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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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treibenden Reiz verkennen wollte, der vom Dichtnngsgebiet her geläufig ist.
Warum also die Scheiubildcr von Entwicklungsreiz, die nur auf Kosten der
Wahrheit billig herzustellen find, mit ihrem frivolen Kitzel gewähren lassen?
Besser und edler ist es jedenfalls, das Bewußtsein über das Thatsächliche zu
erweitern und zu höherer Lebendigkeit zu steigern. Auf diese Weise fällt das
wahre poetische Licht auf die Wirklichkeit, und zwar auf das Beste in ihr.
Poesie in diesem Sinne, wenn wir überhaupt das Wort für diese höhere
Thätigkeit noch brauchen wollen, hat zu ihrem Beruf das thatsächlich Wahre
in seinen lebensvollen Zügen hervortreten und mit seinen edelsten Reizen auf
Bewußtsein und Gefühl wirken zu lassen,"

Es bedarf wohl keiner weitern Belege. Wenn wir Dühring recht ver¬
stehen, sollen Selbstbekenntnisse, Lebensläufe, Entwicklungsgeschichten, Schilde¬
rungen, Naturbilder, Völkercharaktere und Gesellschaftstypen, wissenschaftliche,
philosophische Darstellungen zu einer Kunst gesteigert werden, die zur Zeit noch
nicht besteht. "Sie wird sich aber entwickeln müssen, damit an die Stelle der
Dichtung etwas Volltommnercs trete." Möglicherweise hat Dühring bei der
Darstellungskunst, deren Gegenstand das "Thatsächliche in allen Richtungen"
werden soll, und bei der, selbst wenn "das Ideal zu dem irgend einmal mög¬
lichen vorzugreifen sucht," nur das ins Auge zu fassen ist, "was Thatsache
werden kann," eine Vorstellung von Gebilden, die es in der Litteratur der
abgelaufenen Jahrtausende überhaupt noch nicht giebt, von der er aber, gegen¬
über aller Poesie, zuversichtlich weissagt: "Der Reiz ist in diesem neuen Ge¬
biete ein gediegner, während er im bisherigen Dichtungsgebiet, welches doch
wesentlich ein Erdichtungsgebiet geblieben, mehr oder minder dem Scheine ge¬
golten hat und daher nicht nachhaltig sein konnte." Es ist auffallend, wie
stark sich Dühring, der die Schriftsteller des jungen Deutschlands aufs tiefste
verachtet, in Börne und Heine Karrikaturen von Größen, Würmer sieht, die an
dein Leichnam der Gesellschaft zehrten, den Prophezeiungen eben dieser Schrift¬
steller von der Ablösung der dichterischen Phantasie und Gestaltungskraft und
der Allmacht des Stils, der Prosa annähert. Freilich vergessen wirkeinen Augen¬
blick, wie gewaltig sich Dührings sittliche Strenge und trotzige Jsolirung vou
der Frivolität und dem Herdenhaften Scheinliberalismus Jungdeutschlands
unterscheidet. Aber in dem Hauptpunkt, in der Geringschätzung des poetischen,
des künstlerischen Talents und Lebensgehalts, trifft er doch mit den Jungdeutschen
zusammen. Die "feierlichen Esel" (wie der Italiener treffend sagt), an denen
Deutschland so reich ist, die den Ernst und die Würde ihrer historisch-wissen¬
schaftlichen Bestrebungen über die "leichte" Kunst setzen und dem armseligsten
Schulprogramm höhere Bedeutung beimessen als der reichsten Dichtung, mögen
trotzdem nicht meinen, daß der grimmige Bekämpfer der Poesie ihre Sache
führe. Denn Dühring verwahrt sich ausdrücklich gegen die Geschichte, die
Interesse für Erinnerungen sei, die dem Menschen auch nicht einmal so nahe


treibenden Reiz verkennen wollte, der vom Dichtnngsgebiet her geläufig ist.
Warum also die Scheiubildcr von Entwicklungsreiz, die nur auf Kosten der
Wahrheit billig herzustellen find, mit ihrem frivolen Kitzel gewähren lassen?
Besser und edler ist es jedenfalls, das Bewußtsein über das Thatsächliche zu
erweitern und zu höherer Lebendigkeit zu steigern. Auf diese Weise fällt das
wahre poetische Licht auf die Wirklichkeit, und zwar auf das Beste in ihr.
Poesie in diesem Sinne, wenn wir überhaupt das Wort für diese höhere
Thätigkeit noch brauchen wollen, hat zu ihrem Beruf das thatsächlich Wahre
in seinen lebensvollen Zügen hervortreten und mit seinen edelsten Reizen auf
Bewußtsein und Gefühl wirken zu lassen,"

Es bedarf wohl keiner weitern Belege. Wenn wir Dühring recht ver¬
stehen, sollen Selbstbekenntnisse, Lebensläufe, Entwicklungsgeschichten, Schilde¬
rungen, Naturbilder, Völkercharaktere und Gesellschaftstypen, wissenschaftliche,
philosophische Darstellungen zu einer Kunst gesteigert werden, die zur Zeit noch
nicht besteht. „Sie wird sich aber entwickeln müssen, damit an die Stelle der
Dichtung etwas Volltommnercs trete." Möglicherweise hat Dühring bei der
Darstellungskunst, deren Gegenstand das „Thatsächliche in allen Richtungen"
werden soll, und bei der, selbst wenn „das Ideal zu dem irgend einmal mög¬
lichen vorzugreifen sucht," nur das ins Auge zu fassen ist, „was Thatsache
werden kann," eine Vorstellung von Gebilden, die es in der Litteratur der
abgelaufenen Jahrtausende überhaupt noch nicht giebt, von der er aber, gegen¬
über aller Poesie, zuversichtlich weissagt: „Der Reiz ist in diesem neuen Ge¬
biete ein gediegner, während er im bisherigen Dichtungsgebiet, welches doch
wesentlich ein Erdichtungsgebiet geblieben, mehr oder minder dem Scheine ge¬
golten hat und daher nicht nachhaltig sein konnte." Es ist auffallend, wie
stark sich Dühring, der die Schriftsteller des jungen Deutschlands aufs tiefste
verachtet, in Börne und Heine Karrikaturen von Größen, Würmer sieht, die an
dein Leichnam der Gesellschaft zehrten, den Prophezeiungen eben dieser Schrift¬
steller von der Ablösung der dichterischen Phantasie und Gestaltungskraft und
der Allmacht des Stils, der Prosa annähert. Freilich vergessen wirkeinen Augen¬
blick, wie gewaltig sich Dührings sittliche Strenge und trotzige Jsolirung vou
der Frivolität und dem Herdenhaften Scheinliberalismus Jungdeutschlands
unterscheidet. Aber in dem Hauptpunkt, in der Geringschätzung des poetischen,
des künstlerischen Talents und Lebensgehalts, trifft er doch mit den Jungdeutschen
zusammen. Die „feierlichen Esel" (wie der Italiener treffend sagt), an denen
Deutschland so reich ist, die den Ernst und die Würde ihrer historisch-wissen¬
schaftlichen Bestrebungen über die „leichte" Kunst setzen und dem armseligsten
Schulprogramm höhere Bedeutung beimessen als der reichsten Dichtung, mögen
trotzdem nicht meinen, daß der grimmige Bekämpfer der Poesie ihre Sache
führe. Denn Dühring verwahrt sich ausdrücklich gegen die Geschichte, die
Interesse für Erinnerungen sei, die dem Menschen auch nicht einmal so nahe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/92>, abgerufen am 24.08.2024.