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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Alto Ludwig

gerade bei Gelegenheit des Spruchs "Auge um Auge, Zahn um Zahn" die
entgegengesetzte christliche Lehre eingeprägt worden wäre; diese muß ihm trotz
seiner Erregung in den Sinn kommen. Doch genug von diesen durch Spitz¬
findigkeit hervorgerufuen Spitzfindigkeiten, das Gemüt lehnt sich einfach gegen
eine derartige realistische Motivirung auf, zumal beim Drama, es will die
Charaktere nicht bloß ihrer Natur gemäß handeln, es will sie auch nicht ohne
Not zum äußersten schreiten sehen, und mit Recht. Temperament und Stim¬
mung in allen Ehren, aber der tragische Held erfordert Verantwortlichkeits-
gefühl. Das Drama braucht ein festes Grundmotiv, aus dein die andern
Motive natürlich hervorwachsen, der Zufall spielt nur zwischendurch. Aber
wenn das auch beim "Erbförster" fehlt, er ist dennoch ein wunderbares Werk,
alles, was zur Charakteristik gehört, ist tadellos, das Zustündliche mit einer
Wärme, Liebe und Treue gegeben, die fast einzig dasteht in der deutscheu Lit¬
teratur, und dadurch auch eine Grundstimmung wachgerufen, die von Anfang
bis zu Ende mit immer erneuter Stärke wirkt. Es giebt auch in der darauf
hinarbeitendeu neuesten Litteratur kaum ein Werk, das die Heimatluft des
Verfassers in so starkem Grade durchzöge. Zwar die Kleinstadtatmosphäre
der "Maria Magdalene" läßt auch nichts zu wünschen übrig, vieles versetzt
einen nach Wesselburen, doch ist da immerhin so etwas wie ein mittlerer
deutscher Durchschnitt erstrebt, und die Wärme und Innigkeit Ludwigs ist nicht
erreicht. In der Stärke der Gestalt des Erbförsters als Thüringer Waldnatur
liegt aber auch wieder eine Schwäche, man hat doch mit Menschen und nicht
mit Bäumen zu leben, sein Eigensinn und seine Beschränktheit heben seine
tragische Stellung auf, Meister Anton, der schroffe Vertreter der kleinstädtischen
"Denkart," steht uns menschlich näher und ist uns bei aller Starrheit sym¬
pathischer. Und nicht bloß er, alle Menschen der "Maria Magdalene" stehen
im hellen Lichte des deutschen Tags, stehen darin vielleicht für alle Zeiten,
sodaß, wenn gefragt werden sollte, wer den Blick für die Wahrheit des Lebens
im ganzen, für den Grund und Kern aller menschlichen Dinge in höherm Maße
habe, die Entscheidung doch wohl für den Dichter der "Maria Magdalene"
ausfallen würde.

Hebbels "Julia" ist von Otto Ludwig vortrefflich, streng gerecht nach
Vorzügen und Fehlern beurteilt worden, leider aber hat er dann sein Urteil
verallgemeinert und fortan gerade in diesem Werke das für Hebbel charak¬
teristischste gesehen. Aus der Vorrede zur "Julia" stammt der "Totenkopf,"
den Hebbel den leichtsinnigen Schmauscrn seiner Zeit auf den Tisch gesetzt
wissen wollte, und der ihm dann so oft vorgerückt worden ist, auch von Ludwig,
in der Besprechung von "Mutter und Kind" z. B, wo sich dieser zu der Be¬
hauptung versteigt, daß all das Schöne des Gedichts nur Mittel und der
Totenkopf Zweck des Ganzen sei. Glücklicherweise wissen wir genau, daß der
Dichter von vornherein das hohe Lied der Mutterliebe zu singen im Sinne


Friedrich Hebbel und Alto Ludwig

gerade bei Gelegenheit des Spruchs „Auge um Auge, Zahn um Zahn" die
entgegengesetzte christliche Lehre eingeprägt worden wäre; diese muß ihm trotz
seiner Erregung in den Sinn kommen. Doch genug von diesen durch Spitz¬
findigkeit hervorgerufuen Spitzfindigkeiten, das Gemüt lehnt sich einfach gegen
eine derartige realistische Motivirung auf, zumal beim Drama, es will die
Charaktere nicht bloß ihrer Natur gemäß handeln, es will sie auch nicht ohne
Not zum äußersten schreiten sehen, und mit Recht. Temperament und Stim¬
mung in allen Ehren, aber der tragische Held erfordert Verantwortlichkeits-
gefühl. Das Drama braucht ein festes Grundmotiv, aus dein die andern
Motive natürlich hervorwachsen, der Zufall spielt nur zwischendurch. Aber
wenn das auch beim „Erbförster" fehlt, er ist dennoch ein wunderbares Werk,
alles, was zur Charakteristik gehört, ist tadellos, das Zustündliche mit einer
Wärme, Liebe und Treue gegeben, die fast einzig dasteht in der deutscheu Lit¬
teratur, und dadurch auch eine Grundstimmung wachgerufen, die von Anfang
bis zu Ende mit immer erneuter Stärke wirkt. Es giebt auch in der darauf
hinarbeitendeu neuesten Litteratur kaum ein Werk, das die Heimatluft des
Verfassers in so starkem Grade durchzöge. Zwar die Kleinstadtatmosphäre
der „Maria Magdalene" läßt auch nichts zu wünschen übrig, vieles versetzt
einen nach Wesselburen, doch ist da immerhin so etwas wie ein mittlerer
deutscher Durchschnitt erstrebt, und die Wärme und Innigkeit Ludwigs ist nicht
erreicht. In der Stärke der Gestalt des Erbförsters als Thüringer Waldnatur
liegt aber auch wieder eine Schwäche, man hat doch mit Menschen und nicht
mit Bäumen zu leben, sein Eigensinn und seine Beschränktheit heben seine
tragische Stellung auf, Meister Anton, der schroffe Vertreter der kleinstädtischen
„Denkart," steht uns menschlich näher und ist uns bei aller Starrheit sym¬
pathischer. Und nicht bloß er, alle Menschen der „Maria Magdalene" stehen
im hellen Lichte des deutschen Tags, stehen darin vielleicht für alle Zeiten,
sodaß, wenn gefragt werden sollte, wer den Blick für die Wahrheit des Lebens
im ganzen, für den Grund und Kern aller menschlichen Dinge in höherm Maße
habe, die Entscheidung doch wohl für den Dichter der „Maria Magdalene"
ausfallen würde.

Hebbels „Julia" ist von Otto Ludwig vortrefflich, streng gerecht nach
Vorzügen und Fehlern beurteilt worden, leider aber hat er dann sein Urteil
verallgemeinert und fortan gerade in diesem Werke das für Hebbel charak¬
teristischste gesehen. Aus der Vorrede zur „Julia" stammt der „Totenkopf,"
den Hebbel den leichtsinnigen Schmauscrn seiner Zeit auf den Tisch gesetzt
wissen wollte, und der ihm dann so oft vorgerückt worden ist, auch von Ludwig,
in der Besprechung von „Mutter und Kind" z. B, wo sich dieser zu der Be¬
hauptung versteigt, daß all das Schöne des Gedichts nur Mittel und der
Totenkopf Zweck des Ganzen sei. Glücklicherweise wissen wir genau, daß der
Dichter von vornherein das hohe Lied der Mutterliebe zu singen im Sinne


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[0387] Friedrich Hebbel und Alto Ludwig gerade bei Gelegenheit des Spruchs „Auge um Auge, Zahn um Zahn" die entgegengesetzte christliche Lehre eingeprägt worden wäre; diese muß ihm trotz seiner Erregung in den Sinn kommen. Doch genug von diesen durch Spitz¬ findigkeit hervorgerufuen Spitzfindigkeiten, das Gemüt lehnt sich einfach gegen eine derartige realistische Motivirung auf, zumal beim Drama, es will die Charaktere nicht bloß ihrer Natur gemäß handeln, es will sie auch nicht ohne Not zum äußersten schreiten sehen, und mit Recht. Temperament und Stim¬ mung in allen Ehren, aber der tragische Held erfordert Verantwortlichkeits- gefühl. Das Drama braucht ein festes Grundmotiv, aus dein die andern Motive natürlich hervorwachsen, der Zufall spielt nur zwischendurch. Aber wenn das auch beim „Erbförster" fehlt, er ist dennoch ein wunderbares Werk, alles, was zur Charakteristik gehört, ist tadellos, das Zustündliche mit einer Wärme, Liebe und Treue gegeben, die fast einzig dasteht in der deutscheu Lit¬ teratur, und dadurch auch eine Grundstimmung wachgerufen, die von Anfang bis zu Ende mit immer erneuter Stärke wirkt. Es giebt auch in der darauf hinarbeitendeu neuesten Litteratur kaum ein Werk, das die Heimatluft des Verfassers in so starkem Grade durchzöge. Zwar die Kleinstadtatmosphäre der „Maria Magdalene" läßt auch nichts zu wünschen übrig, vieles versetzt einen nach Wesselburen, doch ist da immerhin so etwas wie ein mittlerer deutscher Durchschnitt erstrebt, und die Wärme und Innigkeit Ludwigs ist nicht erreicht. In der Stärke der Gestalt des Erbförsters als Thüringer Waldnatur liegt aber auch wieder eine Schwäche, man hat doch mit Menschen und nicht mit Bäumen zu leben, sein Eigensinn und seine Beschränktheit heben seine tragische Stellung auf, Meister Anton, der schroffe Vertreter der kleinstädtischen „Denkart," steht uns menschlich näher und ist uns bei aller Starrheit sym¬ pathischer. Und nicht bloß er, alle Menschen der „Maria Magdalene" stehen im hellen Lichte des deutschen Tags, stehen darin vielleicht für alle Zeiten, sodaß, wenn gefragt werden sollte, wer den Blick für die Wahrheit des Lebens im ganzen, für den Grund und Kern aller menschlichen Dinge in höherm Maße habe, die Entscheidung doch wohl für den Dichter der „Maria Magdalene" ausfallen würde. Hebbels „Julia" ist von Otto Ludwig vortrefflich, streng gerecht nach Vorzügen und Fehlern beurteilt worden, leider aber hat er dann sein Urteil verallgemeinert und fortan gerade in diesem Werke das für Hebbel charak¬ teristischste gesehen. Aus der Vorrede zur „Julia" stammt der „Totenkopf," den Hebbel den leichtsinnigen Schmauscrn seiner Zeit auf den Tisch gesetzt wissen wollte, und der ihm dann so oft vorgerückt worden ist, auch von Ludwig, in der Besprechung von „Mutter und Kind" z. B, wo sich dieser zu der Be¬ hauptung versteigt, daß all das Schöne des Gedichts nur Mittel und der Totenkopf Zweck des Ganzen sei. Glücklicherweise wissen wir genau, daß der Dichter von vornherein das hohe Lied der Mutterliebe zu singen im Sinne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/387>, abgerufen am 28.07.2024.