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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Das Kapital von Karl Marx

angeben muß, was er darunter versteht, weil sie sonst bei einander vorbei¬
sprechen.

Unter Kapital versteht also Marx eigentlich nur den Kapitalbesitz des
größern Unternehmers, der Lohnarbeiter beschäftigt. Der "Akkumulation"
dieses Kapitals hat er die letzten Kapitel des ersten Buches gewidmet. Sie
handeln hauptsächlich vou der Akkumulation des englischen Kapitals und sind
sehr nützlich zu lesen. Wir haben sie seinerzeit benutzt und insbesondre den
Punkt hervorgehoben, daß die Pächteraustreibungen und der großartige, durch
"nolosurss vollzogne Landraub, also die gewaltsame Trennung des gemeinen
Mannes von der ihn nährenden Scholle, eine der wichtigsten Vorbedingungen
für die Aufhäufung des industriellen Kapitals Englands gewesen sind. Wenn
jedoch Marx erwartet, daß dieser Akkumulationsprozeß auf die Spitze getrieben
werden und das gesamte Volksvermögen zuletzt in den Händen weniger zu¬
sammenfließen werde, sodaß es für die Völker ein leichtes fein werde, die
Expropriateure zu expropriiren, und zwar nicht bloß in England, sondern
überall, da England der Typus sei, uach dem der Entwicklungsprozeß aller
Völker verlaufe, so stimmen wir ihm, wie unsre Leser wissen, darin nicht bei,
ein solcher Radikalismus kommt in der Wirklichkeit nicht vor; wohl aber ist
es nützlich, wenn der Theoretiker die letzten Folgerungen zieht, weil eben da¬
durch die Praktiker bewogen werden, ihnen vorzubeugen.

- Marxens Radikalismus ist ein Erbstück Hegels. Nur hat er, wie er sich
ausdrückt, die Welt, die Hegel auf den Kopf gestellt habe, wieder auf ihre
Füße gestellt. "Für Hegel, schreibt er im Vorwort zur zweiten Auslage, ist
der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges
Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Er¬
scheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das
im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." Demnach sind alle
Staatsformen Produkte und alle Religionen nichts als Spiegelbilder wirt¬
schaftlicher Zustände. Mit dieser materialistischen Geschichtskonstruktion, die zu
den von der deutschen Sozialdemokratie am eifrigsten bearbeiteten Dogmen der
neuen Religion gehört, haben sich ja die Grenzboten auch schon gelegentlich
auseinandergesetzt.

(Schluß folgt)




Das Kapital von Karl Marx

angeben muß, was er darunter versteht, weil sie sonst bei einander vorbei¬
sprechen.

Unter Kapital versteht also Marx eigentlich nur den Kapitalbesitz des
größern Unternehmers, der Lohnarbeiter beschäftigt. Der „Akkumulation"
dieses Kapitals hat er die letzten Kapitel des ersten Buches gewidmet. Sie
handeln hauptsächlich vou der Akkumulation des englischen Kapitals und sind
sehr nützlich zu lesen. Wir haben sie seinerzeit benutzt und insbesondre den
Punkt hervorgehoben, daß die Pächteraustreibungen und der großartige, durch
«nolosurss vollzogne Landraub, also die gewaltsame Trennung des gemeinen
Mannes von der ihn nährenden Scholle, eine der wichtigsten Vorbedingungen
für die Aufhäufung des industriellen Kapitals Englands gewesen sind. Wenn
jedoch Marx erwartet, daß dieser Akkumulationsprozeß auf die Spitze getrieben
werden und das gesamte Volksvermögen zuletzt in den Händen weniger zu¬
sammenfließen werde, sodaß es für die Völker ein leichtes fein werde, die
Expropriateure zu expropriiren, und zwar nicht bloß in England, sondern
überall, da England der Typus sei, uach dem der Entwicklungsprozeß aller
Völker verlaufe, so stimmen wir ihm, wie unsre Leser wissen, darin nicht bei,
ein solcher Radikalismus kommt in der Wirklichkeit nicht vor; wohl aber ist
es nützlich, wenn der Theoretiker die letzten Folgerungen zieht, weil eben da¬
durch die Praktiker bewogen werden, ihnen vorzubeugen.

- Marxens Radikalismus ist ein Erbstück Hegels. Nur hat er, wie er sich
ausdrückt, die Welt, die Hegel auf den Kopf gestellt habe, wieder auf ihre
Füße gestellt. „Für Hegel, schreibt er im Vorwort zur zweiten Auslage, ist
der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges
Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Er¬
scheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das
im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." Demnach sind alle
Staatsformen Produkte und alle Religionen nichts als Spiegelbilder wirt¬
schaftlicher Zustände. Mit dieser materialistischen Geschichtskonstruktion, die zu
den von der deutschen Sozialdemokratie am eifrigsten bearbeiteten Dogmen der
neuen Religion gehört, haben sich ja die Grenzboten auch schon gelegentlich
auseinandergesetzt.

(Schluß folgt)




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[0039] Das Kapital von Karl Marx angeben muß, was er darunter versteht, weil sie sonst bei einander vorbei¬ sprechen. Unter Kapital versteht also Marx eigentlich nur den Kapitalbesitz des größern Unternehmers, der Lohnarbeiter beschäftigt. Der „Akkumulation" dieses Kapitals hat er die letzten Kapitel des ersten Buches gewidmet. Sie handeln hauptsächlich vou der Akkumulation des englischen Kapitals und sind sehr nützlich zu lesen. Wir haben sie seinerzeit benutzt und insbesondre den Punkt hervorgehoben, daß die Pächteraustreibungen und der großartige, durch «nolosurss vollzogne Landraub, also die gewaltsame Trennung des gemeinen Mannes von der ihn nährenden Scholle, eine der wichtigsten Vorbedingungen für die Aufhäufung des industriellen Kapitals Englands gewesen sind. Wenn jedoch Marx erwartet, daß dieser Akkumulationsprozeß auf die Spitze getrieben werden und das gesamte Volksvermögen zuletzt in den Händen weniger zu¬ sammenfließen werde, sodaß es für die Völker ein leichtes fein werde, die Expropriateure zu expropriiren, und zwar nicht bloß in England, sondern überall, da England der Typus sei, uach dem der Entwicklungsprozeß aller Völker verlaufe, so stimmen wir ihm, wie unsre Leser wissen, darin nicht bei, ein solcher Radikalismus kommt in der Wirklichkeit nicht vor; wohl aber ist es nützlich, wenn der Theoretiker die letzten Folgerungen zieht, weil eben da¬ durch die Praktiker bewogen werden, ihnen vorzubeugen. - Marxens Radikalismus ist ein Erbstück Hegels. Nur hat er, wie er sich ausdrückt, die Welt, die Hegel auf den Kopf gestellt habe, wieder auf ihre Füße gestellt. „Für Hegel, schreibt er im Vorwort zur zweiten Auslage, ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Er¬ scheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." Demnach sind alle Staatsformen Produkte und alle Religionen nichts als Spiegelbilder wirt¬ schaftlicher Zustände. Mit dieser materialistischen Geschichtskonstruktion, die zu den von der deutschen Sozialdemokratie am eifrigsten bearbeiteten Dogmen der neuen Religion gehört, haben sich ja die Grenzboten auch schon gelegentlich auseinandergesetzt. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/39>, abgerufen am 01.09.2024.