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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller

lichen Teiles: "Möglichst vollständige Entwicklung aller Anlagen und Kräfte,
womit Gott den menschlichen Geist ausgerüstet hat, freies Streben nach immer
tieferer und hellerer Erkenntnis der Wahrheit sind das wesentliche Lebens-
element unsrer Kirche, deren echter Geist, als Geist der evangelischen Freiheit,
sich in der Protestation gegen allen blinden Glauben, gegen alle geistige Knecht¬
schaft, gegen jede äußere menschliche Autorität in Sachen des Glaubens und
des Gewissens ausspricht." Zu Feuerbachs großem Kummer wurde die Ab-
sendung der Vorstellung noch in letzter Stunde vereitelt -- hauptsächlich, wie
er den Freunden schreibt, durch den Unverstand der Geistlichen.

Gegen die Übergriffe der Geistlichen der eignen Kirche richtet sich noch
eine zweite Schrift aus derselben Zeit; gegen den Versuch nämlich, Presby-
terien mit der äußern Macht sittlicher Zucht über die Mitglieder der Kirche
zu errichten. Feuerbach fragt, ob sie denn ganz und gar vergessen Hütten, in
Luthers Schriften nachzulesen, dessen große Seele doch vor allem dafür ge¬
arbeitet habe, uns von der starren Werkheiligkeit zu befreien. Er bringt dann
aus Luthers Schriften eine erdrückende Fülle von Stellen herbei, die jenes
Verlangen als unevangelisch erweisen.

Seine ausführlichste Schrift über kirchliche Angelegenheiten betrifft "die
obersten Episkopalrechte der protestantischen Kirche." Auch diesmal waren es
Geistliche dieser Kirche, sogar geistliche Behörden, die mit der Behauptung auf¬
traten, der katholische Landesfürst sei zugleich in Person oberster Bischof der
seiner Staatshoheit untergebnen protestantischen Kirchen; er sei daher nicht
bloß zur persönlichen Ausübung der weltlichen Hoheitsrechte über die Kirche,
sondern auch der Kirchengewalt, selbst in Hinsicht auf die Gesetzgebung, ja
sogar bis zur Änderung der bestehenden Kirchenverfassung berechtigt. Und
das wurde so zuversichtlich ausgesprochen, als verstünde es sich von selber.

Hiergegen sagt Feuerbach in der Einleitung: "Jedem einigermaßen unter¬
richteten Mann galt bisher das gerade Gegenteil von jeuer Meinung als eine
ausgemachte Wahrheit, die in dem protestantischen wie in dem katholischen
Kirchenrechte, in der Natur der Sache wie in der Geschichte, in dem Neligions-
und Westfälischen Frieden wie in einer gleichförmigen Staatspraxis und in
den neuern und neuesten Staatsgrundgesetzcn unerschütterlich fest begründet
sei." Gleichwohl beweise jene Erscheinung, daß dieses alles, so notorisch es
sei, hin und wieder sogar solchen Protestanten, die das Recht und die
Geschichte ihrer Kirche zu wissen amtlich berufen sind, entweder noch nicht be¬
kannt oder urplötzlich wieder unbekannt geworden sei. "Nicht um auf einem schon
längst abgeernteten Feld frische Garben zu sammeln, sondern nur um bekannte
Dinge, ehe der Nebel der Zeit sie versteckt oder ihre wahre Gestalt verzerrt,
sehenden Augen vorzuzeigen, sind die folgenden Blätter geschrieben." "Alle
Politischen Zeitbetrachtungen, so nahe sie auch dem Gegenstande liegen, bleiben
von den folgenden Erörterungen ausgeschlossen, die sich kalt und ernst, wie es


Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller

lichen Teiles: „Möglichst vollständige Entwicklung aller Anlagen und Kräfte,
womit Gott den menschlichen Geist ausgerüstet hat, freies Streben nach immer
tieferer und hellerer Erkenntnis der Wahrheit sind das wesentliche Lebens-
element unsrer Kirche, deren echter Geist, als Geist der evangelischen Freiheit,
sich in der Protestation gegen allen blinden Glauben, gegen alle geistige Knecht¬
schaft, gegen jede äußere menschliche Autorität in Sachen des Glaubens und
des Gewissens ausspricht." Zu Feuerbachs großem Kummer wurde die Ab-
sendung der Vorstellung noch in letzter Stunde vereitelt — hauptsächlich, wie
er den Freunden schreibt, durch den Unverstand der Geistlichen.

Gegen die Übergriffe der Geistlichen der eignen Kirche richtet sich noch
eine zweite Schrift aus derselben Zeit; gegen den Versuch nämlich, Presby-
terien mit der äußern Macht sittlicher Zucht über die Mitglieder der Kirche
zu errichten. Feuerbach fragt, ob sie denn ganz und gar vergessen Hütten, in
Luthers Schriften nachzulesen, dessen große Seele doch vor allem dafür ge¬
arbeitet habe, uns von der starren Werkheiligkeit zu befreien. Er bringt dann
aus Luthers Schriften eine erdrückende Fülle von Stellen herbei, die jenes
Verlangen als unevangelisch erweisen.

Seine ausführlichste Schrift über kirchliche Angelegenheiten betrifft „die
obersten Episkopalrechte der protestantischen Kirche." Auch diesmal waren es
Geistliche dieser Kirche, sogar geistliche Behörden, die mit der Behauptung auf¬
traten, der katholische Landesfürst sei zugleich in Person oberster Bischof der
seiner Staatshoheit untergebnen protestantischen Kirchen; er sei daher nicht
bloß zur persönlichen Ausübung der weltlichen Hoheitsrechte über die Kirche,
sondern auch der Kirchengewalt, selbst in Hinsicht auf die Gesetzgebung, ja
sogar bis zur Änderung der bestehenden Kirchenverfassung berechtigt. Und
das wurde so zuversichtlich ausgesprochen, als verstünde es sich von selber.

Hiergegen sagt Feuerbach in der Einleitung: „Jedem einigermaßen unter¬
richteten Mann galt bisher das gerade Gegenteil von jeuer Meinung als eine
ausgemachte Wahrheit, die in dem protestantischen wie in dem katholischen
Kirchenrechte, in der Natur der Sache wie in der Geschichte, in dem Neligions-
und Westfälischen Frieden wie in einer gleichförmigen Staatspraxis und in
den neuern und neuesten Staatsgrundgesetzcn unerschütterlich fest begründet
sei." Gleichwohl beweise jene Erscheinung, daß dieses alles, so notorisch es
sei, hin und wieder sogar solchen Protestanten, die das Recht und die
Geschichte ihrer Kirche zu wissen amtlich berufen sind, entweder noch nicht be¬
kannt oder urplötzlich wieder unbekannt geworden sei. „Nicht um auf einem schon
längst abgeernteten Feld frische Garben zu sammeln, sondern nur um bekannte
Dinge, ehe der Nebel der Zeit sie versteckt oder ihre wahre Gestalt verzerrt,
sehenden Augen vorzuzeigen, sind die folgenden Blätter geschrieben." „Alle
Politischen Zeitbetrachtungen, so nahe sie auch dem Gegenstande liegen, bleiben
von den folgenden Erörterungen ausgeschlossen, die sich kalt und ernst, wie es


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[0376] Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller lichen Teiles: „Möglichst vollständige Entwicklung aller Anlagen und Kräfte, womit Gott den menschlichen Geist ausgerüstet hat, freies Streben nach immer tieferer und hellerer Erkenntnis der Wahrheit sind das wesentliche Lebens- element unsrer Kirche, deren echter Geist, als Geist der evangelischen Freiheit, sich in der Protestation gegen allen blinden Glauben, gegen alle geistige Knecht¬ schaft, gegen jede äußere menschliche Autorität in Sachen des Glaubens und des Gewissens ausspricht." Zu Feuerbachs großem Kummer wurde die Ab- sendung der Vorstellung noch in letzter Stunde vereitelt — hauptsächlich, wie er den Freunden schreibt, durch den Unverstand der Geistlichen. Gegen die Übergriffe der Geistlichen der eignen Kirche richtet sich noch eine zweite Schrift aus derselben Zeit; gegen den Versuch nämlich, Presby- terien mit der äußern Macht sittlicher Zucht über die Mitglieder der Kirche zu errichten. Feuerbach fragt, ob sie denn ganz und gar vergessen Hütten, in Luthers Schriften nachzulesen, dessen große Seele doch vor allem dafür ge¬ arbeitet habe, uns von der starren Werkheiligkeit zu befreien. Er bringt dann aus Luthers Schriften eine erdrückende Fülle von Stellen herbei, die jenes Verlangen als unevangelisch erweisen. Seine ausführlichste Schrift über kirchliche Angelegenheiten betrifft „die obersten Episkopalrechte der protestantischen Kirche." Auch diesmal waren es Geistliche dieser Kirche, sogar geistliche Behörden, die mit der Behauptung auf¬ traten, der katholische Landesfürst sei zugleich in Person oberster Bischof der seiner Staatshoheit untergebnen protestantischen Kirchen; er sei daher nicht bloß zur persönlichen Ausübung der weltlichen Hoheitsrechte über die Kirche, sondern auch der Kirchengewalt, selbst in Hinsicht auf die Gesetzgebung, ja sogar bis zur Änderung der bestehenden Kirchenverfassung berechtigt. Und das wurde so zuversichtlich ausgesprochen, als verstünde es sich von selber. Hiergegen sagt Feuerbach in der Einleitung: „Jedem einigermaßen unter¬ richteten Mann galt bisher das gerade Gegenteil von jeuer Meinung als eine ausgemachte Wahrheit, die in dem protestantischen wie in dem katholischen Kirchenrechte, in der Natur der Sache wie in der Geschichte, in dem Neligions- und Westfälischen Frieden wie in einer gleichförmigen Staatspraxis und in den neuern und neuesten Staatsgrundgesetzcn unerschütterlich fest begründet sei." Gleichwohl beweise jene Erscheinung, daß dieses alles, so notorisch es sei, hin und wieder sogar solchen Protestanten, die das Recht und die Geschichte ihrer Kirche zu wissen amtlich berufen sind, entweder noch nicht be¬ kannt oder urplötzlich wieder unbekannt geworden sei. „Nicht um auf einem schon längst abgeernteten Feld frische Garben zu sammeln, sondern nur um bekannte Dinge, ehe der Nebel der Zeit sie versteckt oder ihre wahre Gestalt verzerrt, sehenden Augen vorzuzeigen, sind die folgenden Blätter geschrieben." „Alle Politischen Zeitbetrachtungen, so nahe sie auch dem Gegenstande liegen, bleiben von den folgenden Erörterungen ausgeschlossen, die sich kalt und ernst, wie es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/376>, abgerufen am 28.07.2024.