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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Knabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas

vielleicht das erste, was wenigstens die athenischen und spartanischen Knaben
lernten; "er kann weder schwimmen noch lesen," sagte man sprichwörtlich von
Leuten, die gar nichts verstanden. Daß aber neben der Gesundheit und
Körperstärke, wie sie diese gymnastische Erziehung erzeugen mußte, auch An¬
mut der Bewegung und Sinn für Ebenmaß dem Knaben früh anerzogen
würden, das war die Aufgabe der Tanzkunst, die neben dem Turnen und
gewissermaßen als seine Ergänzung in Athen und noch mehr in andern
Staaten wie in Sparta und Thessalien eifrig gepflegt wurde. Nach Sophokles
sind die besten Chortänzer die besten Krieger; Sokrcites erklärt das Erlernen
der Tanzkunst für unerläßlich; nach Plato ist, wer nicht Reigentänze zu tanzen
versteht, ein Mensch ohne Bildung und Erziehung. Freilich darf man dabei
nicht an unser heutiges Tanzen denken. Moderne Rundtänze gab es über¬
haupt nicht, dagegen jene Reigen-, Ketten- und Waffentanze (Pyrrhichen), wie
sie noch heute in der neugriechischen Nomaika und Pyrrhiche fortleben.*) Wer die
griechischen Landschaftsbilder Nvttmanns in der Neuen Pinakothek in München
gesehen hat, wird sich der Darstellung eines solchen Kettentanzes im Vorder¬
grunde eines dieser Bilder erinnern. Die bei vielen religiösen Festen auf¬
tretenden Knabenchöre, sowie die jährliche Absendung eines solchen Chors nach
Delos, wo die Knaben in allerhand Verkleidungen Apolls Altar umtanzten,
gaben auch dem Tanze religiöse Weihe und der Jugend einen kräftigen Sporn,
es auch in dieser Kunst zur Meisterschaft zu bringen.

Wie wichtig aber auch immer Gymnastik und Orchestik für körperliche
Stärke und Gewandtheit und damit zugleich für die spätere Kriegstüchtigkeit
der Bürger waren, wie dies besonders Lukian in einer Lvbschrift auf die
körperlichen Übungen betont, viel wichtiger war doch noch ihr Einfluß auf
die Charakterbildung der Jugend. In der Palästra und in zahlreichen Knaben¬
spielen lernten sich die jungen Griechen freiwillig ältern oder tüchtigem Ka¬
meraden unterordnen, lernten, wenn die Reihe an sie kam, ihrerseits Aufsicht
und Befehl über andre führen, lernten mit einem Worte die Kunst des Ge-
horchens und Beherrschers, die nach Xenophon, Platon und Aristoteles den
Knaben zum tüchtigen Staatsbürger erzieht. Hier erwarben sie die umsichtige
Entschiedenheit, die erst wägt und dann wagt; hier wurde der Wetteifer, der
auf wissenschaftlichem Felde nur allzu leicht in Strebertum ausartet, in gutem
Sinne gefördert, hier errang sich der Heitere jenes Hochgefühl -- </?Ho^t"
nannte ers --, das ihn dem Barbaren gegenüber sich als ein Wesen edlerer
Art fühlen und alles knechtische Gebahren als seiner unwürdig verachten ließ.
Da ist es denn nicht verwunderlich, daß die Barbaren, "weil sie unter Tyrannen



*) Vgl. Byron, Don Juan, III, 86, 10:
?on Ils,of elf l^rrlno äsneo As >se,
^Vlisro is tus ü^rrdic xiis,Ja.ux Zoos?
Knabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas

vielleicht das erste, was wenigstens die athenischen und spartanischen Knaben
lernten; „er kann weder schwimmen noch lesen," sagte man sprichwörtlich von
Leuten, die gar nichts verstanden. Daß aber neben der Gesundheit und
Körperstärke, wie sie diese gymnastische Erziehung erzeugen mußte, auch An¬
mut der Bewegung und Sinn für Ebenmaß dem Knaben früh anerzogen
würden, das war die Aufgabe der Tanzkunst, die neben dem Turnen und
gewissermaßen als seine Ergänzung in Athen und noch mehr in andern
Staaten wie in Sparta und Thessalien eifrig gepflegt wurde. Nach Sophokles
sind die besten Chortänzer die besten Krieger; Sokrcites erklärt das Erlernen
der Tanzkunst für unerläßlich; nach Plato ist, wer nicht Reigentänze zu tanzen
versteht, ein Mensch ohne Bildung und Erziehung. Freilich darf man dabei
nicht an unser heutiges Tanzen denken. Moderne Rundtänze gab es über¬
haupt nicht, dagegen jene Reigen-, Ketten- und Waffentanze (Pyrrhichen), wie
sie noch heute in der neugriechischen Nomaika und Pyrrhiche fortleben.*) Wer die
griechischen Landschaftsbilder Nvttmanns in der Neuen Pinakothek in München
gesehen hat, wird sich der Darstellung eines solchen Kettentanzes im Vorder¬
grunde eines dieser Bilder erinnern. Die bei vielen religiösen Festen auf¬
tretenden Knabenchöre, sowie die jährliche Absendung eines solchen Chors nach
Delos, wo die Knaben in allerhand Verkleidungen Apolls Altar umtanzten,
gaben auch dem Tanze religiöse Weihe und der Jugend einen kräftigen Sporn,
es auch in dieser Kunst zur Meisterschaft zu bringen.

Wie wichtig aber auch immer Gymnastik und Orchestik für körperliche
Stärke und Gewandtheit und damit zugleich für die spätere Kriegstüchtigkeit
der Bürger waren, wie dies besonders Lukian in einer Lvbschrift auf die
körperlichen Übungen betont, viel wichtiger war doch noch ihr Einfluß auf
die Charakterbildung der Jugend. In der Palästra und in zahlreichen Knaben¬
spielen lernten sich die jungen Griechen freiwillig ältern oder tüchtigem Ka¬
meraden unterordnen, lernten, wenn die Reihe an sie kam, ihrerseits Aufsicht
und Befehl über andre führen, lernten mit einem Worte die Kunst des Ge-
horchens und Beherrschers, die nach Xenophon, Platon und Aristoteles den
Knaben zum tüchtigen Staatsbürger erzieht. Hier erwarben sie die umsichtige
Entschiedenheit, die erst wägt und dann wagt; hier wurde der Wetteifer, der
auf wissenschaftlichem Felde nur allzu leicht in Strebertum ausartet, in gutem
Sinne gefördert, hier errang sich der Heitere jenes Hochgefühl — </?Ho^t«
nannte ers —, das ihn dem Barbaren gegenüber sich als ein Wesen edlerer
Art fühlen und alles knechtische Gebahren als seiner unwürdig verachten ließ.
Da ist es denn nicht verwunderlich, daß die Barbaren, „weil sie unter Tyrannen



*) Vgl. Byron, Don Juan, III, 86, 10:
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[0084] Knabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas vielleicht das erste, was wenigstens die athenischen und spartanischen Knaben lernten; „er kann weder schwimmen noch lesen," sagte man sprichwörtlich von Leuten, die gar nichts verstanden. Daß aber neben der Gesundheit und Körperstärke, wie sie diese gymnastische Erziehung erzeugen mußte, auch An¬ mut der Bewegung und Sinn für Ebenmaß dem Knaben früh anerzogen würden, das war die Aufgabe der Tanzkunst, die neben dem Turnen und gewissermaßen als seine Ergänzung in Athen und noch mehr in andern Staaten wie in Sparta und Thessalien eifrig gepflegt wurde. Nach Sophokles sind die besten Chortänzer die besten Krieger; Sokrcites erklärt das Erlernen der Tanzkunst für unerläßlich; nach Plato ist, wer nicht Reigentänze zu tanzen versteht, ein Mensch ohne Bildung und Erziehung. Freilich darf man dabei nicht an unser heutiges Tanzen denken. Moderne Rundtänze gab es über¬ haupt nicht, dagegen jene Reigen-, Ketten- und Waffentanze (Pyrrhichen), wie sie noch heute in der neugriechischen Nomaika und Pyrrhiche fortleben.*) Wer die griechischen Landschaftsbilder Nvttmanns in der Neuen Pinakothek in München gesehen hat, wird sich der Darstellung eines solchen Kettentanzes im Vorder¬ grunde eines dieser Bilder erinnern. Die bei vielen religiösen Festen auf¬ tretenden Knabenchöre, sowie die jährliche Absendung eines solchen Chors nach Delos, wo die Knaben in allerhand Verkleidungen Apolls Altar umtanzten, gaben auch dem Tanze religiöse Weihe und der Jugend einen kräftigen Sporn, es auch in dieser Kunst zur Meisterschaft zu bringen. Wie wichtig aber auch immer Gymnastik und Orchestik für körperliche Stärke und Gewandtheit und damit zugleich für die spätere Kriegstüchtigkeit der Bürger waren, wie dies besonders Lukian in einer Lvbschrift auf die körperlichen Übungen betont, viel wichtiger war doch noch ihr Einfluß auf die Charakterbildung der Jugend. In der Palästra und in zahlreichen Knaben¬ spielen lernten sich die jungen Griechen freiwillig ältern oder tüchtigem Ka¬ meraden unterordnen, lernten, wenn die Reihe an sie kam, ihrerseits Aufsicht und Befehl über andre führen, lernten mit einem Worte die Kunst des Ge- horchens und Beherrschers, die nach Xenophon, Platon und Aristoteles den Knaben zum tüchtigen Staatsbürger erzieht. Hier erwarben sie die umsichtige Entschiedenheit, die erst wägt und dann wagt; hier wurde der Wetteifer, der auf wissenschaftlichem Felde nur allzu leicht in Strebertum ausartet, in gutem Sinne gefördert, hier errang sich der Heitere jenes Hochgefühl — </?Ho^t« nannte ers —, das ihn dem Barbaren gegenüber sich als ein Wesen edlerer Art fühlen und alles knechtische Gebahren als seiner unwürdig verachten ließ. Da ist es denn nicht verwunderlich, daß die Barbaren, „weil sie unter Tyrannen *) Vgl. Byron, Don Juan, III, 86, 10: ?on Ils,of elf l^rrlno äsneo As >se, ^Vlisro is tus ü^rrdic xiis,Ja.ux Zoos?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/84>, abgerufen am 25.08.2024.