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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Zunge

war und gesellschaftlichen Takt hatte, nicht verraten. Aber, wie gesagt, ein
Held bin ich nicht. Ich gehe einem Stier lieber aus dem Wege, als daß ich
ihn, einer beliebten Redensart zu Gefallen, bei den Hörnern fasse. An dem
Bauernaufstand und an den französischen Revolutionen bin ich vollständig
unschuldig. Wenn ich daher unter dem Messer eines Barbiers liege, komme
ich mir schon so verwegen vor wie ein antiker Gladiator. Wer täglich seine
wertvolle, aber wehrlose Kehle dem Messer auf Gnade oder Ungnade für
zehn Pfennige überliefert -- wer mehr bezahlt, hat in dieser Hinsicht keine
Vorteile --, dessen Mut hat nach meiner Meinung eben so viel Anerkennung
verdient als das schöne Fischermüdchen, das die Bewunderung Heines erregte,
weil es sich täglich sorglos dem wilden Meere anvertraute. Wer bürgt
mir dafür, daß der Barbier in einem Anfall von nervöser Überspannung nicht
Plötzlich auf die Idee kommt, meine Kehle auf die Widerstandsfähigkeit gegen
ein scharf geschliffenes Rasiermesser zu prüfen? Nachher stehen wir beide, zu
einer sensationellen Notiz verwertet, unter der Rubrik "Vermischtes" in der
Zeitung. Das mag für den Barbier etwas neues sein, für mich aber nicht.

Das Gerücht, sei es nun gut oder böse, wurde bei deu Alten durch die
Fama oder Pheme dargestellt, die niemals ruhte, sondern immer ausspähte
und dann schnellfüßig das, was sie bemerkt und erfahren hatte, erst leise und
in kleinem Kreise, dann aber immer lauter und in größerem Kreise verkündete.
Sie ward als eine geflügelte Frau von zarter Gestalt mit einer Posaune in
der Hand abgebildet. Daher rührt wohl auch der Ausdruck: etwas aus¬
posaunen. Ein Bildner der Neuzeit, der auch in der Allegorie dem Natura¬
lismus huldigte, würde das Gerücht wahrscheinlich als zwei bei der Arbeit
schwatzende Waschweiber darstellen. Waschweib und Lüstermaul ist im Volks¬
mund "identisch." Dieser Sprachgebrauch sowie die Vorstellung der Alten zeigt,
wie verbreitet jederzeit die Meinung gewesen ist, daß das Weib auf Grund
feiner natürlichen Anlage zum übermäßigen Gebrauch seiner Zunge prädestinirt
sei. Ich kenne die alten Weiber -- ich meine die Weiber der Alten -- nicht,
für unser mit uns lebendes weibliches Geschlecht fühle ich mich aber doch be¬
wogen, eine Lanze zu brechen. Die Vertreter des Männertnms können in
offiziellen Festreden dem ewig Weiblichen gereimt und ungereimt nicht genug
Schmeicheleien sagen, und dieselben Fürsprecher der holden Weiblichkeit unter¬
lassen es bei keiner Gelegenheit, sobald es sich nicht um Schaustellungen des
lieben Ich handelt, wie^ bei Festreden auf die Damen, über das Laster des
Schwatzens loszuziehen. Ich weiß zwar, daß, wenn ich es unternehme, das
starke Geschlecht zu ernähren, es möge seine Stärke nicht im blöden nach¬
schwatzen ungerechtfertigter Beschuldigungen erproben, ich in ein Wespennest
steche. Ich höre die höhnischen Stimmen meiner Geschlechtsgenossen: "Haha!
Der Herr ist ehelich belastet. Hinter ihm steht die beleidigte Weiblichkeit in
Gestalt einer zürnenden Gattin und sührt dem Anwalt ihres Geschlechts die


Die Zunge

war und gesellschaftlichen Takt hatte, nicht verraten. Aber, wie gesagt, ein
Held bin ich nicht. Ich gehe einem Stier lieber aus dem Wege, als daß ich
ihn, einer beliebten Redensart zu Gefallen, bei den Hörnern fasse. An dem
Bauernaufstand und an den französischen Revolutionen bin ich vollständig
unschuldig. Wenn ich daher unter dem Messer eines Barbiers liege, komme
ich mir schon so verwegen vor wie ein antiker Gladiator. Wer täglich seine
wertvolle, aber wehrlose Kehle dem Messer auf Gnade oder Ungnade für
zehn Pfennige überliefert — wer mehr bezahlt, hat in dieser Hinsicht keine
Vorteile —, dessen Mut hat nach meiner Meinung eben so viel Anerkennung
verdient als das schöne Fischermüdchen, das die Bewunderung Heines erregte,
weil es sich täglich sorglos dem wilden Meere anvertraute. Wer bürgt
mir dafür, daß der Barbier in einem Anfall von nervöser Überspannung nicht
Plötzlich auf die Idee kommt, meine Kehle auf die Widerstandsfähigkeit gegen
ein scharf geschliffenes Rasiermesser zu prüfen? Nachher stehen wir beide, zu
einer sensationellen Notiz verwertet, unter der Rubrik „Vermischtes" in der
Zeitung. Das mag für den Barbier etwas neues sein, für mich aber nicht.

Das Gerücht, sei es nun gut oder böse, wurde bei deu Alten durch die
Fama oder Pheme dargestellt, die niemals ruhte, sondern immer ausspähte
und dann schnellfüßig das, was sie bemerkt und erfahren hatte, erst leise und
in kleinem Kreise, dann aber immer lauter und in größerem Kreise verkündete.
Sie ward als eine geflügelte Frau von zarter Gestalt mit einer Posaune in
der Hand abgebildet. Daher rührt wohl auch der Ausdruck: etwas aus¬
posaunen. Ein Bildner der Neuzeit, der auch in der Allegorie dem Natura¬
lismus huldigte, würde das Gerücht wahrscheinlich als zwei bei der Arbeit
schwatzende Waschweiber darstellen. Waschweib und Lüstermaul ist im Volks¬
mund „identisch." Dieser Sprachgebrauch sowie die Vorstellung der Alten zeigt,
wie verbreitet jederzeit die Meinung gewesen ist, daß das Weib auf Grund
feiner natürlichen Anlage zum übermäßigen Gebrauch seiner Zunge prädestinirt
sei. Ich kenne die alten Weiber — ich meine die Weiber der Alten — nicht,
für unser mit uns lebendes weibliches Geschlecht fühle ich mich aber doch be¬
wogen, eine Lanze zu brechen. Die Vertreter des Männertnms können in
offiziellen Festreden dem ewig Weiblichen gereimt und ungereimt nicht genug
Schmeicheleien sagen, und dieselben Fürsprecher der holden Weiblichkeit unter¬
lassen es bei keiner Gelegenheit, sobald es sich nicht um Schaustellungen des
lieben Ich handelt, wie^ bei Festreden auf die Damen, über das Laster des
Schwatzens loszuziehen. Ich weiß zwar, daß, wenn ich es unternehme, das
starke Geschlecht zu ernähren, es möge seine Stärke nicht im blöden nach¬
schwatzen ungerechtfertigter Beschuldigungen erproben, ich in ein Wespennest
steche. Ich höre die höhnischen Stimmen meiner Geschlechtsgenossen: „Haha!
Der Herr ist ehelich belastet. Hinter ihm steht die beleidigte Weiblichkeit in
Gestalt einer zürnenden Gattin und sührt dem Anwalt ihres Geschlechts die


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[0395] Die Zunge war und gesellschaftlichen Takt hatte, nicht verraten. Aber, wie gesagt, ein Held bin ich nicht. Ich gehe einem Stier lieber aus dem Wege, als daß ich ihn, einer beliebten Redensart zu Gefallen, bei den Hörnern fasse. An dem Bauernaufstand und an den französischen Revolutionen bin ich vollständig unschuldig. Wenn ich daher unter dem Messer eines Barbiers liege, komme ich mir schon so verwegen vor wie ein antiker Gladiator. Wer täglich seine wertvolle, aber wehrlose Kehle dem Messer auf Gnade oder Ungnade für zehn Pfennige überliefert — wer mehr bezahlt, hat in dieser Hinsicht keine Vorteile —, dessen Mut hat nach meiner Meinung eben so viel Anerkennung verdient als das schöne Fischermüdchen, das die Bewunderung Heines erregte, weil es sich täglich sorglos dem wilden Meere anvertraute. Wer bürgt mir dafür, daß der Barbier in einem Anfall von nervöser Überspannung nicht Plötzlich auf die Idee kommt, meine Kehle auf die Widerstandsfähigkeit gegen ein scharf geschliffenes Rasiermesser zu prüfen? Nachher stehen wir beide, zu einer sensationellen Notiz verwertet, unter der Rubrik „Vermischtes" in der Zeitung. Das mag für den Barbier etwas neues sein, für mich aber nicht. Das Gerücht, sei es nun gut oder böse, wurde bei deu Alten durch die Fama oder Pheme dargestellt, die niemals ruhte, sondern immer ausspähte und dann schnellfüßig das, was sie bemerkt und erfahren hatte, erst leise und in kleinem Kreise, dann aber immer lauter und in größerem Kreise verkündete. Sie ward als eine geflügelte Frau von zarter Gestalt mit einer Posaune in der Hand abgebildet. Daher rührt wohl auch der Ausdruck: etwas aus¬ posaunen. Ein Bildner der Neuzeit, der auch in der Allegorie dem Natura¬ lismus huldigte, würde das Gerücht wahrscheinlich als zwei bei der Arbeit schwatzende Waschweiber darstellen. Waschweib und Lüstermaul ist im Volks¬ mund „identisch." Dieser Sprachgebrauch sowie die Vorstellung der Alten zeigt, wie verbreitet jederzeit die Meinung gewesen ist, daß das Weib auf Grund feiner natürlichen Anlage zum übermäßigen Gebrauch seiner Zunge prädestinirt sei. Ich kenne die alten Weiber — ich meine die Weiber der Alten — nicht, für unser mit uns lebendes weibliches Geschlecht fühle ich mich aber doch be¬ wogen, eine Lanze zu brechen. Die Vertreter des Männertnms können in offiziellen Festreden dem ewig Weiblichen gereimt und ungereimt nicht genug Schmeicheleien sagen, und dieselben Fürsprecher der holden Weiblichkeit unter¬ lassen es bei keiner Gelegenheit, sobald es sich nicht um Schaustellungen des lieben Ich handelt, wie^ bei Festreden auf die Damen, über das Laster des Schwatzens loszuziehen. Ich weiß zwar, daß, wenn ich es unternehme, das starke Geschlecht zu ernähren, es möge seine Stärke nicht im blöden nach¬ schwatzen ungerechtfertigter Beschuldigungen erproben, ich in ein Wespennest steche. Ich höre die höhnischen Stimmen meiner Geschlechtsgenossen: „Haha! Der Herr ist ehelich belastet. Hinter ihm steht die beleidigte Weiblichkeit in Gestalt einer zürnenden Gattin und sührt dem Anwalt ihres Geschlechts die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/395>, abgerufen am 28.07.2024.