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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Möglichkeit, die riesig lange kanadische Grenze gegen eine Invasion von den
Vereinigten Staaten her zu schützen -- im besten Falle würde das Nordost¬
geschwader des Atlantischen Ozeans einen Druck ans die atlantischen Hafen¬
plätze üben können, die großenteils schlecht geschützt sind --, so kann man mit
um so größerer Befriedigung auf die moralische Befestigung der Stellung Eng¬
lands in Nordamerika blicken, die das Ergebnis einer klugen, freien und frei¬
gebigen, nachgiebigen, aber zähen Politik ist. In der Form ist sehr viel auf¬
gegeben, die Sache aber ist festgehalten. Der Erfolg ist bewundernswürdig.
Hier ist die einzige starke, thatsächliche Verneinung des Anspruchs der Ver¬
einigten Staaten auf die praktische Alleinherrschaft in der neuen Welt. Darin
liegt etwas weltgeschichtlich Bedeutendes, das sich zum großen Verdruß der
Uankees in der Nichtteilnahme Kanadas an dem fruchtlosen panamerikanischen
Kongreß von 1889/90 auch formell kundgegeben hat. Kanada würde, auch wenn
es in die Union einträte, mit jedem Jahre weniger als ein unreifes und an¬
spruchsloses junges Staatsgebilde in dem Bunde der Vereinigten Staaten er¬
scheinen. Die dichtbevölkerten Provinzen Quebek und Ontario würden min¬
destens fünf neue Staaten bilden, die übrigen Gebiete würden fünf weitere
hinzufügen, und mit ihnen würden die jetzt mehr von Indianern als Weißen
bevölkerten weiten Nordwestgebiete hinzukommen. Kanada wächst als eine
lebendige Kritik der einst für unübertrefflich gehaltene" demokratischen Ein-
richtungen neben der stolzen Republik heran. Es ist nicht sicher, ob das Band
der Union fest genug wäre, ein so eigenartiges Bündel in dem ohnehin schon
disparaten Bunde festzuhalten. Und damit schwindet die Annexionslust immer
mehr zusammen. Feniereinfälle von dem Gebiete der Vereinigten Staaten aus,
wie sie Mitte der sechziger Jahre Kanada und England in Unruhe versetzten,
wären schon heute unmöglich.

Wenn wir Deutschen mit offnen Augen dieses merkwürdige Verhältnis
zweier weit auseinandergegcmgnen Zweige des angelsächsischen Stammes be¬
trachten, können wir daraus Lehren ziehen für die Beurteilung des Standes und
Ganges der englischen Weltpvlitik. Wir sehen auf beiden Seiten große staaten¬
bildende Fähigkeiten wirksam, die in dem Geist und in der Geschichte des eng¬
lischen Volkes wurzeln. Sie können sich zeitweilig einander entgegenstreben,
wirken aber doch beide auf das höhere Ziel der Ausbreitung und Geltung der
angelsächsischen Rasse hin. Der Schätzung wert scheint uns aber vor allem
der große Zug der englischen Kolonialpolitik in Kanada, der sich durch Äußer¬
liches und Vorübergehendes weder imponiren noch ärgern läßt, sondern still
und stetig nur das Wesen seiner Machtstellung in Nordamerika festhält und
darin einen der beachtenswertesten Erfolge dieser Politik gesichert hat.




Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Möglichkeit, die riesig lange kanadische Grenze gegen eine Invasion von den
Vereinigten Staaten her zu schützen — im besten Falle würde das Nordost¬
geschwader des Atlantischen Ozeans einen Druck ans die atlantischen Hafen¬
plätze üben können, die großenteils schlecht geschützt sind —, so kann man mit
um so größerer Befriedigung auf die moralische Befestigung der Stellung Eng¬
lands in Nordamerika blicken, die das Ergebnis einer klugen, freien und frei¬
gebigen, nachgiebigen, aber zähen Politik ist. In der Form ist sehr viel auf¬
gegeben, die Sache aber ist festgehalten. Der Erfolg ist bewundernswürdig.
Hier ist die einzige starke, thatsächliche Verneinung des Anspruchs der Ver¬
einigten Staaten auf die praktische Alleinherrschaft in der neuen Welt. Darin
liegt etwas weltgeschichtlich Bedeutendes, das sich zum großen Verdruß der
Uankees in der Nichtteilnahme Kanadas an dem fruchtlosen panamerikanischen
Kongreß von 1889/90 auch formell kundgegeben hat. Kanada würde, auch wenn
es in die Union einträte, mit jedem Jahre weniger als ein unreifes und an¬
spruchsloses junges Staatsgebilde in dem Bunde der Vereinigten Staaten er¬
scheinen. Die dichtbevölkerten Provinzen Quebek und Ontario würden min¬
destens fünf neue Staaten bilden, die übrigen Gebiete würden fünf weitere
hinzufügen, und mit ihnen würden die jetzt mehr von Indianern als Weißen
bevölkerten weiten Nordwestgebiete hinzukommen. Kanada wächst als eine
lebendige Kritik der einst für unübertrefflich gehaltene» demokratischen Ein-
richtungen neben der stolzen Republik heran. Es ist nicht sicher, ob das Band
der Union fest genug wäre, ein so eigenartiges Bündel in dem ohnehin schon
disparaten Bunde festzuhalten. Und damit schwindet die Annexionslust immer
mehr zusammen. Feniereinfälle von dem Gebiete der Vereinigten Staaten aus,
wie sie Mitte der sechziger Jahre Kanada und England in Unruhe versetzten,
wären schon heute unmöglich.

Wenn wir Deutschen mit offnen Augen dieses merkwürdige Verhältnis
zweier weit auseinandergegcmgnen Zweige des angelsächsischen Stammes be¬
trachten, können wir daraus Lehren ziehen für die Beurteilung des Standes und
Ganges der englischen Weltpvlitik. Wir sehen auf beiden Seiten große staaten¬
bildende Fähigkeiten wirksam, die in dem Geist und in der Geschichte des eng¬
lischen Volkes wurzeln. Sie können sich zeitweilig einander entgegenstreben,
wirken aber doch beide auf das höhere Ziel der Ausbreitung und Geltung der
angelsächsischen Rasse hin. Der Schätzung wert scheint uns aber vor allem
der große Zug der englischen Kolonialpolitik in Kanada, der sich durch Äußer¬
liches und Vorübergehendes weder imponiren noch ärgern läßt, sondern still
und stetig nur das Wesen seiner Machtstellung in Nordamerika festhält und
darin einen der beachtenswertesten Erfolge dieser Politik gesichert hat.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/79>, abgerufen am 25.08.2024.