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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

des Menschen eignes ist, während das Schicksal bei Hebbel mehr ein Ergebnis
der Zeit ist, in der seine Menschen leben, als das ihres eignen Thuns. Sie
leiden nicht, was ihre eigne Natur, sondern was die Denkart der Zeiten ihnen
auferlegt, die in ihnen handelt. In seiner Vorrede zu "Maria Magdalene"
wird das klar als seine Meinung vom Tragischen, in seinem Wort über das
Drama noch mehr. Nicht mehr die verschiednen Naturen, sondern die ver-
schiednen Denkarten werden in Konflikt zusammengebracht. Diese Maxime wird
gewiß dem Gehaltreichtum des Dramas förderlich, aber ebenso gewiß seiner
eigentlichen dramatischen Wirkung schädlich sein. Ein Charakter prägt sich
theatralischer und unmittelbarer aus als eine Denkart. Die Gesichtspunkte
sind hier die wahren Personen, die Figuren bloße Träger, bloße Figuranten.
Eigentliche Menschendarstellung würde hier nur nebenbei und von außen kommen,
während sie bei Shakespeare das Zentrum, der Zweck seines Schaffens sind."
Sicherlich ist in diesen Ausführungen eine gewisse Wahrheit, aber was Ludwig
tadelt -- von der Übertreibung, daß Hebbel bloße Figuranten gebe, abgesehen --,
ist vielleicht Hebbels Vorzug. Ludwig übersieht eben, daß wir heute die Men¬
schen anders sehen, als wie sie Shakespeare sah, daß wir die "eigne Natur"
nicht als etwas ein sür allemal Gesetztes betrachten, daß wir den Menschen
als Produkt seiner Zeit und seines Volks begreifen wollen, und daß uns daher
ein Dichter, der die Denkart der Zeiten, die aber selbstverständlich mehr ist als
alle Tagesmeinungen, ja als die sogenannte Weltanschauung, in seinen Men¬
schen wirklich verkörpert, viel näher steht als ein andrer, der in shakespearischer
Weise Leidenschaft und Schicksal in das naturnotwendige Verhältnis setzt. Die
eigentliche Menschendarstellung braucht bei der Hebbelschen Weise nicht Neben¬
sache zu werden; denn nur insofern die Denkart der Zeiten wirklich Fleisch
und Blut in einem Menschen geworden ist, hat sie natürlich ein Recht auf
Darstellung; nur das Schicksal der Menschen erscheint, wie Ludwig auch richtig
empfindet, in andrer Beleuchtung, die Schuld wird fast aufgehoben -- fast,
nicht ganz --, die Tragik aber wächst ins ungeheure, nicht nur sein eignes
Wesen, sein Dasein beinahe büßt der Mensch. Hebbels Drama, das ist kaum
zu bezweifeln, bezeichnet eine neue Entwicklungsstufe nicht bloß des deutschen
Dramas, sondern des Dramas überhaupt, er hat, wie sich I. Collin in dem
Aufsatze "Die Weltanschauung der Romantik und Friedrich Hebbel" (Grenz¬
boten 1894, Heft 5) ausdrückt, "aus dem griechischen Drama und dem Shake¬
speares ein Mittleres gewonnen und die einander widerstreitenden Anschauungen
der Klassiker und der Romantiker zu vereinigen gesucht," aber nicht auf dem
Wege des Experiments, sondern aus seiner Natur und der Denkart seiner Zeit,
die auch noch die unsrige ist. Ludwig ist als Dramatiker Shakespericmer, und
mit seinem besten Werke erreicht er annähernd die Wirkungen Shakespeares;
das Neue und Fortwirkende steckt bei ihm in der unvergleichlichen Sicherheit
und Frische bei der Gestaltung des Details, das, soweit es der Wirklichkeit


Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

des Menschen eignes ist, während das Schicksal bei Hebbel mehr ein Ergebnis
der Zeit ist, in der seine Menschen leben, als das ihres eignen Thuns. Sie
leiden nicht, was ihre eigne Natur, sondern was die Denkart der Zeiten ihnen
auferlegt, die in ihnen handelt. In seiner Vorrede zu »Maria Magdalene«
wird das klar als seine Meinung vom Tragischen, in seinem Wort über das
Drama noch mehr. Nicht mehr die verschiednen Naturen, sondern die ver-
schiednen Denkarten werden in Konflikt zusammengebracht. Diese Maxime wird
gewiß dem Gehaltreichtum des Dramas förderlich, aber ebenso gewiß seiner
eigentlichen dramatischen Wirkung schädlich sein. Ein Charakter prägt sich
theatralischer und unmittelbarer aus als eine Denkart. Die Gesichtspunkte
sind hier die wahren Personen, die Figuren bloße Träger, bloße Figuranten.
Eigentliche Menschendarstellung würde hier nur nebenbei und von außen kommen,
während sie bei Shakespeare das Zentrum, der Zweck seines Schaffens sind."
Sicherlich ist in diesen Ausführungen eine gewisse Wahrheit, aber was Ludwig
tadelt — von der Übertreibung, daß Hebbel bloße Figuranten gebe, abgesehen —,
ist vielleicht Hebbels Vorzug. Ludwig übersieht eben, daß wir heute die Men¬
schen anders sehen, als wie sie Shakespeare sah, daß wir die „eigne Natur"
nicht als etwas ein sür allemal Gesetztes betrachten, daß wir den Menschen
als Produkt seiner Zeit und seines Volks begreifen wollen, und daß uns daher
ein Dichter, der die Denkart der Zeiten, die aber selbstverständlich mehr ist als
alle Tagesmeinungen, ja als die sogenannte Weltanschauung, in seinen Men¬
schen wirklich verkörpert, viel näher steht als ein andrer, der in shakespearischer
Weise Leidenschaft und Schicksal in das naturnotwendige Verhältnis setzt. Die
eigentliche Menschendarstellung braucht bei der Hebbelschen Weise nicht Neben¬
sache zu werden; denn nur insofern die Denkart der Zeiten wirklich Fleisch
und Blut in einem Menschen geworden ist, hat sie natürlich ein Recht auf
Darstellung; nur das Schicksal der Menschen erscheint, wie Ludwig auch richtig
empfindet, in andrer Beleuchtung, die Schuld wird fast aufgehoben — fast,
nicht ganz —, die Tragik aber wächst ins ungeheure, nicht nur sein eignes
Wesen, sein Dasein beinahe büßt der Mensch. Hebbels Drama, das ist kaum
zu bezweifeln, bezeichnet eine neue Entwicklungsstufe nicht bloß des deutschen
Dramas, sondern des Dramas überhaupt, er hat, wie sich I. Collin in dem
Aufsatze „Die Weltanschauung der Romantik und Friedrich Hebbel" (Grenz¬
boten 1894, Heft 5) ausdrückt, „aus dem griechischen Drama und dem Shake¬
speares ein Mittleres gewonnen und die einander widerstreitenden Anschauungen
der Klassiker und der Romantiker zu vereinigen gesucht," aber nicht auf dem
Wege des Experiments, sondern aus seiner Natur und der Denkart seiner Zeit,
die auch noch die unsrige ist. Ludwig ist als Dramatiker Shakespericmer, und
mit seinem besten Werke erreicht er annähernd die Wirkungen Shakespeares;
das Neue und Fortwirkende steckt bei ihm in der unvergleichlichen Sicherheit
und Frische bei der Gestaltung des Details, das, soweit es der Wirklichkeit


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[0381] Friedrich Hebbel und Veto Ludwig des Menschen eignes ist, während das Schicksal bei Hebbel mehr ein Ergebnis der Zeit ist, in der seine Menschen leben, als das ihres eignen Thuns. Sie leiden nicht, was ihre eigne Natur, sondern was die Denkart der Zeiten ihnen auferlegt, die in ihnen handelt. In seiner Vorrede zu »Maria Magdalene« wird das klar als seine Meinung vom Tragischen, in seinem Wort über das Drama noch mehr. Nicht mehr die verschiednen Naturen, sondern die ver- schiednen Denkarten werden in Konflikt zusammengebracht. Diese Maxime wird gewiß dem Gehaltreichtum des Dramas förderlich, aber ebenso gewiß seiner eigentlichen dramatischen Wirkung schädlich sein. Ein Charakter prägt sich theatralischer und unmittelbarer aus als eine Denkart. Die Gesichtspunkte sind hier die wahren Personen, die Figuren bloße Träger, bloße Figuranten. Eigentliche Menschendarstellung würde hier nur nebenbei und von außen kommen, während sie bei Shakespeare das Zentrum, der Zweck seines Schaffens sind." Sicherlich ist in diesen Ausführungen eine gewisse Wahrheit, aber was Ludwig tadelt — von der Übertreibung, daß Hebbel bloße Figuranten gebe, abgesehen —, ist vielleicht Hebbels Vorzug. Ludwig übersieht eben, daß wir heute die Men¬ schen anders sehen, als wie sie Shakespeare sah, daß wir die „eigne Natur" nicht als etwas ein sür allemal Gesetztes betrachten, daß wir den Menschen als Produkt seiner Zeit und seines Volks begreifen wollen, und daß uns daher ein Dichter, der die Denkart der Zeiten, die aber selbstverständlich mehr ist als alle Tagesmeinungen, ja als die sogenannte Weltanschauung, in seinen Men¬ schen wirklich verkörpert, viel näher steht als ein andrer, der in shakespearischer Weise Leidenschaft und Schicksal in das naturnotwendige Verhältnis setzt. Die eigentliche Menschendarstellung braucht bei der Hebbelschen Weise nicht Neben¬ sache zu werden; denn nur insofern die Denkart der Zeiten wirklich Fleisch und Blut in einem Menschen geworden ist, hat sie natürlich ein Recht auf Darstellung; nur das Schicksal der Menschen erscheint, wie Ludwig auch richtig empfindet, in andrer Beleuchtung, die Schuld wird fast aufgehoben — fast, nicht ganz —, die Tragik aber wächst ins ungeheure, nicht nur sein eignes Wesen, sein Dasein beinahe büßt der Mensch. Hebbels Drama, das ist kaum zu bezweifeln, bezeichnet eine neue Entwicklungsstufe nicht bloß des deutschen Dramas, sondern des Dramas überhaupt, er hat, wie sich I. Collin in dem Aufsatze „Die Weltanschauung der Romantik und Friedrich Hebbel" (Grenz¬ boten 1894, Heft 5) ausdrückt, „aus dem griechischen Drama und dem Shake¬ speares ein Mittleres gewonnen und die einander widerstreitenden Anschauungen der Klassiker und der Romantiker zu vereinigen gesucht," aber nicht auf dem Wege des Experiments, sondern aus seiner Natur und der Denkart seiner Zeit, die auch noch die unsrige ist. Ludwig ist als Dramatiker Shakespericmer, und mit seinem besten Werke erreicht er annähernd die Wirkungen Shakespeares; das Neue und Fortwirkende steckt bei ihm in der unvergleichlichen Sicherheit und Frische bei der Gestaltung des Details, das, soweit es der Wirklichkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/381>, abgerufen am 28.07.2024.