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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

berufen, ihr Volk zu retten; sie vollbringt es, aber, menschlicher Natur gemäß,
aus persönlichen oder doch mit aus persönlichen Beweggründen und vernichtet
sich dadurch innerlich selbst. Es war jedoch nie Hebbels Weise, sogenannte
Ideen- oder gar philosophische Dramen zu schreiben, er wußte, daß er volles
Leben zu gestalten hatte, und es ist keine falsche Empfindung so vieler unsrer
Litteraturgeschichtschreiber, wenn sie Hebbel und Ludwig als "Charakterdrama¬
tiker" zu unsern Klassikern und dem zu ihnen gehörigen Grillparzer in Gegensatz
stellen; so ist auch die "Judith" ein Charakterdrama. Man mag die Heldin
eine pathologische Figur nennen, man mag über den Holofernes spötteln, dem
Eindruck dieser beiden Gestalten kann sich auch heute noch niemand ganz ent¬
ziehen; und nimmt man dazu die energische, an großartigen Situationen reiche
Handlung, das "brennende" Kolorit des Dramas, die einzig zur Anschauung
gebrachte Atmosphäre eines merkwürdigen orientalischen Volkstums, so erscheint
das Werk doch als eins der drei oder höchstens vier Dutzend deutscher Dramen,
die die Bürgschaft einer über ihre Entstehungszeit bedeutend hinausgehenden
Dauer in sich tragen.

Die "Genoveva" steht nicht ganz auf der Höhe der "Judith," aber von
den deutschen Gestaltungen des Stoffs ist es doch wohl die bedeutendste, und
es ist fraglich, ob sie Ludwig übertroffen Hütte. Ludwig wollte aus dem Cha¬
rakter Golos, auf den er anfangs wie Hebbel und wohl nach Hebbel den Nach¬
druck legte, die Grübelei und dann die Passivität der Heldin wegschaffen;
damit hätte er aber den Charakter der Heldin einfach zerstört, wie denn über¬
haupt die bewegliche Phantasie Ludwigs den Gestalten der Volkssage wie der
Geschichte gegenüber viel weniger Pietät bewies als Hebbel (man vergleiche
die "Agnes Bernauer"). Die Idee der "Genoveva" ist: die in^die Welt ge-
tretne Schönheit und Reinheit reizt, als sie sich irdischer Liebe empfänglich
zeigt, das Begehren der frischen Jugend und führt sie nach und ---ach zu Ver¬
brechen und Untergang, muß aber dafür selbst einen langen Marterweg durch¬
machen. Auch die "Genoveva" hat die Vorzüge guter Charakteristik und ein¬
heitlichen Kolorits, aber ihr Bau ist nicht so gut wie der der "Judith," es
fehlt auch der fortreißende Zug. Einzelne Szenen hat man wiederholt mit zu
dem schönsten gerechnet, was in deutscher Sprache geschrieben worden sei.

Über die "Maria Magdalene" hat Ludwig geurteilt, mit zehn Zeilen hat
er das Werk abgethan. "Die "Maria Magdalene" Hebbels, in mancher Hin¬
sicht sehr lobenswert, leidet daran, daß die Kälte des rechnenden Dichters, dem
die Persönlichkeiten Zahlen waren, auf seine Personen überging." .Das ist
der Vorwurf, der Hebbel so oft, nicht bloß von Ludwig gemacht worden ist,
sicherlich nicht nur eine Ungerechtigkeit, sondern auch eine Verkehrtheit. Hebbel
selbst hat gesagt, daß Kunstwerke uicht errechnet werden, und man kann bei
ihm immer annehmen, daß s--me the.^, , .^u Aussprüche seiner Praxis ent¬
stammen. Aber man sehe nur einmal d"" Personen der "Maria Magdalene"


Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

berufen, ihr Volk zu retten; sie vollbringt es, aber, menschlicher Natur gemäß,
aus persönlichen oder doch mit aus persönlichen Beweggründen und vernichtet
sich dadurch innerlich selbst. Es war jedoch nie Hebbels Weise, sogenannte
Ideen- oder gar philosophische Dramen zu schreiben, er wußte, daß er volles
Leben zu gestalten hatte, und es ist keine falsche Empfindung so vieler unsrer
Litteraturgeschichtschreiber, wenn sie Hebbel und Ludwig als „Charakterdrama¬
tiker" zu unsern Klassikern und dem zu ihnen gehörigen Grillparzer in Gegensatz
stellen; so ist auch die „Judith" ein Charakterdrama. Man mag die Heldin
eine pathologische Figur nennen, man mag über den Holofernes spötteln, dem
Eindruck dieser beiden Gestalten kann sich auch heute noch niemand ganz ent¬
ziehen; und nimmt man dazu die energische, an großartigen Situationen reiche
Handlung, das „brennende" Kolorit des Dramas, die einzig zur Anschauung
gebrachte Atmosphäre eines merkwürdigen orientalischen Volkstums, so erscheint
das Werk doch als eins der drei oder höchstens vier Dutzend deutscher Dramen,
die die Bürgschaft einer über ihre Entstehungszeit bedeutend hinausgehenden
Dauer in sich tragen.

Die „Genoveva" steht nicht ganz auf der Höhe der „Judith," aber von
den deutschen Gestaltungen des Stoffs ist es doch wohl die bedeutendste, und
es ist fraglich, ob sie Ludwig übertroffen Hütte. Ludwig wollte aus dem Cha¬
rakter Golos, auf den er anfangs wie Hebbel und wohl nach Hebbel den Nach¬
druck legte, die Grübelei und dann die Passivität der Heldin wegschaffen;
damit hätte er aber den Charakter der Heldin einfach zerstört, wie denn über¬
haupt die bewegliche Phantasie Ludwigs den Gestalten der Volkssage wie der
Geschichte gegenüber viel weniger Pietät bewies als Hebbel (man vergleiche
die „Agnes Bernauer"). Die Idee der „Genoveva" ist: die in^die Welt ge-
tretne Schönheit und Reinheit reizt, als sie sich irdischer Liebe empfänglich
zeigt, das Begehren der frischen Jugend und führt sie nach und ---ach zu Ver¬
brechen und Untergang, muß aber dafür selbst einen langen Marterweg durch¬
machen. Auch die „Genoveva" hat die Vorzüge guter Charakteristik und ein¬
heitlichen Kolorits, aber ihr Bau ist nicht so gut wie der der „Judith," es
fehlt auch der fortreißende Zug. Einzelne Szenen hat man wiederholt mit zu
dem schönsten gerechnet, was in deutscher Sprache geschrieben worden sei.

Über die „Maria Magdalene" hat Ludwig geurteilt, mit zehn Zeilen hat
er das Werk abgethan. „Die »Maria Magdalene« Hebbels, in mancher Hin¬
sicht sehr lobenswert, leidet daran, daß die Kälte des rechnenden Dichters, dem
die Persönlichkeiten Zahlen waren, auf seine Personen überging." .Das ist
der Vorwurf, der Hebbel so oft, nicht bloß von Ludwig gemacht worden ist,
sicherlich nicht nur eine Ungerechtigkeit, sondern auch eine Verkehrtheit. Hebbel
selbst hat gesagt, daß Kunstwerke uicht errechnet werden, und man kann bei
ihm immer annehmen, daß s--me the.^, , .^u Aussprüche seiner Praxis ent¬
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[0383] Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig berufen, ihr Volk zu retten; sie vollbringt es, aber, menschlicher Natur gemäß, aus persönlichen oder doch mit aus persönlichen Beweggründen und vernichtet sich dadurch innerlich selbst. Es war jedoch nie Hebbels Weise, sogenannte Ideen- oder gar philosophische Dramen zu schreiben, er wußte, daß er volles Leben zu gestalten hatte, und es ist keine falsche Empfindung so vieler unsrer Litteraturgeschichtschreiber, wenn sie Hebbel und Ludwig als „Charakterdrama¬ tiker" zu unsern Klassikern und dem zu ihnen gehörigen Grillparzer in Gegensatz stellen; so ist auch die „Judith" ein Charakterdrama. Man mag die Heldin eine pathologische Figur nennen, man mag über den Holofernes spötteln, dem Eindruck dieser beiden Gestalten kann sich auch heute noch niemand ganz ent¬ ziehen; und nimmt man dazu die energische, an großartigen Situationen reiche Handlung, das „brennende" Kolorit des Dramas, die einzig zur Anschauung gebrachte Atmosphäre eines merkwürdigen orientalischen Volkstums, so erscheint das Werk doch als eins der drei oder höchstens vier Dutzend deutscher Dramen, die die Bürgschaft einer über ihre Entstehungszeit bedeutend hinausgehenden Dauer in sich tragen. Die „Genoveva" steht nicht ganz auf der Höhe der „Judith," aber von den deutschen Gestaltungen des Stoffs ist es doch wohl die bedeutendste, und es ist fraglich, ob sie Ludwig übertroffen Hütte. Ludwig wollte aus dem Cha¬ rakter Golos, auf den er anfangs wie Hebbel und wohl nach Hebbel den Nach¬ druck legte, die Grübelei und dann die Passivität der Heldin wegschaffen; damit hätte er aber den Charakter der Heldin einfach zerstört, wie denn über¬ haupt die bewegliche Phantasie Ludwigs den Gestalten der Volkssage wie der Geschichte gegenüber viel weniger Pietät bewies als Hebbel (man vergleiche die „Agnes Bernauer"). Die Idee der „Genoveva" ist: die in^die Welt ge- tretne Schönheit und Reinheit reizt, als sie sich irdischer Liebe empfänglich zeigt, das Begehren der frischen Jugend und führt sie nach und ---ach zu Ver¬ brechen und Untergang, muß aber dafür selbst einen langen Marterweg durch¬ machen. Auch die „Genoveva" hat die Vorzüge guter Charakteristik und ein¬ heitlichen Kolorits, aber ihr Bau ist nicht so gut wie der der „Judith," es fehlt auch der fortreißende Zug. Einzelne Szenen hat man wiederholt mit zu dem schönsten gerechnet, was in deutscher Sprache geschrieben worden sei. Über die „Maria Magdalene" hat Ludwig geurteilt, mit zehn Zeilen hat er das Werk abgethan. „Die »Maria Magdalene« Hebbels, in mancher Hin¬ sicht sehr lobenswert, leidet daran, daß die Kälte des rechnenden Dichters, dem die Persönlichkeiten Zahlen waren, auf seine Personen überging." .Das ist der Vorwurf, der Hebbel so oft, nicht bloß von Ludwig gemacht worden ist, sicherlich nicht nur eine Ungerechtigkeit, sondern auch eine Verkehrtheit. Hebbel selbst hat gesagt, daß Kunstwerke uicht errechnet werden, und man kann bei ihm immer annehmen, daß s--me the.^, , .^u Aussprüche seiner Praxis ent¬ stammen. Aber man sehe nur einmal d«" Personen der „Maria Magdalene"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/383>, abgerufen am 28.07.2024.