das Geheimnis des unter-


Grenzboteu III 1895 78
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/625>, abgerufen am 28.07.2024.