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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

hatte. Erst unsrer Zeit war es vorbehalten, das Hinstellen des Totenkopfs
als die Aufgabe einer ganzen Litteratur, die sich die naturalistisch-soziale nennt,
zu predigen. Sozial ist freilich auch schon Hebbels "Julia," und noch mehr
das "Trauerspiel in Sizilien," das in wenigen Gestalten eine ganze verkommne
Gesellschaft zu charakterisiren übernimmt, aber keins dieser Werke ist natura¬
listisch, wie denn Hebbel überhaupt dem Naturalismus nicht so nahe gekommen
ist wie Ludwig, auch den Realismus nur in das Psychologische setzte und dem
ältern Realismus der Dickens, Auerbach, Freytag u. s. w., dessen Vorzüge
Ludwig nicht verkannte, keinen Geschmack abgewinnen konnte. Im ganzen ist
die soziale Periode Hebbels, wenn man von der nur halb hierher gehörigen
"Maria Magdalene" absieht, ohne reife Frucht geblieben, aber sie birgt Keime,
die ein halbes Jahrhundert später zur Entfaltung kamen.

Mit "Herodes und Marianne" beginnt die letzte, großartigste Periode
von Hebbels Schaffen, er wendet sich vom sozialen dem historischen Drama
großen Stils zu, ohne darum den Boden der Gegenwart unter den Füßen zu
verlieren. Hebbels Makkabäerstück ist von Ludwig nicht besprochen worden,
vielleicht deshalb nicht, weil er dann nicht umhin gekonnt hätte, das Ver¬
hältnis seines eignen dazu darzulegen. Meiner Überzeugung nach, die aller¬
dings durch nichts äußeres gestützt wird, hat Ludwig Hebbels Arbeit, die 1850
erschien, gekannt, ehe er an die letzte Gestaltung seiner "Makkabcier" ging,
und der Einfluß Hebbels ist vielleicht sogar im einzelnen nachzuweisen, in
einigen echt Hebbelschen Wendungen z. B.*) Nirgends aber zeigt sich auch die
Verschiedenheit der beiden Dichter deutlicher als hier. Bei Hebbel haben wir
zunächst wieder eine große Idee, die I. Collin so zusammenfaßt: "Der Mensch
(Herodes) spielt in seiner Vermessenheit die Rolle der Vorsehung und vergeht
sich zugleich gegen das Grundrecht des Menschen (indem Herodes die geliebte
Marianne aus Mißtrauen unter das Schwert stellt). Gott straft ihn durch
den Verlust des Liebsten (der Marianne) und eröffnet dabei die Aussicht, daß
er das noch verlieren werde, was er noch festhält (die Krone)." Dann aber
enthält die Tragödie auch die Darstellung eines echt menschlichen ewigen Ver¬
hältnisses, das zweier Menschen, die sich heiß lieben, und die doch uicht zu¬
sammenkommen, weil der Liebe das Vertrauen fehlt, und zweier großen Cha¬
raktere, eines großen Herrschers, der in der Herrschaft noch nicht festsitzt, und
eines vornehmen, stolzen Weibes aus dem verdrängten Herrscherhause. In
gewisser Hinsicht ist "Herodes und Marianne" Hebbels bedeutendstes Werk,
von gewaltiger Leidenschaft und von großartiger geschichtlicher Anschauung
erfüllt. Dennoch stelle ich Ludwigs "Makkabcier" trotz ihrer bekannten Schwächen:



Doch wird es am Ende auch genügen, wenn man bei Ludwigs "Makkabäern" die
"Judith" in Anrechnung bringt. Professor Stern, den ich befragte, sagte mir, Ludwig habe
"Herodes und Marianne" nur aus Berichten gekannt.
Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

hatte. Erst unsrer Zeit war es vorbehalten, das Hinstellen des Totenkopfs
als die Aufgabe einer ganzen Litteratur, die sich die naturalistisch-soziale nennt,
zu predigen. Sozial ist freilich auch schon Hebbels „Julia," und noch mehr
das „Trauerspiel in Sizilien," das in wenigen Gestalten eine ganze verkommne
Gesellschaft zu charakterisiren übernimmt, aber keins dieser Werke ist natura¬
listisch, wie denn Hebbel überhaupt dem Naturalismus nicht so nahe gekommen
ist wie Ludwig, auch den Realismus nur in das Psychologische setzte und dem
ältern Realismus der Dickens, Auerbach, Freytag u. s. w., dessen Vorzüge
Ludwig nicht verkannte, keinen Geschmack abgewinnen konnte. Im ganzen ist
die soziale Periode Hebbels, wenn man von der nur halb hierher gehörigen
„Maria Magdalene" absieht, ohne reife Frucht geblieben, aber sie birgt Keime,
die ein halbes Jahrhundert später zur Entfaltung kamen.

Mit „Herodes und Marianne" beginnt die letzte, großartigste Periode
von Hebbels Schaffen, er wendet sich vom sozialen dem historischen Drama
großen Stils zu, ohne darum den Boden der Gegenwart unter den Füßen zu
verlieren. Hebbels Makkabäerstück ist von Ludwig nicht besprochen worden,
vielleicht deshalb nicht, weil er dann nicht umhin gekonnt hätte, das Ver¬
hältnis seines eignen dazu darzulegen. Meiner Überzeugung nach, die aller¬
dings durch nichts äußeres gestützt wird, hat Ludwig Hebbels Arbeit, die 1850
erschien, gekannt, ehe er an die letzte Gestaltung seiner „Makkabcier" ging,
und der Einfluß Hebbels ist vielleicht sogar im einzelnen nachzuweisen, in
einigen echt Hebbelschen Wendungen z. B.*) Nirgends aber zeigt sich auch die
Verschiedenheit der beiden Dichter deutlicher als hier. Bei Hebbel haben wir
zunächst wieder eine große Idee, die I. Collin so zusammenfaßt: „Der Mensch
(Herodes) spielt in seiner Vermessenheit die Rolle der Vorsehung und vergeht
sich zugleich gegen das Grundrecht des Menschen (indem Herodes die geliebte
Marianne aus Mißtrauen unter das Schwert stellt). Gott straft ihn durch
den Verlust des Liebsten (der Marianne) und eröffnet dabei die Aussicht, daß
er das noch verlieren werde, was er noch festhält (die Krone)." Dann aber
enthält die Tragödie auch die Darstellung eines echt menschlichen ewigen Ver¬
hältnisses, das zweier Menschen, die sich heiß lieben, und die doch uicht zu¬
sammenkommen, weil der Liebe das Vertrauen fehlt, und zweier großen Cha¬
raktere, eines großen Herrschers, der in der Herrschaft noch nicht festsitzt, und
eines vornehmen, stolzen Weibes aus dem verdrängten Herrscherhause. In
gewisser Hinsicht ist „Herodes und Marianne" Hebbels bedeutendstes Werk,
von gewaltiger Leidenschaft und von großartiger geschichtlicher Anschauung
erfüllt. Dennoch stelle ich Ludwigs „Makkabcier" trotz ihrer bekannten Schwächen:



Doch wird es am Ende auch genügen, wenn man bei Ludwigs „Makkabäern" die
„Judith" in Anrechnung bringt. Professor Stern, den ich befragte, sagte mir, Ludwig habe
„Herodes und Marianne" nur aus Berichten gekannt.
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[0388] Friedrich Hebbel und Veto Ludwig hatte. Erst unsrer Zeit war es vorbehalten, das Hinstellen des Totenkopfs als die Aufgabe einer ganzen Litteratur, die sich die naturalistisch-soziale nennt, zu predigen. Sozial ist freilich auch schon Hebbels „Julia," und noch mehr das „Trauerspiel in Sizilien," das in wenigen Gestalten eine ganze verkommne Gesellschaft zu charakterisiren übernimmt, aber keins dieser Werke ist natura¬ listisch, wie denn Hebbel überhaupt dem Naturalismus nicht so nahe gekommen ist wie Ludwig, auch den Realismus nur in das Psychologische setzte und dem ältern Realismus der Dickens, Auerbach, Freytag u. s. w., dessen Vorzüge Ludwig nicht verkannte, keinen Geschmack abgewinnen konnte. Im ganzen ist die soziale Periode Hebbels, wenn man von der nur halb hierher gehörigen „Maria Magdalene" absieht, ohne reife Frucht geblieben, aber sie birgt Keime, die ein halbes Jahrhundert später zur Entfaltung kamen. Mit „Herodes und Marianne" beginnt die letzte, großartigste Periode von Hebbels Schaffen, er wendet sich vom sozialen dem historischen Drama großen Stils zu, ohne darum den Boden der Gegenwart unter den Füßen zu verlieren. Hebbels Makkabäerstück ist von Ludwig nicht besprochen worden, vielleicht deshalb nicht, weil er dann nicht umhin gekonnt hätte, das Ver¬ hältnis seines eignen dazu darzulegen. Meiner Überzeugung nach, die aller¬ dings durch nichts äußeres gestützt wird, hat Ludwig Hebbels Arbeit, die 1850 erschien, gekannt, ehe er an die letzte Gestaltung seiner „Makkabcier" ging, und der Einfluß Hebbels ist vielleicht sogar im einzelnen nachzuweisen, in einigen echt Hebbelschen Wendungen z. B.*) Nirgends aber zeigt sich auch die Verschiedenheit der beiden Dichter deutlicher als hier. Bei Hebbel haben wir zunächst wieder eine große Idee, die I. Collin so zusammenfaßt: „Der Mensch (Herodes) spielt in seiner Vermessenheit die Rolle der Vorsehung und vergeht sich zugleich gegen das Grundrecht des Menschen (indem Herodes die geliebte Marianne aus Mißtrauen unter das Schwert stellt). Gott straft ihn durch den Verlust des Liebsten (der Marianne) und eröffnet dabei die Aussicht, daß er das noch verlieren werde, was er noch festhält (die Krone)." Dann aber enthält die Tragödie auch die Darstellung eines echt menschlichen ewigen Ver¬ hältnisses, das zweier Menschen, die sich heiß lieben, und die doch uicht zu¬ sammenkommen, weil der Liebe das Vertrauen fehlt, und zweier großen Cha¬ raktere, eines großen Herrschers, der in der Herrschaft noch nicht festsitzt, und eines vornehmen, stolzen Weibes aus dem verdrängten Herrscherhause. In gewisser Hinsicht ist „Herodes und Marianne" Hebbels bedeutendstes Werk, von gewaltiger Leidenschaft und von großartiger geschichtlicher Anschauung erfüllt. Dennoch stelle ich Ludwigs „Makkabcier" trotz ihrer bekannten Schwächen: Doch wird es am Ende auch genügen, wenn man bei Ludwigs „Makkabäern" die „Judith" in Anrechnung bringt. Professor Stern, den ich befragte, sagte mir, Ludwig habe „Herodes und Marianne" nur aus Berichten gekannt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/388>, abgerufen am 28.07.2024.