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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

Dafür ist unter andern Friedrich Bischer ein klassischer Zeuge. Indem Ludwig
nun auch noch den Bau des Stückes tadelt, begegnet ihm etwas, was man
kaum sür möglich halten sollte. Er sagt: "Am Leben des Sohnes Wilhelms
hängt die Katastrophe. Wenn wir das nur früher wüßten! Wir erfahren es
erst, als der Sohn Wilhelms tot ist." Aber dem ist nicht so; wir erfahren
es zuerst im Anfang des zweiten, dann noch am Schluß des dritten Aktes,
wo dieser Sohn Wilhelms zum Thronfolger ausgerufen wird, der Tod aber
tritt erst im vierten Akte ein. Wie war ein solcher Irrtum möglich? Unrecht
hat Ludwig auch, wenn er den Epigrammatismus der Sprache in der "Agnes
Bernauer" tadelt, Unrecht, wenn er in einem Atem damit behauptet, daß
Hebbels Personen in der "Agnes" nnr sprachen, um ihre dialektische Kunst
zu zeigen. Gerade diese Schwächen Hebbels sind in der "Agnes" in der
Hauptsache überwunden, das Detail ist zwar immer noch knapp, aber so frisch,
daß Kenner des Volkes wie Klaus Groth den Zauber der Volksszeneu hervor¬
gehoben haben. Und dann wieder die alte Anklage der Kälte! Nie ist Ludwig
ungerechter gegen Hebbel gewesen als bei dieser Kritik über die "Agnes." Ich
finde selbst den letzten Entwurf Ludwigs forcirter als Hebbels Drama, das
mir in seiner knappen und schlichten Weise dem deutschen Volkscharakter sehr
glücklich zu entsprechen scheint und heute, wo man ernstere Anschauungen vou
der Gewalt und Bedeutung des Staates hat als in der schlappen Reaktivns-
periode, vielleicht sogar auf Bühnenerfolg rechnen könnte.

Aber während nun Hebbel mit "Gyges und sein Ring" und der Nibe-
lungentrilogie die Höhe erreichte, ging es mit Ludwig, der, nachdem er noch
seine großartigen Erzählungen geschrieben hatte, zum Teil durch die Schuld
seiner Körperzustände in sein unglückliches Shakespearestudium hineingeraten
war, immer mehr bergab. Nicht, daß ich sein Marino Falieri-, sein Tiberius
Gracchusfragment unterschätzte, aber daß sie für unsre Litteratur besondre Be¬
deutung hätten, kann ich mit dem besten Willen nicht sehen. Gerade in dieser
letzten Zeit bildete sich der Gegensatz zwischen Hebbel und Ludwig in voller
Stärke aus, obwohl Ludwig gegen Hebbels Praxis milder wurde. Er sagte
einmal zu Lewinskh, dem Wiener Burgschauspieler: "Die dramatische Kunst
besteht in der völligen Durchdringung von Dichtkunst und Schauspielkunst,
und zwar zu gleichen Teilen; dieses große Ziel hat nur einer erreicht --
Shakespeare," und so suchte er von Shakespeare die Technik des Dramas zu
lernen, die in diesem Sinne allerdings mehr ist als das dramatische Hand¬
werk. Hebbel hat immer an der Anschauung festgehalten, daß Shakespeare
dem deutschen Theater Arznei bleiben müsse, nicht Speise werden dürfe, und
so konnte auch ein Shakespearischcs Drama nach Shakespeare nicht sein Ideal
sein. Ihm war jede künstlerische Schöpfung eine Naturthat, die freilich auf
Gesetzen beruhe, die aber keines Neflektirens des Dichters über diese Gesetze
bedürfe, sondern deren unmittelbares Produkt sei. Und so hat er sich denn


Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

Dafür ist unter andern Friedrich Bischer ein klassischer Zeuge. Indem Ludwig
nun auch noch den Bau des Stückes tadelt, begegnet ihm etwas, was man
kaum sür möglich halten sollte. Er sagt: „Am Leben des Sohnes Wilhelms
hängt die Katastrophe. Wenn wir das nur früher wüßten! Wir erfahren es
erst, als der Sohn Wilhelms tot ist." Aber dem ist nicht so; wir erfahren
es zuerst im Anfang des zweiten, dann noch am Schluß des dritten Aktes,
wo dieser Sohn Wilhelms zum Thronfolger ausgerufen wird, der Tod aber
tritt erst im vierten Akte ein. Wie war ein solcher Irrtum möglich? Unrecht
hat Ludwig auch, wenn er den Epigrammatismus der Sprache in der „Agnes
Bernauer" tadelt, Unrecht, wenn er in einem Atem damit behauptet, daß
Hebbels Personen in der „Agnes" nnr sprachen, um ihre dialektische Kunst
zu zeigen. Gerade diese Schwächen Hebbels sind in der „Agnes" in der
Hauptsache überwunden, das Detail ist zwar immer noch knapp, aber so frisch,
daß Kenner des Volkes wie Klaus Groth den Zauber der Volksszeneu hervor¬
gehoben haben. Und dann wieder die alte Anklage der Kälte! Nie ist Ludwig
ungerechter gegen Hebbel gewesen als bei dieser Kritik über die „Agnes." Ich
finde selbst den letzten Entwurf Ludwigs forcirter als Hebbels Drama, das
mir in seiner knappen und schlichten Weise dem deutschen Volkscharakter sehr
glücklich zu entsprechen scheint und heute, wo man ernstere Anschauungen vou
der Gewalt und Bedeutung des Staates hat als in der schlappen Reaktivns-
periode, vielleicht sogar auf Bühnenerfolg rechnen könnte.

Aber während nun Hebbel mit „Gyges und sein Ring" und der Nibe-
lungentrilogie die Höhe erreichte, ging es mit Ludwig, der, nachdem er noch
seine großartigen Erzählungen geschrieben hatte, zum Teil durch die Schuld
seiner Körperzustände in sein unglückliches Shakespearestudium hineingeraten
war, immer mehr bergab. Nicht, daß ich sein Marino Falieri-, sein Tiberius
Gracchusfragment unterschätzte, aber daß sie für unsre Litteratur besondre Be¬
deutung hätten, kann ich mit dem besten Willen nicht sehen. Gerade in dieser
letzten Zeit bildete sich der Gegensatz zwischen Hebbel und Ludwig in voller
Stärke aus, obwohl Ludwig gegen Hebbels Praxis milder wurde. Er sagte
einmal zu Lewinskh, dem Wiener Burgschauspieler: „Die dramatische Kunst
besteht in der völligen Durchdringung von Dichtkunst und Schauspielkunst,
und zwar zu gleichen Teilen; dieses große Ziel hat nur einer erreicht —
Shakespeare," und so suchte er von Shakespeare die Technik des Dramas zu
lernen, die in diesem Sinne allerdings mehr ist als das dramatische Hand¬
werk. Hebbel hat immer an der Anschauung festgehalten, daß Shakespeare
dem deutschen Theater Arznei bleiben müsse, nicht Speise werden dürfe, und
so konnte auch ein Shakespearischcs Drama nach Shakespeare nicht sein Ideal
sein. Ihm war jede künstlerische Schöpfung eine Naturthat, die freilich auf
Gesetzen beruhe, die aber keines Neflektirens des Dichters über diese Gesetze
bedürfe, sondern deren unmittelbares Produkt sei. Und so hat er sich denn


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[0390] Friedrich Hebbel und Veto Ludwig Dafür ist unter andern Friedrich Bischer ein klassischer Zeuge. Indem Ludwig nun auch noch den Bau des Stückes tadelt, begegnet ihm etwas, was man kaum sür möglich halten sollte. Er sagt: „Am Leben des Sohnes Wilhelms hängt die Katastrophe. Wenn wir das nur früher wüßten! Wir erfahren es erst, als der Sohn Wilhelms tot ist." Aber dem ist nicht so; wir erfahren es zuerst im Anfang des zweiten, dann noch am Schluß des dritten Aktes, wo dieser Sohn Wilhelms zum Thronfolger ausgerufen wird, der Tod aber tritt erst im vierten Akte ein. Wie war ein solcher Irrtum möglich? Unrecht hat Ludwig auch, wenn er den Epigrammatismus der Sprache in der „Agnes Bernauer" tadelt, Unrecht, wenn er in einem Atem damit behauptet, daß Hebbels Personen in der „Agnes" nnr sprachen, um ihre dialektische Kunst zu zeigen. Gerade diese Schwächen Hebbels sind in der „Agnes" in der Hauptsache überwunden, das Detail ist zwar immer noch knapp, aber so frisch, daß Kenner des Volkes wie Klaus Groth den Zauber der Volksszeneu hervor¬ gehoben haben. Und dann wieder die alte Anklage der Kälte! Nie ist Ludwig ungerechter gegen Hebbel gewesen als bei dieser Kritik über die „Agnes." Ich finde selbst den letzten Entwurf Ludwigs forcirter als Hebbels Drama, das mir in seiner knappen und schlichten Weise dem deutschen Volkscharakter sehr glücklich zu entsprechen scheint und heute, wo man ernstere Anschauungen vou der Gewalt und Bedeutung des Staates hat als in der schlappen Reaktivns- periode, vielleicht sogar auf Bühnenerfolg rechnen könnte. Aber während nun Hebbel mit „Gyges und sein Ring" und der Nibe- lungentrilogie die Höhe erreichte, ging es mit Ludwig, der, nachdem er noch seine großartigen Erzählungen geschrieben hatte, zum Teil durch die Schuld seiner Körperzustände in sein unglückliches Shakespearestudium hineingeraten war, immer mehr bergab. Nicht, daß ich sein Marino Falieri-, sein Tiberius Gracchusfragment unterschätzte, aber daß sie für unsre Litteratur besondre Be¬ deutung hätten, kann ich mit dem besten Willen nicht sehen. Gerade in dieser letzten Zeit bildete sich der Gegensatz zwischen Hebbel und Ludwig in voller Stärke aus, obwohl Ludwig gegen Hebbels Praxis milder wurde. Er sagte einmal zu Lewinskh, dem Wiener Burgschauspieler: „Die dramatische Kunst besteht in der völligen Durchdringung von Dichtkunst und Schauspielkunst, und zwar zu gleichen Teilen; dieses große Ziel hat nur einer erreicht — Shakespeare," und so suchte er von Shakespeare die Technik des Dramas zu lernen, die in diesem Sinne allerdings mehr ist als das dramatische Hand¬ werk. Hebbel hat immer an der Anschauung festgehalten, daß Shakespeare dem deutschen Theater Arznei bleiben müsse, nicht Speise werden dürfe, und so konnte auch ein Shakespearischcs Drama nach Shakespeare nicht sein Ideal sein. Ihm war jede künstlerische Schöpfung eine Naturthat, die freilich auf Gesetzen beruhe, die aber keines Neflektirens des Dichters über diese Gesetze bedürfe, sondern deren unmittelbares Produkt sei. Und so hat er sich denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/390>, abgerufen am 28.07.2024.