Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
pädagogische Universitätsseininare

Gedankenmassen zu bewältigen haben wird, auch auf dem Gebiete der allge¬
meinen Bildung; denn er bedarf, wenn er die Aufgaben der Erziehung immer
im Zusammenhange mit der ganzen Kultur auffassen will, einer sehr breiten
Grundlage für seinen geistigen Standpunkt. Diese Einführung in die Theorie
der Erziehung gehört aber ohne Zweifel dahin, wo die gelehrten Stände
überhaupt ihre Berufsvorbildung erhalten, auf die Universität. Freilich wird
diese Zugehörigkeit zur Universität der Pädagogik von vielen streitig gemacht:
es giebt Leute genng, die es geradezu sür eine Entweihung der Universität
halten würden, wenn die Schulmeisterwissenschaft dort ihren Einzug halten
sollte. Sie sollten aber doch bedenken, daß Erziehung die höchste und für
den sittlichen Fvitschritt der Menschheit wichtigste Kunst ist, daß also die
Pflege ihrer Theorie von hervorragendem öffentlichen Interesse ist, und daß
die Universität nur sich selbst ehrt, wenn sie der Theorie dieser Kunst ihre
Hallen öffnet. An den unfertigen Zustand, den anch noch die heutige Päda¬
gogik aufweist, und der in manchen Erzeugnissen der pädagogischen Tages-
littcratur ein geradezu widerwärtiges Bild von Streberei, Selbstgenügsamkeit,
Halbbildung und Dünkelhaftigkeit bietet, darf man sich nicht stoßen. Diese
Dinge sind in ihrer Art nicht schlimmer, als z. B. gewisse theologische
Streitigkeiten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und man hat
damals ja auch uicht der Theologie entgelten lassen, was einzelne ihrer Ver¬
treter sündigten. Es wird doch wohl nicht bestritten werden können, daß die
pädagogischen Fragen auch einer vornehmen und einer wissenschaftlichen Be¬
handlung fähig sind. Allerdings ist ja die Pädagogik keine in sich selbst
ruhende Wissenschaft: sie baut mit dem Material, das ihr Ethik und Psycho¬
logie darreichen. Aber sie teilt dieses Schicksal, mit fremden Steinen zu bauen,
mit vielen andern Erkenntnisgebieten des menschlichen Geistes, z. B. mit den
Wissenschaften, die auf der Anwendung naturwissenschaftlicher Sätze beruhen,
wie etwa die Medizin und die Astronomie. Und es wird ihr doch nicht ab¬
gesprochen werden können, daß sie mit diesem Material einen soliden wissen¬
schaftlichen Bau aufzuführen vermag; denn die Methode ist es, die eine Gruppe
von Erkenntnissen zur Wissenschaft macht, nicht die Erkenntnisse an sich. Es
braucht nicht alles, was eine Wissenschaft lehrt, für alle Zeiten wahr zu sein;
fast in allen Wissenschaften giebt es Sätze, die bloß zeitweilig Geltung haben
und im Verlaufe der wissenschaftlichen Entwicklung wieder ausgeschieden werden,
fast in allen Wissenschaften spielen die Theorien eine Rolle, deren Wesen gerade
darin besteht, daß sie behaupten, was erst noch weiterer Bestätigung bedarf,
und in deren Bekämpfung und Verteidigung oft durch Geschlechter hindurch
das eigentliche Leben der Wissenschaft besteht. Verlangen darf man nur von
einer Wissenschaft, daß sie alles, was sie aufstellt, mit den letzten und besten
augenblicklich erreichbaren Gründen stützt, unter sorgfältiger Berücksichtigung
aller geschichtlichen Beziehungen, daß sie jeden einzelnen Bestandteil des ihr


pädagogische Universitätsseininare

Gedankenmassen zu bewältigen haben wird, auch auf dem Gebiete der allge¬
meinen Bildung; denn er bedarf, wenn er die Aufgaben der Erziehung immer
im Zusammenhange mit der ganzen Kultur auffassen will, einer sehr breiten
Grundlage für seinen geistigen Standpunkt. Diese Einführung in die Theorie
der Erziehung gehört aber ohne Zweifel dahin, wo die gelehrten Stände
überhaupt ihre Berufsvorbildung erhalten, auf die Universität. Freilich wird
diese Zugehörigkeit zur Universität der Pädagogik von vielen streitig gemacht:
es giebt Leute genng, die es geradezu sür eine Entweihung der Universität
halten würden, wenn die Schulmeisterwissenschaft dort ihren Einzug halten
sollte. Sie sollten aber doch bedenken, daß Erziehung die höchste und für
den sittlichen Fvitschritt der Menschheit wichtigste Kunst ist, daß also die
Pflege ihrer Theorie von hervorragendem öffentlichen Interesse ist, und daß
die Universität nur sich selbst ehrt, wenn sie der Theorie dieser Kunst ihre
Hallen öffnet. An den unfertigen Zustand, den anch noch die heutige Päda¬
gogik aufweist, und der in manchen Erzeugnissen der pädagogischen Tages-
littcratur ein geradezu widerwärtiges Bild von Streberei, Selbstgenügsamkeit,
Halbbildung und Dünkelhaftigkeit bietet, darf man sich nicht stoßen. Diese
Dinge sind in ihrer Art nicht schlimmer, als z. B. gewisse theologische
Streitigkeiten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und man hat
damals ja auch uicht der Theologie entgelten lassen, was einzelne ihrer Ver¬
treter sündigten. Es wird doch wohl nicht bestritten werden können, daß die
pädagogischen Fragen auch einer vornehmen und einer wissenschaftlichen Be¬
handlung fähig sind. Allerdings ist ja die Pädagogik keine in sich selbst
ruhende Wissenschaft: sie baut mit dem Material, das ihr Ethik und Psycho¬
logie darreichen. Aber sie teilt dieses Schicksal, mit fremden Steinen zu bauen,
mit vielen andern Erkenntnisgebieten des menschlichen Geistes, z. B. mit den
Wissenschaften, die auf der Anwendung naturwissenschaftlicher Sätze beruhen,
wie etwa die Medizin und die Astronomie. Und es wird ihr doch nicht ab¬
gesprochen werden können, daß sie mit diesem Material einen soliden wissen¬
schaftlichen Bau aufzuführen vermag; denn die Methode ist es, die eine Gruppe
von Erkenntnissen zur Wissenschaft macht, nicht die Erkenntnisse an sich. Es
braucht nicht alles, was eine Wissenschaft lehrt, für alle Zeiten wahr zu sein;
fast in allen Wissenschaften giebt es Sätze, die bloß zeitweilig Geltung haben
und im Verlaufe der wissenschaftlichen Entwicklung wieder ausgeschieden werden,
fast in allen Wissenschaften spielen die Theorien eine Rolle, deren Wesen gerade
darin besteht, daß sie behaupten, was erst noch weiterer Bestätigung bedarf,
und in deren Bekämpfung und Verteidigung oft durch Geschlechter hindurch
das eigentliche Leben der Wissenschaft besteht. Verlangen darf man nur von
einer Wissenschaft, daß sie alles, was sie aufstellt, mit den letzten und besten
augenblicklich erreichbaren Gründen stützt, unter sorgfältiger Berücksichtigung
aller geschichtlichen Beziehungen, daß sie jeden einzelnen Bestandteil des ihr


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0606" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220932"/>
          <fw type="header" place="top"> pädagogische Universitätsseininare</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2263" prev="#ID_2262" next="#ID_2264"> Gedankenmassen zu bewältigen haben wird, auch auf dem Gebiete der allge¬<lb/>
meinen Bildung; denn er bedarf, wenn er die Aufgaben der Erziehung immer<lb/>
im Zusammenhange mit der ganzen Kultur auffassen will, einer sehr breiten<lb/>
Grundlage für seinen geistigen Standpunkt. Diese Einführung in die Theorie<lb/>
der Erziehung gehört aber ohne Zweifel dahin, wo die gelehrten Stände<lb/>
überhaupt ihre Berufsvorbildung erhalten, auf die Universität. Freilich wird<lb/>
diese Zugehörigkeit zur Universität der Pädagogik von vielen streitig gemacht:<lb/>
es giebt Leute genng, die es geradezu sür eine Entweihung der Universität<lb/>
halten würden, wenn die Schulmeisterwissenschaft dort ihren Einzug halten<lb/>
sollte. Sie sollten aber doch bedenken, daß Erziehung die höchste und für<lb/>
den sittlichen Fvitschritt der Menschheit wichtigste Kunst ist, daß also die<lb/>
Pflege ihrer Theorie von hervorragendem öffentlichen Interesse ist, und daß<lb/>
die Universität nur sich selbst ehrt, wenn sie der Theorie dieser Kunst ihre<lb/>
Hallen öffnet. An den unfertigen Zustand, den anch noch die heutige Päda¬<lb/>
gogik aufweist, und der in manchen Erzeugnissen der pädagogischen Tages-<lb/>
littcratur ein geradezu widerwärtiges Bild von Streberei, Selbstgenügsamkeit,<lb/>
Halbbildung und Dünkelhaftigkeit bietet, darf man sich nicht stoßen. Diese<lb/>
Dinge sind in ihrer Art nicht schlimmer, als z. B. gewisse theologische<lb/>
Streitigkeiten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und man hat<lb/>
damals ja auch uicht der Theologie entgelten lassen, was einzelne ihrer Ver¬<lb/>
treter sündigten. Es wird doch wohl nicht bestritten werden können, daß die<lb/>
pädagogischen Fragen auch einer vornehmen und einer wissenschaftlichen Be¬<lb/>
handlung fähig sind. Allerdings ist ja die Pädagogik keine in sich selbst<lb/>
ruhende Wissenschaft: sie baut mit dem Material, das ihr Ethik und Psycho¬<lb/>
logie darreichen. Aber sie teilt dieses Schicksal, mit fremden Steinen zu bauen,<lb/>
mit vielen andern Erkenntnisgebieten des menschlichen Geistes, z. B. mit den<lb/>
Wissenschaften, die auf der Anwendung naturwissenschaftlicher Sätze beruhen,<lb/>
wie etwa die Medizin und die Astronomie. Und es wird ihr doch nicht ab¬<lb/>
gesprochen werden können, daß sie mit diesem Material einen soliden wissen¬<lb/>
schaftlichen Bau aufzuführen vermag; denn die Methode ist es, die eine Gruppe<lb/>
von Erkenntnissen zur Wissenschaft macht, nicht die Erkenntnisse an sich. Es<lb/>
braucht nicht alles, was eine Wissenschaft lehrt, für alle Zeiten wahr zu sein;<lb/>
fast in allen Wissenschaften giebt es Sätze, die bloß zeitweilig Geltung haben<lb/>
und im Verlaufe der wissenschaftlichen Entwicklung wieder ausgeschieden werden,<lb/>
fast in allen Wissenschaften spielen die Theorien eine Rolle, deren Wesen gerade<lb/>
darin besteht, daß sie behaupten, was erst noch weiterer Bestätigung bedarf,<lb/>
und in deren Bekämpfung und Verteidigung oft durch Geschlechter hindurch<lb/>
das eigentliche Leben der Wissenschaft besteht. Verlangen darf man nur von<lb/>
einer Wissenschaft, daß sie alles, was sie aufstellt, mit den letzten und besten<lb/>
augenblicklich erreichbaren Gründen stützt, unter sorgfältiger Berücksichtigung<lb/>
aller geschichtlichen Beziehungen, daß sie jeden einzelnen Bestandteil des ihr</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0606] pädagogische Universitätsseininare Gedankenmassen zu bewältigen haben wird, auch auf dem Gebiete der allge¬ meinen Bildung; denn er bedarf, wenn er die Aufgaben der Erziehung immer im Zusammenhange mit der ganzen Kultur auffassen will, einer sehr breiten Grundlage für seinen geistigen Standpunkt. Diese Einführung in die Theorie der Erziehung gehört aber ohne Zweifel dahin, wo die gelehrten Stände überhaupt ihre Berufsvorbildung erhalten, auf die Universität. Freilich wird diese Zugehörigkeit zur Universität der Pädagogik von vielen streitig gemacht: es giebt Leute genng, die es geradezu sür eine Entweihung der Universität halten würden, wenn die Schulmeisterwissenschaft dort ihren Einzug halten sollte. Sie sollten aber doch bedenken, daß Erziehung die höchste und für den sittlichen Fvitschritt der Menschheit wichtigste Kunst ist, daß also die Pflege ihrer Theorie von hervorragendem öffentlichen Interesse ist, und daß die Universität nur sich selbst ehrt, wenn sie der Theorie dieser Kunst ihre Hallen öffnet. An den unfertigen Zustand, den anch noch die heutige Päda¬ gogik aufweist, und der in manchen Erzeugnissen der pädagogischen Tages- littcratur ein geradezu widerwärtiges Bild von Streberei, Selbstgenügsamkeit, Halbbildung und Dünkelhaftigkeit bietet, darf man sich nicht stoßen. Diese Dinge sind in ihrer Art nicht schlimmer, als z. B. gewisse theologische Streitigkeiten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und man hat damals ja auch uicht der Theologie entgelten lassen, was einzelne ihrer Ver¬ treter sündigten. Es wird doch wohl nicht bestritten werden können, daß die pädagogischen Fragen auch einer vornehmen und einer wissenschaftlichen Be¬ handlung fähig sind. Allerdings ist ja die Pädagogik keine in sich selbst ruhende Wissenschaft: sie baut mit dem Material, das ihr Ethik und Psycho¬ logie darreichen. Aber sie teilt dieses Schicksal, mit fremden Steinen zu bauen, mit vielen andern Erkenntnisgebieten des menschlichen Geistes, z. B. mit den Wissenschaften, die auf der Anwendung naturwissenschaftlicher Sätze beruhen, wie etwa die Medizin und die Astronomie. Und es wird ihr doch nicht ab¬ gesprochen werden können, daß sie mit diesem Material einen soliden wissen¬ schaftlichen Bau aufzuführen vermag; denn die Methode ist es, die eine Gruppe von Erkenntnissen zur Wissenschaft macht, nicht die Erkenntnisse an sich. Es braucht nicht alles, was eine Wissenschaft lehrt, für alle Zeiten wahr zu sein; fast in allen Wissenschaften giebt es Sätze, die bloß zeitweilig Geltung haben und im Verlaufe der wissenschaftlichen Entwicklung wieder ausgeschieden werden, fast in allen Wissenschaften spielen die Theorien eine Rolle, deren Wesen gerade darin besteht, daß sie behaupten, was erst noch weiterer Bestätigung bedarf, und in deren Bekämpfung und Verteidigung oft durch Geschlechter hindurch das eigentliche Leben der Wissenschaft besteht. Verlangen darf man nur von einer Wissenschaft, daß sie alles, was sie aufstellt, mit den letzten und besten augenblicklich erreichbaren Gründen stützt, unter sorgfältiger Berücksichtigung aller geschichtlichen Beziehungen, daß sie jeden einzelnen Bestandteil des ihr

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/606
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/606>, abgerufen am 28.07.2024.