Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.Die Genossenschaft Pan und die allermodernste Kunst sie an sich ästhetisch irgendwie bedenklich wäre. Nur einseitiger Fanatismus Über seine "Kassandra" enthalte ich mich, ehe ich das Original gesehen Grenzboten III 1895 29
Die Genossenschaft Pan und die allermodernste Kunst sie an sich ästhetisch irgendwie bedenklich wäre. Nur einseitiger Fanatismus Über seine „Kassandra" enthalte ich mich, ehe ich das Original gesehen Grenzboten III 1895 29
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0233" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220559"/> <fw type="header" place="top"> Die Genossenschaft Pan und die allermodernste Kunst</fw><lb/> <p xml:id="ID_955" prev="#ID_954"> sie an sich ästhetisch irgendwie bedenklich wäre. Nur einseitiger Fanatismus<lb/> wird behaupten, daß die einfache und nüchterne Nachahmung der Nntur die<lb/> einzige berechtigte Richtung in der bildenden Kunst sei. Phantastische Steige¬<lb/> rung der Natur zum Zweck einer Stimmungserzengung, Benutzung der<lb/> Kunst zum Ausdruck tieser Gedanken sind an sich durchaus berechtigt und auch<lb/> von vielen großen Künstlern gepflegt worden. Aber da nun einmal die Ma¬<lb/> lerei ihre Gedanken nicht anders als mit den realen Erscheinungsformen der<lb/> Welt ausdrücken kaun, wird sie in gesunden Kunstzeiten immer den Zusammen¬<lb/> hang mit der Natur aufs engste festhalten. So hat z. B. Dürer seine apo¬<lb/> kalyptischen Reiter trotz ihres phantastischen Stimmungsgehalts als knochige,<lb/> realistische Gestalten im Kostüm seiner Zeit gebildet, so hat Michelangelo bei<lb/> seinen Deckenfiguren an der sixtinischen Kapelle vor allen Dingen lebendige<lb/> Jllusionswirkung, frappanten Lebensausdruck, richtige anatomische Zeichnung<lb/> u. s. w. angestrebt. Gerade diese Verbindung des Realistischen mit dem Phan¬<lb/> tastischen ist es offenbar, was den eigentümlichen Reiz dieser großen Schöpfungen<lb/> ausmacht. Vor allen Dingen ist bei den klassischen Künstlern niemals von<lb/> Unklarheit des Inhalts die Rede. Die etwaigen Unklarheiten, die wir zuweilen<lb/> bei ihnen finden, beruhen zum großen Teil nur darauf, daß wir nicht genügend<lb/> in den Gedankenkreis ihrer Zeit eingedrungen sind. Sie arbeiteten meistens<lb/> mit hergebrachten, dein Publikum ihrer Zeit geläufigen Anschauungen selbst<lb/> bei den scheinbar gedankenreichsten Blättern Dürers läßt sich nachweisen, daß<lb/> sie ihre Quelle in den allgemeinen scholastischen Bildungsinteressen des sech¬<lb/> zehnten Jahrhunderts hatte» —, sie wollten kein Rätsel aufgeben, sondern die<lb/> gewohnten und allen geläufigen Gedanken mit der Kraft der künstlerischen<lb/> Illusion vor Augen führen. Wußten sie doch sehr wohl, daß ein Zwang des<lb/> Beschauers, über den Inhalt eines Kunstwerks nachzugrübeln, den Kern des<lb/> künstlerischen Genusses, d. h. das Hineinfühlen in die vom Künstler gewollte<lb/> sinnliche Vorstellung, erschwert, wenn nicht geradezu unmöglich macht. Unsre<lb/> heutigen Symbolisten dagegen wollen Rätsel aufgeben und vernachlässigen nicht<lb/> selten in der überstarken Vetonuug des symbolisch-phantastischen Inhalts den<lb/> Zusammenhang mit der Natur. Das gilt auch von Max Klinger, dem größten<lb/> unter ihnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_956" next="#ID_957"> Über seine „Kassandra" enthalte ich mich, ehe ich das Original gesehen<lb/> habe, des Urteils. Der Beifall, den die Abbildung gefunden hat, ist, wie ich<lb/> glaube, auf Rechnung des klassisch schönen Kopfs zu setzen. Es würde aber<lb/> darauf ankommen, durch Autopsie festzustellen, ob dieser Kopf auch denselben<lb/> faseinirenden Eindruck innern Lebens macht, wie z. V. der seiner Salome, und<lb/> ob der Gesichtsausdruck ebenso wie das eigentümliche Handmotiv dem Charakter<lb/> der unglückverkündenden Seherin besser entspricht als der Ausdruck der Salome<lb/> dem Inhalte dieses Werkes, das doch keine Salome, sondern eine Allegorie<lb/> ist. Daß in Klinger einer der ersten Bildhauer unsrer Zeit steckt, ist mir nicht</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1895 29</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0233]
Die Genossenschaft Pan und die allermodernste Kunst
sie an sich ästhetisch irgendwie bedenklich wäre. Nur einseitiger Fanatismus
wird behaupten, daß die einfache und nüchterne Nachahmung der Nntur die
einzige berechtigte Richtung in der bildenden Kunst sei. Phantastische Steige¬
rung der Natur zum Zweck einer Stimmungserzengung, Benutzung der
Kunst zum Ausdruck tieser Gedanken sind an sich durchaus berechtigt und auch
von vielen großen Künstlern gepflegt worden. Aber da nun einmal die Ma¬
lerei ihre Gedanken nicht anders als mit den realen Erscheinungsformen der
Welt ausdrücken kaun, wird sie in gesunden Kunstzeiten immer den Zusammen¬
hang mit der Natur aufs engste festhalten. So hat z. B. Dürer seine apo¬
kalyptischen Reiter trotz ihres phantastischen Stimmungsgehalts als knochige,
realistische Gestalten im Kostüm seiner Zeit gebildet, so hat Michelangelo bei
seinen Deckenfiguren an der sixtinischen Kapelle vor allen Dingen lebendige
Jllusionswirkung, frappanten Lebensausdruck, richtige anatomische Zeichnung
u. s. w. angestrebt. Gerade diese Verbindung des Realistischen mit dem Phan¬
tastischen ist es offenbar, was den eigentümlichen Reiz dieser großen Schöpfungen
ausmacht. Vor allen Dingen ist bei den klassischen Künstlern niemals von
Unklarheit des Inhalts die Rede. Die etwaigen Unklarheiten, die wir zuweilen
bei ihnen finden, beruhen zum großen Teil nur darauf, daß wir nicht genügend
in den Gedankenkreis ihrer Zeit eingedrungen sind. Sie arbeiteten meistens
mit hergebrachten, dein Publikum ihrer Zeit geläufigen Anschauungen selbst
bei den scheinbar gedankenreichsten Blättern Dürers läßt sich nachweisen, daß
sie ihre Quelle in den allgemeinen scholastischen Bildungsinteressen des sech¬
zehnten Jahrhunderts hatte» —, sie wollten kein Rätsel aufgeben, sondern die
gewohnten und allen geläufigen Gedanken mit der Kraft der künstlerischen
Illusion vor Augen führen. Wußten sie doch sehr wohl, daß ein Zwang des
Beschauers, über den Inhalt eines Kunstwerks nachzugrübeln, den Kern des
künstlerischen Genusses, d. h. das Hineinfühlen in die vom Künstler gewollte
sinnliche Vorstellung, erschwert, wenn nicht geradezu unmöglich macht. Unsre
heutigen Symbolisten dagegen wollen Rätsel aufgeben und vernachlässigen nicht
selten in der überstarken Vetonuug des symbolisch-phantastischen Inhalts den
Zusammenhang mit der Natur. Das gilt auch von Max Klinger, dem größten
unter ihnen.
Über seine „Kassandra" enthalte ich mich, ehe ich das Original gesehen
habe, des Urteils. Der Beifall, den die Abbildung gefunden hat, ist, wie ich
glaube, auf Rechnung des klassisch schönen Kopfs zu setzen. Es würde aber
darauf ankommen, durch Autopsie festzustellen, ob dieser Kopf auch denselben
faseinirenden Eindruck innern Lebens macht, wie z. V. der seiner Salome, und
ob der Gesichtsausdruck ebenso wie das eigentümliche Handmotiv dem Charakter
der unglückverkündenden Seherin besser entspricht als der Ausdruck der Salome
dem Inhalte dieses Werkes, das doch keine Salome, sondern eine Allegorie
ist. Daß in Klinger einer der ersten Bildhauer unsrer Zeit steckt, ist mir nicht
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