Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller

"Das neueste, was sich jetzt vor unsern Blicken entfaltet, ist das ersehnte
Wiedererscheinen eines neuen Tages nach einer langen ängstlichen Nacht, das
Wiederaufleben der Selbständigkeit der Völker nach langer, entwürdigender
Unterdrückung, der große Kampf der vereinten europäischen Welt um Freiheit
und Gerechtigkeit. Der gewaltige Knoten ist geschürzt, dessen Entwicklung und
Ende kommenden Geschlechtern aufbehalten ist." Aber, fährt er fort, nicht wie
der Pöbel gedankenlos zu staunen, ziemt dem edlern Geiste. "Er weiß und
fühlt, daß der Mensch, wo es der Menschheit gilt, nicht bloß zum Schauen,
sondern zum Handeln gerufen ist. Einst werden die kommenden Geschlechter
fragen und richten, wer von uns würdig gewesen, in einer solchen Zeit zu
leben. Wer seinen Nachkommen die Schuld bezahlen will, die sie von seinem
Leben fordern, muß vor allem die Ausgabe verstehen, die er lösen soll."

Der Mann soll seine Zeit und ihre Ansprüche begreifen lernen. In Zeiten
großer Umwälzungen läßt er sich aber nur zu leicht durch mächtige Leiden¬
schaften verblenden; statt auf das Ganze zu sehen, sucht er den eignen Vor¬
teil. Durch dieses Verkennen des Geistes der Zeit ist das schwerste Unheil
über Menschen und Staaten gebracht worden. Auch die Lehren der Geschichte
werden selten beachtet. Sonst hätte Napoleon nicht nach der unmöglichen
Weltherrschaft streben, hätten andrerseits die bedrohten Staaten nicht unthätig
zusehen dürfen, wie einer nach dem andern unterjocht wurde. Dann folgt eine
beredte Schilderung des Jammers, den der Eroberer über Europa gebracht
hatte. Und dieses alles, fragt er, durch einen Einzigen, um dieses Einzigen
willen? Nicht doch, lautet die Antwort; er war nur ein Werkzeug in einer
höhern Hand. "Was er für sein beschränktes Selbst nur wollte, das voll¬
brachte er, ihm selber unbewußt, zu großen, erhabnen Zwecken, die sein Geist
nicht ahnte, sein Übermut verschmähte. Während er Verderben säete, gingen
Saaten aus den mit Blut gedüngten Feldern auf, die Blüten und Früchte
verheißen, die ohne ihn nimmer gediehen wären. Dem kranken, durch sein
Greisenalter schwach gewordnen Europa baute er den Scheiterhaufen, ohne zu
ahnen, daß die Glut den alten Phönix verjünge und dieser zu neuem Leben
kräftig schön aus seiner eignen Asche sich erhebe. Mit dem Streite kommt die
Kraft, mit den Gefahren der Mut, und wie in der Natur aus dem Tode selbst
das Leben sich entwickelt, so wird oft den Völkern die Stunde der Erniedri¬
gung zum großen Auferstehungstage der Freiheit und des Ruhms____ Die
Vorsehung braucht die Eroberer eben dazu, wozu die Natur der Stürme, der
Ungewitter, der Erdbeben und selbst der Pestilenzen bedarf, nämlich die
Menschheit zu reinigen und zu erfrische", durch neue Lebenskräfte zu verjüngen
und zu stärken."

Es folgt nun eine Schilderung des gealterten Deutschlands, dessen Völkern
nichts mehr übrig war als der gemeinschaftliche Name, die gemeinsame Sprache
und die Mumie einer schon längst entseelten Gesamtverfassung. Hier nur einige


Grenzboten III 1395 46
Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller

„Das neueste, was sich jetzt vor unsern Blicken entfaltet, ist das ersehnte
Wiedererscheinen eines neuen Tages nach einer langen ängstlichen Nacht, das
Wiederaufleben der Selbständigkeit der Völker nach langer, entwürdigender
Unterdrückung, der große Kampf der vereinten europäischen Welt um Freiheit
und Gerechtigkeit. Der gewaltige Knoten ist geschürzt, dessen Entwicklung und
Ende kommenden Geschlechtern aufbehalten ist." Aber, fährt er fort, nicht wie
der Pöbel gedankenlos zu staunen, ziemt dem edlern Geiste. „Er weiß und
fühlt, daß der Mensch, wo es der Menschheit gilt, nicht bloß zum Schauen,
sondern zum Handeln gerufen ist. Einst werden die kommenden Geschlechter
fragen und richten, wer von uns würdig gewesen, in einer solchen Zeit zu
leben. Wer seinen Nachkommen die Schuld bezahlen will, die sie von seinem
Leben fordern, muß vor allem die Ausgabe verstehen, die er lösen soll."

Der Mann soll seine Zeit und ihre Ansprüche begreifen lernen. In Zeiten
großer Umwälzungen läßt er sich aber nur zu leicht durch mächtige Leiden¬
schaften verblenden; statt auf das Ganze zu sehen, sucht er den eignen Vor¬
teil. Durch dieses Verkennen des Geistes der Zeit ist das schwerste Unheil
über Menschen und Staaten gebracht worden. Auch die Lehren der Geschichte
werden selten beachtet. Sonst hätte Napoleon nicht nach der unmöglichen
Weltherrschaft streben, hätten andrerseits die bedrohten Staaten nicht unthätig
zusehen dürfen, wie einer nach dem andern unterjocht wurde. Dann folgt eine
beredte Schilderung des Jammers, den der Eroberer über Europa gebracht
hatte. Und dieses alles, fragt er, durch einen Einzigen, um dieses Einzigen
willen? Nicht doch, lautet die Antwort; er war nur ein Werkzeug in einer
höhern Hand. „Was er für sein beschränktes Selbst nur wollte, das voll¬
brachte er, ihm selber unbewußt, zu großen, erhabnen Zwecken, die sein Geist
nicht ahnte, sein Übermut verschmähte. Während er Verderben säete, gingen
Saaten aus den mit Blut gedüngten Feldern auf, die Blüten und Früchte
verheißen, die ohne ihn nimmer gediehen wären. Dem kranken, durch sein
Greisenalter schwach gewordnen Europa baute er den Scheiterhaufen, ohne zu
ahnen, daß die Glut den alten Phönix verjünge und dieser zu neuem Leben
kräftig schön aus seiner eignen Asche sich erhebe. Mit dem Streite kommt die
Kraft, mit den Gefahren der Mut, und wie in der Natur aus dem Tode selbst
das Leben sich entwickelt, so wird oft den Völkern die Stunde der Erniedri¬
gung zum großen Auferstehungstage der Freiheit und des Ruhms____ Die
Vorsehung braucht die Eroberer eben dazu, wozu die Natur der Stürme, der
Ungewitter, der Erdbeben und selbst der Pestilenzen bedarf, nämlich die
Menschheit zu reinigen und zu erfrische«, durch neue Lebenskräfte zu verjüngen
und zu stärken."

Es folgt nun eine Schilderung des gealterten Deutschlands, dessen Völkern
nichts mehr übrig war als der gemeinschaftliche Name, die gemeinsame Sprache
und die Mumie einer schon längst entseelten Gesamtverfassung. Hier nur einige


Grenzboten III 1395 46
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0369" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220695"/>
          <fw type="header" place="top"> Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1565"> &#x201E;Das neueste, was sich jetzt vor unsern Blicken entfaltet, ist das ersehnte<lb/>
Wiedererscheinen eines neuen Tages nach einer langen ängstlichen Nacht, das<lb/>
Wiederaufleben der Selbständigkeit der Völker nach langer, entwürdigender<lb/>
Unterdrückung, der große Kampf der vereinten europäischen Welt um Freiheit<lb/>
und Gerechtigkeit. Der gewaltige Knoten ist geschürzt, dessen Entwicklung und<lb/>
Ende kommenden Geschlechtern aufbehalten ist." Aber, fährt er fort, nicht wie<lb/>
der Pöbel gedankenlos zu staunen, ziemt dem edlern Geiste. &#x201E;Er weiß und<lb/>
fühlt, daß der Mensch, wo es der Menschheit gilt, nicht bloß zum Schauen,<lb/>
sondern zum Handeln gerufen ist. Einst werden die kommenden Geschlechter<lb/>
fragen und richten, wer von uns würdig gewesen, in einer solchen Zeit zu<lb/>
leben. Wer seinen Nachkommen die Schuld bezahlen will, die sie von seinem<lb/>
Leben fordern, muß vor allem die Ausgabe verstehen, die er lösen soll."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1566"> Der Mann soll seine Zeit und ihre Ansprüche begreifen lernen. In Zeiten<lb/>
großer Umwälzungen läßt er sich aber nur zu leicht durch mächtige Leiden¬<lb/>
schaften verblenden; statt auf das Ganze zu sehen, sucht er den eignen Vor¬<lb/>
teil. Durch dieses Verkennen des Geistes der Zeit ist das schwerste Unheil<lb/>
über Menschen und Staaten gebracht worden. Auch die Lehren der Geschichte<lb/>
werden selten beachtet. Sonst hätte Napoleon nicht nach der unmöglichen<lb/>
Weltherrschaft streben, hätten andrerseits die bedrohten Staaten nicht unthätig<lb/>
zusehen dürfen, wie einer nach dem andern unterjocht wurde. Dann folgt eine<lb/>
beredte Schilderung des Jammers, den der Eroberer über Europa gebracht<lb/>
hatte. Und dieses alles, fragt er, durch einen Einzigen, um dieses Einzigen<lb/>
willen? Nicht doch, lautet die Antwort; er war nur ein Werkzeug in einer<lb/>
höhern Hand. &#x201E;Was er für sein beschränktes Selbst nur wollte, das voll¬<lb/>
brachte er, ihm selber unbewußt, zu großen, erhabnen Zwecken, die sein Geist<lb/>
nicht ahnte, sein Übermut verschmähte. Während er Verderben säete, gingen<lb/>
Saaten aus den mit Blut gedüngten Feldern auf, die Blüten und Früchte<lb/>
verheißen, die ohne ihn nimmer gediehen wären. Dem kranken, durch sein<lb/>
Greisenalter schwach gewordnen Europa baute er den Scheiterhaufen, ohne zu<lb/>
ahnen, daß die Glut den alten Phönix verjünge und dieser zu neuem Leben<lb/>
kräftig schön aus seiner eignen Asche sich erhebe. Mit dem Streite kommt die<lb/>
Kraft, mit den Gefahren der Mut, und wie in der Natur aus dem Tode selbst<lb/>
das Leben sich entwickelt, so wird oft den Völkern die Stunde der Erniedri¬<lb/>
gung zum großen Auferstehungstage der Freiheit und des Ruhms____ Die<lb/>
Vorsehung braucht die Eroberer eben dazu, wozu die Natur der Stürme, der<lb/>
Ungewitter, der Erdbeben und selbst der Pestilenzen bedarf, nämlich die<lb/>
Menschheit zu reinigen und zu erfrische«, durch neue Lebenskräfte zu verjüngen<lb/>
und zu stärken."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1567" next="#ID_1568"> Es folgt nun eine Schilderung des gealterten Deutschlands, dessen Völkern<lb/>
nichts mehr übrig war als der gemeinschaftliche Name, die gemeinsame Sprache<lb/>
und die Mumie einer schon längst entseelten Gesamtverfassung. Hier nur einige</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1395 46</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0369] Anselm von Feuerbach als politischer Schriftsteller „Das neueste, was sich jetzt vor unsern Blicken entfaltet, ist das ersehnte Wiedererscheinen eines neuen Tages nach einer langen ängstlichen Nacht, das Wiederaufleben der Selbständigkeit der Völker nach langer, entwürdigender Unterdrückung, der große Kampf der vereinten europäischen Welt um Freiheit und Gerechtigkeit. Der gewaltige Knoten ist geschürzt, dessen Entwicklung und Ende kommenden Geschlechtern aufbehalten ist." Aber, fährt er fort, nicht wie der Pöbel gedankenlos zu staunen, ziemt dem edlern Geiste. „Er weiß und fühlt, daß der Mensch, wo es der Menschheit gilt, nicht bloß zum Schauen, sondern zum Handeln gerufen ist. Einst werden die kommenden Geschlechter fragen und richten, wer von uns würdig gewesen, in einer solchen Zeit zu leben. Wer seinen Nachkommen die Schuld bezahlen will, die sie von seinem Leben fordern, muß vor allem die Ausgabe verstehen, die er lösen soll." Der Mann soll seine Zeit und ihre Ansprüche begreifen lernen. In Zeiten großer Umwälzungen läßt er sich aber nur zu leicht durch mächtige Leiden¬ schaften verblenden; statt auf das Ganze zu sehen, sucht er den eignen Vor¬ teil. Durch dieses Verkennen des Geistes der Zeit ist das schwerste Unheil über Menschen und Staaten gebracht worden. Auch die Lehren der Geschichte werden selten beachtet. Sonst hätte Napoleon nicht nach der unmöglichen Weltherrschaft streben, hätten andrerseits die bedrohten Staaten nicht unthätig zusehen dürfen, wie einer nach dem andern unterjocht wurde. Dann folgt eine beredte Schilderung des Jammers, den der Eroberer über Europa gebracht hatte. Und dieses alles, fragt er, durch einen Einzigen, um dieses Einzigen willen? Nicht doch, lautet die Antwort; er war nur ein Werkzeug in einer höhern Hand. „Was er für sein beschränktes Selbst nur wollte, das voll¬ brachte er, ihm selber unbewußt, zu großen, erhabnen Zwecken, die sein Geist nicht ahnte, sein Übermut verschmähte. Während er Verderben säete, gingen Saaten aus den mit Blut gedüngten Feldern auf, die Blüten und Früchte verheißen, die ohne ihn nimmer gediehen wären. Dem kranken, durch sein Greisenalter schwach gewordnen Europa baute er den Scheiterhaufen, ohne zu ahnen, daß die Glut den alten Phönix verjünge und dieser zu neuem Leben kräftig schön aus seiner eignen Asche sich erhebe. Mit dem Streite kommt die Kraft, mit den Gefahren der Mut, und wie in der Natur aus dem Tode selbst das Leben sich entwickelt, so wird oft den Völkern die Stunde der Erniedri¬ gung zum großen Auferstehungstage der Freiheit und des Ruhms____ Die Vorsehung braucht die Eroberer eben dazu, wozu die Natur der Stürme, der Ungewitter, der Erdbeben und selbst der Pestilenzen bedarf, nämlich die Menschheit zu reinigen und zu erfrische«, durch neue Lebenskräfte zu verjüngen und zu stärken." Es folgt nun eine Schilderung des gealterten Deutschlands, dessen Völkern nichts mehr übrig war als der gemeinschaftliche Name, die gemeinsame Sprache und die Mumie einer schon längst entseelten Gesamtverfassung. Hier nur einige Grenzboten III 1395 46

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/369
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/369>, abgerufen am 28.07.2024.