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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Rnabenerziehung und Rnabemmterricht im alten Hellas

Umgang ihm sicher geschadet hat, wenn nicht Vater und Mutter, wie es
Aristoteles später ausdrücklich fordert, den Verkehr mit ihr möglichst beschränkt
haben, hat unser kleiner Athener so sein siebentes Jahr und damit das Alter
erreicht, wo die Knaben nach allgemeiner griechischer Sitte in die Schule ge¬
schickt wurden. Denn von Privatunterricht im Hause, wie er in Rom vielfach
beliebt war, wurde in Hellas in der Regel abgesehen: "die Knaben sollten
gleich von Anfang an mit einander aufwachsen und verkehren." Ziehen wir
die früh eintretende Reife südländischer Knaben in Betracht, so erscheint der
Schulanfang spät; gleichwohl warnt Aristoteles vor einer frühern Anspannung
der Körper- und Geisteskraft, und Piano fordert sogar, daß der geistige Unter¬
richt erst mit dem zehnten Jahre nach mehrjährigem Betrieb von Leibesübungen
beginne.^)

Aber noch in andrer Beziehung ist das siebente Lebensjahr für den kleinen
Athener von Bedeutung. Jetzt gewöhnlich erhält er nämlich vom Vater einen aus
der Dienerschaft zugewiesen, der ihn von nun an, so oft er das Elternhaus ver¬
läßt, als sogenannter Knabenführer, ^"kalt/c-i/oc,^ bis zum zwanzigsten Jahre
wie sein Schatten begleitet. Barbarischer Abkunft, der griechischen Sprache
oft nicht völlig mächtig und zuweilen bloß deshalb zu diesem Amte gewählt,
weil er für andre Geschäfte wegen Alters, körperlicher Gebrechen, ja selbst
moralischer Schwächen, wie Trunksucht, untauglich erscheint, geleitet der Pä¬
dagog den jungen Herrensohn täglich in die Schule. Dort wartet er in einem
Wartezimmer oder im Klassenzimmer auf einem besondern für diese Leute be¬
stimmten Platze und bringt den Knaben wieder nach Hause, indem er hinter
ihm hergeht, ihm die Kithara oder die Bücherrolle und das Schreibheft oder
Schabeisen und Ball nachträgt. Dabei achtet er darauf, daß der Knabe auf
der Straße, wie es die alte ätherische Sitte vorschreibt, die Augen zu Boden
schlägt, den Kopf nicht wendet, die Hände unter dem mantelartigen Oberkleid
eingehüllt hält und ruhig und gemessen seines Weges geht. Daheim aber
giebt er Acht, daß sich sein Pflegling nicht überißt, beim Essen nur die rechte
Hand und je nach dem Gerichte nnr bestimmte Finger zum Zulangen braucht
-- Gabeln sind bekanntlich erst gegen das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts
in Venedig aufgekommen -- , daß er mit der Linken das Brot hält, seine Kleider
richtig anzieht und sich ja nicht etwa angewöhnt, mit übereiuandergeschlagnen
Beinen dazusitzen; denn das galt selbst für Erwachsene für unanständig. Gehorchte
der Knabe nicht, so hatte der Pädagog nicht bloß das Recht, ihn zu schlagen,
sondern er pflegte von diesem Recht einen so ausgiebigen Gebrauch zu macheu,
daß Ohrfeige und Pädagog im Geiste des Griechen etwa eine ähnliche Ge¬
dankenverbindung eingegangen waren wie Bakel und Schulmeister bei unsern



*) In solcher Weise ist bekanntlich Alexander von Humboldt erzogen worden, der bis
Zum zehnten Jahre nicht viel mehr als reiten gelernt hatte!
Grenzboten II 1895 10
Rnabenerziehung und Rnabemmterricht im alten Hellas

Umgang ihm sicher geschadet hat, wenn nicht Vater und Mutter, wie es
Aristoteles später ausdrücklich fordert, den Verkehr mit ihr möglichst beschränkt
haben, hat unser kleiner Athener so sein siebentes Jahr und damit das Alter
erreicht, wo die Knaben nach allgemeiner griechischer Sitte in die Schule ge¬
schickt wurden. Denn von Privatunterricht im Hause, wie er in Rom vielfach
beliebt war, wurde in Hellas in der Regel abgesehen: „die Knaben sollten
gleich von Anfang an mit einander aufwachsen und verkehren." Ziehen wir
die früh eintretende Reife südländischer Knaben in Betracht, so erscheint der
Schulanfang spät; gleichwohl warnt Aristoteles vor einer frühern Anspannung
der Körper- und Geisteskraft, und Piano fordert sogar, daß der geistige Unter¬
richt erst mit dem zehnten Jahre nach mehrjährigem Betrieb von Leibesübungen
beginne.^)

Aber noch in andrer Beziehung ist das siebente Lebensjahr für den kleinen
Athener von Bedeutung. Jetzt gewöhnlich erhält er nämlich vom Vater einen aus
der Dienerschaft zugewiesen, der ihn von nun an, so oft er das Elternhaus ver¬
läßt, als sogenannter Knabenführer, ^«kalt/c-i/oc,^ bis zum zwanzigsten Jahre
wie sein Schatten begleitet. Barbarischer Abkunft, der griechischen Sprache
oft nicht völlig mächtig und zuweilen bloß deshalb zu diesem Amte gewählt,
weil er für andre Geschäfte wegen Alters, körperlicher Gebrechen, ja selbst
moralischer Schwächen, wie Trunksucht, untauglich erscheint, geleitet der Pä¬
dagog den jungen Herrensohn täglich in die Schule. Dort wartet er in einem
Wartezimmer oder im Klassenzimmer auf einem besondern für diese Leute be¬
stimmten Platze und bringt den Knaben wieder nach Hause, indem er hinter
ihm hergeht, ihm die Kithara oder die Bücherrolle und das Schreibheft oder
Schabeisen und Ball nachträgt. Dabei achtet er darauf, daß der Knabe auf
der Straße, wie es die alte ätherische Sitte vorschreibt, die Augen zu Boden
schlägt, den Kopf nicht wendet, die Hände unter dem mantelartigen Oberkleid
eingehüllt hält und ruhig und gemessen seines Weges geht. Daheim aber
giebt er Acht, daß sich sein Pflegling nicht überißt, beim Essen nur die rechte
Hand und je nach dem Gerichte nnr bestimmte Finger zum Zulangen braucht
— Gabeln sind bekanntlich erst gegen das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts
in Venedig aufgekommen — , daß er mit der Linken das Brot hält, seine Kleider
richtig anzieht und sich ja nicht etwa angewöhnt, mit übereiuandergeschlagnen
Beinen dazusitzen; denn das galt selbst für Erwachsene für unanständig. Gehorchte
der Knabe nicht, so hatte der Pädagog nicht bloß das Recht, ihn zu schlagen,
sondern er pflegte von diesem Recht einen so ausgiebigen Gebrauch zu macheu,
daß Ohrfeige und Pädagog im Geiste des Griechen etwa eine ähnliche Ge¬
dankenverbindung eingegangen waren wie Bakel und Schulmeister bei unsern



*) In solcher Weise ist bekanntlich Alexander von Humboldt erzogen worden, der bis
Zum zehnten Jahre nicht viel mehr als reiten gelernt hatte!
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[0081] Rnabenerziehung und Rnabemmterricht im alten Hellas Umgang ihm sicher geschadet hat, wenn nicht Vater und Mutter, wie es Aristoteles später ausdrücklich fordert, den Verkehr mit ihr möglichst beschränkt haben, hat unser kleiner Athener so sein siebentes Jahr und damit das Alter erreicht, wo die Knaben nach allgemeiner griechischer Sitte in die Schule ge¬ schickt wurden. Denn von Privatunterricht im Hause, wie er in Rom vielfach beliebt war, wurde in Hellas in der Regel abgesehen: „die Knaben sollten gleich von Anfang an mit einander aufwachsen und verkehren." Ziehen wir die früh eintretende Reife südländischer Knaben in Betracht, so erscheint der Schulanfang spät; gleichwohl warnt Aristoteles vor einer frühern Anspannung der Körper- und Geisteskraft, und Piano fordert sogar, daß der geistige Unter¬ richt erst mit dem zehnten Jahre nach mehrjährigem Betrieb von Leibesübungen beginne.^) Aber noch in andrer Beziehung ist das siebente Lebensjahr für den kleinen Athener von Bedeutung. Jetzt gewöhnlich erhält er nämlich vom Vater einen aus der Dienerschaft zugewiesen, der ihn von nun an, so oft er das Elternhaus ver¬ läßt, als sogenannter Knabenführer, ^«kalt/c-i/oc,^ bis zum zwanzigsten Jahre wie sein Schatten begleitet. Barbarischer Abkunft, der griechischen Sprache oft nicht völlig mächtig und zuweilen bloß deshalb zu diesem Amte gewählt, weil er für andre Geschäfte wegen Alters, körperlicher Gebrechen, ja selbst moralischer Schwächen, wie Trunksucht, untauglich erscheint, geleitet der Pä¬ dagog den jungen Herrensohn täglich in die Schule. Dort wartet er in einem Wartezimmer oder im Klassenzimmer auf einem besondern für diese Leute be¬ stimmten Platze und bringt den Knaben wieder nach Hause, indem er hinter ihm hergeht, ihm die Kithara oder die Bücherrolle und das Schreibheft oder Schabeisen und Ball nachträgt. Dabei achtet er darauf, daß der Knabe auf der Straße, wie es die alte ätherische Sitte vorschreibt, die Augen zu Boden schlägt, den Kopf nicht wendet, die Hände unter dem mantelartigen Oberkleid eingehüllt hält und ruhig und gemessen seines Weges geht. Daheim aber giebt er Acht, daß sich sein Pflegling nicht überißt, beim Essen nur die rechte Hand und je nach dem Gerichte nnr bestimmte Finger zum Zulangen braucht — Gabeln sind bekanntlich erst gegen das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Venedig aufgekommen — , daß er mit der Linken das Brot hält, seine Kleider richtig anzieht und sich ja nicht etwa angewöhnt, mit übereiuandergeschlagnen Beinen dazusitzen; denn das galt selbst für Erwachsene für unanständig. Gehorchte der Knabe nicht, so hatte der Pädagog nicht bloß das Recht, ihn zu schlagen, sondern er pflegte von diesem Recht einen so ausgiebigen Gebrauch zu macheu, daß Ohrfeige und Pädagog im Geiste des Griechen etwa eine ähnliche Ge¬ dankenverbindung eingegangen waren wie Bakel und Schulmeister bei unsern *) In solcher Weise ist bekanntlich Alexander von Humboldt erzogen worden, der bis Zum zehnten Jahre nicht viel mehr als reiten gelernt hatte! Grenzboten II 1895 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/81>, abgerufen am 25.08.2024.