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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

entstammt, kein Dichter höhern Ranges vor ihm so unmittelbar zu rein dichte¬
rischen Zwecken verwendet hatte. So könnte man Ludwig den Vater des
modernen Realismus, ja des Naturalismus nennen, wenn seine Nachfolger
nicht leider die rein dichterischen Zwecke vielfach gänzlich aus den Augen ver¬
loren hätten.

Wir wollen nun an die einzelnen dramatischen Werke der beiden Dichter
gehen und ihre Bedeutung festzustellen versuchen. Dabei sollen uns die Kri¬
tiken Ludwigs über Hebbelsche Dramen leiten. Die "Judith" und die "Genoveva"
hat Ludwig nicht besprochen, aber er hat eine "Genoveva" geplant. Hebbel
selbst hat seine beiden Erstlingswerke als Kraft- und Talentproben bezeichnet,
aber sie sind unbedingt mehr, sie sind trotz ihres eigentümlichen Sturms und
Dranges doch reife Produkte, die alle das Drama Hebbels bezeichnenden Eigen¬
schaften aufweisen. Im Vordergrunde seines Schaffens, soweit es bewußt war,
stand ihm immer die Idee, die aus dem Werke selbst in voller Klarheit heraus¬
zutreten hatte, und alle Ideen Hebbels gehen darauf aus, "die Selbst¬
korrektur der Welt, die plötzliche und unvorhergesehene Entbindung des sitt¬
lichen Geistes," oder kürzer, das Notwendige als sittlich aufzuzeigen. Er er¬
reicht das auch meist, aber ein Vergnügen ist eine solche Hebbelsche Tragödie
nicht; unmittelbar aus dem doch notwendigen Jndividualisirungs-, Vereiuzelungs-
drang des Menschen, also beinahe aus seiner Existenz (denn Herdentiere sind
keine Menschen) entspringt die Schuld, und mag sie groß oder klein sein, die
sittliche Harmonie ist gestört, es entsteht eine Kette des Unheils, bis das das
Weltgesetz vertretende Rad des Schicksals den notwendigen Anstoß empfängt
und, den Meuscheu zermalmend, alles wieder ins gleiche bringt. Nun kann
aber der Dichter natürlich den Menschen nicht unmittelbar mit dem Weltgesetz,
das ja keine reale Macht ist, zusammenstoßen lassen, er setzt also, wie die
andern Dich c auch, zwei Menschen in ein Verhältnis zu einander, und dann
tritt als die Folge der Hebbelschen Grundanschauung hervor, daß beide Recht
haben, es entsteht ein unlösbarer Konflikt, an dem sie beide zu Grunde gehen,
wenn sie auch nicht immer gleich sterben. Hebbel kennt also die gewöhnliche
Versöhnung nicht, aber in der Selbstkvrrektur der Welt, in der unbedingten
Notwendigkeit, die bei ihm die Welt und ihr Abbild, das Drama, beherrscht,
liegt allerdings etwas Versöhnendes, wenn auch nicht für schwächliche Naturen.
Die Unerbittlichkeit Hebbels, die Schärfe und Feinheit im Ausgestalten seiner
Konflikte haben vor allem die Anerkennung seiner Werke, die bis ins einzelste
treu aufzufassen auch dem geübten Kunstverstande manchmal schwer fällt, soviel
Mächtiges und Packendes für die unmittelbare Empfindung sie andrerseits
wieder haben, oft verhindert; dennoch kann man sein Wort: "Wo Wunden
noch zu heilen sind, da hat die Tragödie nichts zu suchen," zur Schärfung
des ästhetischen Gewissens unj...>^./,,'Me> gmuy wiederholen. Die "Judith"
steht schon völlig unter' der tragis^en Grundidee Hebbels. Ein Weib wird


Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

entstammt, kein Dichter höhern Ranges vor ihm so unmittelbar zu rein dichte¬
rischen Zwecken verwendet hatte. So könnte man Ludwig den Vater des
modernen Realismus, ja des Naturalismus nennen, wenn seine Nachfolger
nicht leider die rein dichterischen Zwecke vielfach gänzlich aus den Augen ver¬
loren hätten.

Wir wollen nun an die einzelnen dramatischen Werke der beiden Dichter
gehen und ihre Bedeutung festzustellen versuchen. Dabei sollen uns die Kri¬
tiken Ludwigs über Hebbelsche Dramen leiten. Die „Judith" und die „Genoveva"
hat Ludwig nicht besprochen, aber er hat eine „Genoveva" geplant. Hebbel
selbst hat seine beiden Erstlingswerke als Kraft- und Talentproben bezeichnet,
aber sie sind unbedingt mehr, sie sind trotz ihres eigentümlichen Sturms und
Dranges doch reife Produkte, die alle das Drama Hebbels bezeichnenden Eigen¬
schaften aufweisen. Im Vordergrunde seines Schaffens, soweit es bewußt war,
stand ihm immer die Idee, die aus dem Werke selbst in voller Klarheit heraus¬
zutreten hatte, und alle Ideen Hebbels gehen darauf aus, „die Selbst¬
korrektur der Welt, die plötzliche und unvorhergesehene Entbindung des sitt¬
lichen Geistes," oder kürzer, das Notwendige als sittlich aufzuzeigen. Er er¬
reicht das auch meist, aber ein Vergnügen ist eine solche Hebbelsche Tragödie
nicht; unmittelbar aus dem doch notwendigen Jndividualisirungs-, Vereiuzelungs-
drang des Menschen, also beinahe aus seiner Existenz (denn Herdentiere sind
keine Menschen) entspringt die Schuld, und mag sie groß oder klein sein, die
sittliche Harmonie ist gestört, es entsteht eine Kette des Unheils, bis das das
Weltgesetz vertretende Rad des Schicksals den notwendigen Anstoß empfängt
und, den Meuscheu zermalmend, alles wieder ins gleiche bringt. Nun kann
aber der Dichter natürlich den Menschen nicht unmittelbar mit dem Weltgesetz,
das ja keine reale Macht ist, zusammenstoßen lassen, er setzt also, wie die
andern Dich c auch, zwei Menschen in ein Verhältnis zu einander, und dann
tritt als die Folge der Hebbelschen Grundanschauung hervor, daß beide Recht
haben, es entsteht ein unlösbarer Konflikt, an dem sie beide zu Grunde gehen,
wenn sie auch nicht immer gleich sterben. Hebbel kennt also die gewöhnliche
Versöhnung nicht, aber in der Selbstkvrrektur der Welt, in der unbedingten
Notwendigkeit, die bei ihm die Welt und ihr Abbild, das Drama, beherrscht,
liegt allerdings etwas Versöhnendes, wenn auch nicht für schwächliche Naturen.
Die Unerbittlichkeit Hebbels, die Schärfe und Feinheit im Ausgestalten seiner
Konflikte haben vor allem die Anerkennung seiner Werke, die bis ins einzelste
treu aufzufassen auch dem geübten Kunstverstande manchmal schwer fällt, soviel
Mächtiges und Packendes für die unmittelbare Empfindung sie andrerseits
wieder haben, oft verhindert; dennoch kann man sein Wort: „Wo Wunden
noch zu heilen sind, da hat die Tragödie nichts zu suchen," zur Schärfung
des ästhetischen Gewissens unj...>^./,,'Me> gmuy wiederholen. Die „Judith"
steht schon völlig unter' der tragis^en Grundidee Hebbels. Ein Weib wird


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[0382] Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig entstammt, kein Dichter höhern Ranges vor ihm so unmittelbar zu rein dichte¬ rischen Zwecken verwendet hatte. So könnte man Ludwig den Vater des modernen Realismus, ja des Naturalismus nennen, wenn seine Nachfolger nicht leider die rein dichterischen Zwecke vielfach gänzlich aus den Augen ver¬ loren hätten. Wir wollen nun an die einzelnen dramatischen Werke der beiden Dichter gehen und ihre Bedeutung festzustellen versuchen. Dabei sollen uns die Kri¬ tiken Ludwigs über Hebbelsche Dramen leiten. Die „Judith" und die „Genoveva" hat Ludwig nicht besprochen, aber er hat eine „Genoveva" geplant. Hebbel selbst hat seine beiden Erstlingswerke als Kraft- und Talentproben bezeichnet, aber sie sind unbedingt mehr, sie sind trotz ihres eigentümlichen Sturms und Dranges doch reife Produkte, die alle das Drama Hebbels bezeichnenden Eigen¬ schaften aufweisen. Im Vordergrunde seines Schaffens, soweit es bewußt war, stand ihm immer die Idee, die aus dem Werke selbst in voller Klarheit heraus¬ zutreten hatte, und alle Ideen Hebbels gehen darauf aus, „die Selbst¬ korrektur der Welt, die plötzliche und unvorhergesehene Entbindung des sitt¬ lichen Geistes," oder kürzer, das Notwendige als sittlich aufzuzeigen. Er er¬ reicht das auch meist, aber ein Vergnügen ist eine solche Hebbelsche Tragödie nicht; unmittelbar aus dem doch notwendigen Jndividualisirungs-, Vereiuzelungs- drang des Menschen, also beinahe aus seiner Existenz (denn Herdentiere sind keine Menschen) entspringt die Schuld, und mag sie groß oder klein sein, die sittliche Harmonie ist gestört, es entsteht eine Kette des Unheils, bis das das Weltgesetz vertretende Rad des Schicksals den notwendigen Anstoß empfängt und, den Meuscheu zermalmend, alles wieder ins gleiche bringt. Nun kann aber der Dichter natürlich den Menschen nicht unmittelbar mit dem Weltgesetz, das ja keine reale Macht ist, zusammenstoßen lassen, er setzt also, wie die andern Dich c auch, zwei Menschen in ein Verhältnis zu einander, und dann tritt als die Folge der Hebbelschen Grundanschauung hervor, daß beide Recht haben, es entsteht ein unlösbarer Konflikt, an dem sie beide zu Grunde gehen, wenn sie auch nicht immer gleich sterben. Hebbel kennt also die gewöhnliche Versöhnung nicht, aber in der Selbstkvrrektur der Welt, in der unbedingten Notwendigkeit, die bei ihm die Welt und ihr Abbild, das Drama, beherrscht, liegt allerdings etwas Versöhnendes, wenn auch nicht für schwächliche Naturen. Die Unerbittlichkeit Hebbels, die Schärfe und Feinheit im Ausgestalten seiner Konflikte haben vor allem die Anerkennung seiner Werke, die bis ins einzelste treu aufzufassen auch dem geübten Kunstverstande manchmal schwer fällt, soviel Mächtiges und Packendes für die unmittelbare Empfindung sie andrerseits wieder haben, oft verhindert; dennoch kann man sein Wort: „Wo Wunden noch zu heilen sind, da hat die Tragödie nichts zu suchen," zur Schärfung des ästhetischen Gewissens unj...>^./,,'Me> gmuy wiederholen. Die „Judith" steht schon völlig unter' der tragis^en Grundidee Hebbels. Ein Weib wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/382>, abgerufen am 28.07.2024.