Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
(Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

,als Ungeheuerlichkeiten, als Ausgeburten überlvnndner Wahnvorstellungen an¬
sieht, sondern überhaupt der gesteigerten und veredelten Ausprägung des Mensch¬
lichen, dem klarern Denken und geordnetem Empfinden eine wachsende Gleich-
giltigkeit gegen die Formen spielerischer Regung, also gegen die Kunst, bei¬
mißt. "Es ist eine arge Vergessenheit wahrer Handlung und echten Lebens,
wenn die Menschen dahin kommen, musikalische, schauspielerische und überhaupt
schöngeistige Angelegenheiten positiv ernst zu nehmen." "Das wirklich Ernste darf
sich, wofern es seinen Charakter bewahren will, mit dem spielerischen nicht
gatten. Das Losungswort des veredelten Menschheitsteils muß demgemäß
dahin gehen, alle solche unnatürliche Verqnicknngcn wegzuschaffen und das
künstlerisch Spielende ^wozu Dühring z. B. alle Trauermusik rechnet^ nur da
walten zu lassen, wo die Dinge selber zum Spiel angethan sind. Es ist dies
ein weites Bereich, und die spielende Kunst kann sich nicht beklagen, wenn eine
entwickeltere Schicklichkeit ihr aus allen andern Bereichen die Thür weist."
"Betrachten wir im Lichte der vorangegangnen Ausführungen den überlegnen
Wert kunstvoll geregelter Prosa in Vergleichung mit spielender Rhythmik, so
kann auch von dieser Seite die Kritik aller Poesie nicht zweifelhaft bleiben.
Mit der höhern Entwicklung muß sich etwas ausbilden, was nicht bloß über
der wesentlich rhythmischen Poesie, sondern auch über der gemeinen noch un¬
entwickelten und rückständigen Prosa zu stehen kommt. Regelmäßigkeit und
Schönheit sind über den Gegensatz von Ernst und Spiel erhaben; selbst der
geistige Schmerz kann von Natur und Kultur und zwar in der Wirklichkeit,
also nicht erst im Nachbilde, innerhalb bemessener Grenzen edle und anständige
Formen annehmen, ohne sich deswegen in jenes unwahre Gemisch zu ver¬
wandeln, das wir als unecht und charakterlos verwerfen müssen. Die Aus¬
sicht auf eine gesetzte verstandesgemäße Haltung der Gefühle und Gedanken
und auf eine entsprechende Bethätigung in Rede und Darstellung, bei der jedoch
der höhere Aufblick nicht verloren geht, ist keine chimärische. Die Prosa ist,
trotzdem daß in ihr jeder poetische Rhythmus ein Fehler bleibt, dennoch für
Regelung und Schönheit in einem hohen Maße empfänglich, ja wird es, wenn
richtig gewürdigt und behandelt, in einem höhern Maße werden, als die eigent¬
liche Poesie selber." Infolge dieser Anschauung drückt Dühring an mehr als
einer Stelle seines Werkes die Erwartung aus, daß die "fehlgreifende Poeterei,"
die sich so leicht mit "handgreiflicher Narrheit" gattet, mehr und mehr ver¬
schwinden werde, um einer Wahrheits- oder Wirklichkeitsdarstellung Platz zu
machen, mit der der Verfasser, wie kaum noch gesagt zu werden braucht, nicht
etwa den modernsten Naturalismus meint, sondern litterarische Schöpfungen,
die unter "den Begriff des Thatsächlichen in seiner völligen Reinheit" fallen.
"Der volle und ganze Reiz liegt nicht im erdichteten, sondern im wahren Zu¬
sammenhange der Dinge. Es wäre eine unlebendige Auffassung des thatsäch¬
lichen Einzeldaseins wie der Menschheitsgeschichte, wenn man in ihnen jenen


(Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

,als Ungeheuerlichkeiten, als Ausgeburten überlvnndner Wahnvorstellungen an¬
sieht, sondern überhaupt der gesteigerten und veredelten Ausprägung des Mensch¬
lichen, dem klarern Denken und geordnetem Empfinden eine wachsende Gleich-
giltigkeit gegen die Formen spielerischer Regung, also gegen die Kunst, bei¬
mißt. „Es ist eine arge Vergessenheit wahrer Handlung und echten Lebens,
wenn die Menschen dahin kommen, musikalische, schauspielerische und überhaupt
schöngeistige Angelegenheiten positiv ernst zu nehmen." „Das wirklich Ernste darf
sich, wofern es seinen Charakter bewahren will, mit dem spielerischen nicht
gatten. Das Losungswort des veredelten Menschheitsteils muß demgemäß
dahin gehen, alle solche unnatürliche Verqnicknngcn wegzuschaffen und das
künstlerisch Spielende ^wozu Dühring z. B. alle Trauermusik rechnet^ nur da
walten zu lassen, wo die Dinge selber zum Spiel angethan sind. Es ist dies
ein weites Bereich, und die spielende Kunst kann sich nicht beklagen, wenn eine
entwickeltere Schicklichkeit ihr aus allen andern Bereichen die Thür weist."
„Betrachten wir im Lichte der vorangegangnen Ausführungen den überlegnen
Wert kunstvoll geregelter Prosa in Vergleichung mit spielender Rhythmik, so
kann auch von dieser Seite die Kritik aller Poesie nicht zweifelhaft bleiben.
Mit der höhern Entwicklung muß sich etwas ausbilden, was nicht bloß über
der wesentlich rhythmischen Poesie, sondern auch über der gemeinen noch un¬
entwickelten und rückständigen Prosa zu stehen kommt. Regelmäßigkeit und
Schönheit sind über den Gegensatz von Ernst und Spiel erhaben; selbst der
geistige Schmerz kann von Natur und Kultur und zwar in der Wirklichkeit,
also nicht erst im Nachbilde, innerhalb bemessener Grenzen edle und anständige
Formen annehmen, ohne sich deswegen in jenes unwahre Gemisch zu ver¬
wandeln, das wir als unecht und charakterlos verwerfen müssen. Die Aus¬
sicht auf eine gesetzte verstandesgemäße Haltung der Gefühle und Gedanken
und auf eine entsprechende Bethätigung in Rede und Darstellung, bei der jedoch
der höhere Aufblick nicht verloren geht, ist keine chimärische. Die Prosa ist,
trotzdem daß in ihr jeder poetische Rhythmus ein Fehler bleibt, dennoch für
Regelung und Schönheit in einem hohen Maße empfänglich, ja wird es, wenn
richtig gewürdigt und behandelt, in einem höhern Maße werden, als die eigent¬
liche Poesie selber." Infolge dieser Anschauung drückt Dühring an mehr als
einer Stelle seines Werkes die Erwartung aus, daß die „fehlgreifende Poeterei,"
die sich so leicht mit „handgreiflicher Narrheit" gattet, mehr und mehr ver¬
schwinden werde, um einer Wahrheits- oder Wirklichkeitsdarstellung Platz zu
machen, mit der der Verfasser, wie kaum noch gesagt zu werden braucht, nicht
etwa den modernsten Naturalismus meint, sondern litterarische Schöpfungen,
die unter „den Begriff des Thatsächlichen in seiner völligen Reinheit" fallen.
„Der volle und ganze Reiz liegt nicht im erdichteten, sondern im wahren Zu¬
sammenhange der Dinge. Es wäre eine unlebendige Auffassung des thatsäch¬
lichen Einzeldaseins wie der Menschheitsgeschichte, wenn man in ihnen jenen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0091" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219767"/>
          <fw type="header" place="top"> (Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_249" prev="#ID_248" next="#ID_250"> ,als Ungeheuerlichkeiten, als Ausgeburten überlvnndner Wahnvorstellungen an¬<lb/>
sieht, sondern überhaupt der gesteigerten und veredelten Ausprägung des Mensch¬<lb/>
lichen, dem klarern Denken und geordnetem Empfinden eine wachsende Gleich-<lb/>
giltigkeit gegen die Formen spielerischer Regung, also gegen die Kunst, bei¬<lb/>
mißt. &#x201E;Es ist eine arge Vergessenheit wahrer Handlung und echten Lebens,<lb/>
wenn die Menschen dahin kommen, musikalische, schauspielerische und überhaupt<lb/>
schöngeistige Angelegenheiten positiv ernst zu nehmen." &#x201E;Das wirklich Ernste darf<lb/>
sich, wofern es seinen Charakter bewahren will, mit dem spielerischen nicht<lb/>
gatten. Das Losungswort des veredelten Menschheitsteils muß demgemäß<lb/>
dahin gehen, alle solche unnatürliche Verqnicknngcn wegzuschaffen und das<lb/>
künstlerisch Spielende ^wozu Dühring z. B. alle Trauermusik rechnet^ nur da<lb/>
walten zu lassen, wo die Dinge selber zum Spiel angethan sind. Es ist dies<lb/>
ein weites Bereich, und die spielende Kunst kann sich nicht beklagen, wenn eine<lb/>
entwickeltere Schicklichkeit ihr aus allen andern Bereichen die Thür weist."<lb/>
&#x201E;Betrachten wir im Lichte der vorangegangnen Ausführungen den überlegnen<lb/>
Wert kunstvoll geregelter Prosa in Vergleichung mit spielender Rhythmik, so<lb/>
kann auch von dieser Seite die Kritik aller Poesie nicht zweifelhaft bleiben.<lb/>
Mit der höhern Entwicklung muß sich etwas ausbilden, was nicht bloß über<lb/>
der wesentlich rhythmischen Poesie, sondern auch über der gemeinen noch un¬<lb/>
entwickelten und rückständigen Prosa zu stehen kommt. Regelmäßigkeit und<lb/>
Schönheit sind über den Gegensatz von Ernst und Spiel erhaben; selbst der<lb/>
geistige Schmerz kann von Natur und Kultur und zwar in der Wirklichkeit,<lb/>
also nicht erst im Nachbilde, innerhalb bemessener Grenzen edle und anständige<lb/>
Formen annehmen, ohne sich deswegen in jenes unwahre Gemisch zu ver¬<lb/>
wandeln, das wir als unecht und charakterlos verwerfen müssen. Die Aus¬<lb/>
sicht auf eine gesetzte verstandesgemäße Haltung der Gefühle und Gedanken<lb/>
und auf eine entsprechende Bethätigung in Rede und Darstellung, bei der jedoch<lb/>
der höhere Aufblick nicht verloren geht, ist keine chimärische. Die Prosa ist,<lb/>
trotzdem daß in ihr jeder poetische Rhythmus ein Fehler bleibt, dennoch für<lb/>
Regelung und Schönheit in einem hohen Maße empfänglich, ja wird es, wenn<lb/>
richtig gewürdigt und behandelt, in einem höhern Maße werden, als die eigent¬<lb/>
liche Poesie selber." Infolge dieser Anschauung drückt Dühring an mehr als<lb/>
einer Stelle seines Werkes die Erwartung aus, daß die &#x201E;fehlgreifende Poeterei,"<lb/>
die sich so leicht mit &#x201E;handgreiflicher Narrheit" gattet, mehr und mehr ver¬<lb/>
schwinden werde, um einer Wahrheits- oder Wirklichkeitsdarstellung Platz zu<lb/>
machen, mit der der Verfasser, wie kaum noch gesagt zu werden braucht, nicht<lb/>
etwa den modernsten Naturalismus meint, sondern litterarische Schöpfungen,<lb/>
die unter &#x201E;den Begriff des Thatsächlichen in seiner völligen Reinheit" fallen.<lb/>
&#x201E;Der volle und ganze Reiz liegt nicht im erdichteten, sondern im wahren Zu¬<lb/>
sammenhange der Dinge. Es wäre eine unlebendige Auffassung des thatsäch¬<lb/>
lichen Einzeldaseins wie der Menschheitsgeschichte, wenn man in ihnen jenen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0091] (Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur ,als Ungeheuerlichkeiten, als Ausgeburten überlvnndner Wahnvorstellungen an¬ sieht, sondern überhaupt der gesteigerten und veredelten Ausprägung des Mensch¬ lichen, dem klarern Denken und geordnetem Empfinden eine wachsende Gleich- giltigkeit gegen die Formen spielerischer Regung, also gegen die Kunst, bei¬ mißt. „Es ist eine arge Vergessenheit wahrer Handlung und echten Lebens, wenn die Menschen dahin kommen, musikalische, schauspielerische und überhaupt schöngeistige Angelegenheiten positiv ernst zu nehmen." „Das wirklich Ernste darf sich, wofern es seinen Charakter bewahren will, mit dem spielerischen nicht gatten. Das Losungswort des veredelten Menschheitsteils muß demgemäß dahin gehen, alle solche unnatürliche Verqnicknngcn wegzuschaffen und das künstlerisch Spielende ^wozu Dühring z. B. alle Trauermusik rechnet^ nur da walten zu lassen, wo die Dinge selber zum Spiel angethan sind. Es ist dies ein weites Bereich, und die spielende Kunst kann sich nicht beklagen, wenn eine entwickeltere Schicklichkeit ihr aus allen andern Bereichen die Thür weist." „Betrachten wir im Lichte der vorangegangnen Ausführungen den überlegnen Wert kunstvoll geregelter Prosa in Vergleichung mit spielender Rhythmik, so kann auch von dieser Seite die Kritik aller Poesie nicht zweifelhaft bleiben. Mit der höhern Entwicklung muß sich etwas ausbilden, was nicht bloß über der wesentlich rhythmischen Poesie, sondern auch über der gemeinen noch un¬ entwickelten und rückständigen Prosa zu stehen kommt. Regelmäßigkeit und Schönheit sind über den Gegensatz von Ernst und Spiel erhaben; selbst der geistige Schmerz kann von Natur und Kultur und zwar in der Wirklichkeit, also nicht erst im Nachbilde, innerhalb bemessener Grenzen edle und anständige Formen annehmen, ohne sich deswegen in jenes unwahre Gemisch zu ver¬ wandeln, das wir als unecht und charakterlos verwerfen müssen. Die Aus¬ sicht auf eine gesetzte verstandesgemäße Haltung der Gefühle und Gedanken und auf eine entsprechende Bethätigung in Rede und Darstellung, bei der jedoch der höhere Aufblick nicht verloren geht, ist keine chimärische. Die Prosa ist, trotzdem daß in ihr jeder poetische Rhythmus ein Fehler bleibt, dennoch für Regelung und Schönheit in einem hohen Maße empfänglich, ja wird es, wenn richtig gewürdigt und behandelt, in einem höhern Maße werden, als die eigent¬ liche Poesie selber." Infolge dieser Anschauung drückt Dühring an mehr als einer Stelle seines Werkes die Erwartung aus, daß die „fehlgreifende Poeterei," die sich so leicht mit „handgreiflicher Narrheit" gattet, mehr und mehr ver¬ schwinden werde, um einer Wahrheits- oder Wirklichkeitsdarstellung Platz zu machen, mit der der Verfasser, wie kaum noch gesagt zu werden braucht, nicht etwa den modernsten Naturalismus meint, sondern litterarische Schöpfungen, die unter „den Begriff des Thatsächlichen in seiner völligen Reinheit" fallen. „Der volle und ganze Reiz liegt nicht im erdichteten, sondern im wahren Zu¬ sammenhange der Dinge. Es wäre eine unlebendige Auffassung des thatsäch¬ lichen Einzeldaseins wie der Menschheitsgeschichte, wenn man in ihnen jenen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/91
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/91>, abgerufen am 24.08.2024.