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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

untergeordneten Funktionen desjenigen beschränkten Menschensinnes zu dienen,
den sein Dasein unter dem Joch anheimelt, und der seinen Lebensfunktionen
durch stolze Erhebung keinen Adel zu verleihen vermag. Auch auf die Liebe
bezieht sich dies; denn auch die Liebe eines Sklaven ist geartet wie er. Sie
kann nicht mit jener freien und stolzen Gesinnung verbunden sein, von der
auch die Kraft zur Treue herstammt. Sie duckt sich und bequemt sich in alle
Verhältnisse; sie greift nicht durch, sondern unterliegt dem leichtesten Druck
sozialer Ablenkungen."

Ob den Verfasser der "Größen der modernen Litteratur" je die Einsicht
angewandelt hat, daß Hunderttausende seine Überzeugung teilen können, daß
ein Dichter, der dem Kampf um Menfchenfreiheit und Menschenwohl ohne
positive Teilnahme gegenüberstünde, so gut wie kein Dichter sei und doch unter
Menschenfreiheit und Menschenwohl durchaus etwas andres verstehen müssen,
als er, wagen wir nicht zu entscheiden. Die Welt und die Wahrheit haben
jedenfalls nicht auf Dühring zu warten brauchen, um zu wissen: Und wenn
ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so
wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Aber jedenfalls läßt
er kaum eiuen andern Kampf gelten, als den, um deswillen er unter andern
Jean Paul Marat preist. Thaten wie den Sturz der Gironde haben natürlich
nur wenige Dichter und Schriftsteller aufzuweisen, und mit diesem Maßstabe
gemessen sind natürlich alle, die vor der Ausrottung ihrer Meinungsgegner
zurückschrecken, Sklaven. Die Leser, zu denen Dühring spricht, werden es in
seinem Sinne zu neunundneunzig Hundertsteln auch sein, und wenn sie sich
trotzdem an dem Radikalismus und dem ehernen Selbstgefühl dieser Darstellung
weiden, so beweisen sie damit nur, wie wenig ernst es ihnen um die Litteratur
ist. Die Widersprüche in gewissen einzelnen Darlegungen des Verfassers wären
leicht nachzuweisen. Wenn es den wunderlichen Ästhetiker unter anderm ver¬
langt, die Menschheit vom Alp der Tragik zu erlösen, wenn er überzeugt ist,
daß sich auf die Dauer das Gefühl gegen das gehäufte Unheil und die
zusammengedrängte Qualmasse empören müsse, daß die "unnatürliche Zusammen-
drüngung erschütternder Thatsachen" das Gefühl unmüßig angreife, so traut
man den eignen Augen nicht. Was will die Zerschmetterungstragik in "Othello,"
"König Lear" und "Maebeth" bedeuten gegen die Schreckensszenen, die sich
vor dem Pariser Revolutionstribunal, auf dem Gröveplatz, in Nantes, Lyon
und Avignon um 1793 und 1794 abspielten, und bei denen von keiner "auf
Unwahrheiten verfallenden Kunst" die Rede ist? Dühring macht es doch
Schiller gewaltig zum Vorwurf, daß er für die energischere Wendung der fran¬
zösischen Revolution kein Herz gehabt habe, und meint achselzuckend, daß so
etwas freilich von keinem Dichter habe erwartet werden können, der als Dra¬
matiker auch sür Hofbühnen zu arbeiten hatte. Jedenfalls rechnet er die "große
Revolution" nicht zu dem Teil der Geschichte neuerer Völker, der im Lichte der


Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

untergeordneten Funktionen desjenigen beschränkten Menschensinnes zu dienen,
den sein Dasein unter dem Joch anheimelt, und der seinen Lebensfunktionen
durch stolze Erhebung keinen Adel zu verleihen vermag. Auch auf die Liebe
bezieht sich dies; denn auch die Liebe eines Sklaven ist geartet wie er. Sie
kann nicht mit jener freien und stolzen Gesinnung verbunden sein, von der
auch die Kraft zur Treue herstammt. Sie duckt sich und bequemt sich in alle
Verhältnisse; sie greift nicht durch, sondern unterliegt dem leichtesten Druck
sozialer Ablenkungen."

Ob den Verfasser der „Größen der modernen Litteratur" je die Einsicht
angewandelt hat, daß Hunderttausende seine Überzeugung teilen können, daß
ein Dichter, der dem Kampf um Menfchenfreiheit und Menschenwohl ohne
positive Teilnahme gegenüberstünde, so gut wie kein Dichter sei und doch unter
Menschenfreiheit und Menschenwohl durchaus etwas andres verstehen müssen,
als er, wagen wir nicht zu entscheiden. Die Welt und die Wahrheit haben
jedenfalls nicht auf Dühring zu warten brauchen, um zu wissen: Und wenn
ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so
wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Aber jedenfalls läßt
er kaum eiuen andern Kampf gelten, als den, um deswillen er unter andern
Jean Paul Marat preist. Thaten wie den Sturz der Gironde haben natürlich
nur wenige Dichter und Schriftsteller aufzuweisen, und mit diesem Maßstabe
gemessen sind natürlich alle, die vor der Ausrottung ihrer Meinungsgegner
zurückschrecken, Sklaven. Die Leser, zu denen Dühring spricht, werden es in
seinem Sinne zu neunundneunzig Hundertsteln auch sein, und wenn sie sich
trotzdem an dem Radikalismus und dem ehernen Selbstgefühl dieser Darstellung
weiden, so beweisen sie damit nur, wie wenig ernst es ihnen um die Litteratur
ist. Die Widersprüche in gewissen einzelnen Darlegungen des Verfassers wären
leicht nachzuweisen. Wenn es den wunderlichen Ästhetiker unter anderm ver¬
langt, die Menschheit vom Alp der Tragik zu erlösen, wenn er überzeugt ist,
daß sich auf die Dauer das Gefühl gegen das gehäufte Unheil und die
zusammengedrängte Qualmasse empören müsse, daß die „unnatürliche Zusammen-
drüngung erschütternder Thatsachen" das Gefühl unmüßig angreife, so traut
man den eignen Augen nicht. Was will die Zerschmetterungstragik in „Othello,"
„König Lear" und „Maebeth" bedeuten gegen die Schreckensszenen, die sich
vor dem Pariser Revolutionstribunal, auf dem Gröveplatz, in Nantes, Lyon
und Avignon um 1793 und 1794 abspielten, und bei denen von keiner „auf
Unwahrheiten verfallenden Kunst" die Rede ist? Dühring macht es doch
Schiller gewaltig zum Vorwurf, daß er für die energischere Wendung der fran¬
zösischen Revolution kein Herz gehabt habe, und meint achselzuckend, daß so
etwas freilich von keinem Dichter habe erwartet werden können, der als Dra¬
matiker auch sür Hofbühnen zu arbeiten hatte. Jedenfalls rechnet er die „große
Revolution" nicht zu dem Teil der Geschichte neuerer Völker, der im Lichte der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/98>, abgerufen am 22.12.2024.