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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Iveltxolitik

nicht mit vollem Recht ihnen allein zugeschriebne Langsamkeit der Entwicklung
Kanadas den Hauptgrund bildeten. Seitdem 1876 die interkoloniale Eisenbahn
Quebek-Hnlifax eröffnet wurde, der 1886 die Canadian Paeifil folgte, traten
kanadische Linien in Wettbewerbung mit amerikanischen, die durch die Gesetz¬
gebung und die gesellschaftlichen Mißstände der Vereinigten Staaten ihnen oft
leichter gemacht worden ist. Erst von da an wurde die Phrase wahr, daß
sich an der langen Linie der kanadischen Grenze die mächtige Welle des Handels
der Vereinigten Staaten breche und in sich zurückrolle. Seitdem hört man
auch öfter als sonst über die lustige Nordostgrenze klage", über die der
große natürliche Weg des nordöstlichen Nordamerikas, der Se. Lorenz, durch
das Naturthvr der schönsten Bucht Nordamerikas in den Ozean mündet.

Es ist längst nicht mehr wahr, daß Kanada nur Vorteile aus der
Verbindung mit den Vereinigten Staaten hoffe. Gerade dem ihm ver¬
wandtesten Neuengland, von dem es die schärfste Wettbewerbung zu fürchten
hat, würde es Nutzen bringen. Diesem alten, erschöpften Nordosten der
Vereinigten Staaten würde Kanada unberührte Wälder und Felder und der
von den Mittel- und Südstaaten her bedrängten Industrie Neuenglands ein
neues Absatzgebiet zuführen, es würde aber als Acker- und Waldland von dem
Eintritt in die Schutzgemeinschaft selber viel weniger Vorteil haben. Wie so
oft, stehen sich diese nächsten Gebiete am fremdesten gegenüber. Die Provinz
Quebek, einst Unterkanada, mit ihrer starken französischen Bevölkerung und
einer mächtigen katholischen Kirche -- die Bevölkerung Kanadas ist überhaupt
zu mehr als zwei Fttufteilen katholisch --, die sich alte Privilegien bewahrt
hat, würde eine solche Verbindung aus nationalen Gründen ablehnen und könnte
wohl nach dem Ausdruck eines neuengländischen Politikers "das Irland der
Union" werden. Der französische Kanadier ist schon seinem englischen Lands-
mann nicht verständlich, geschweige dem Angloamerikaner, der ihn wegen seiner
starken Zunahme und seines nationalen und kirchlichen Zusammenhalts schon
als Einwandrer nicht liebt. Übrigens haben diese als unwissend, eigensinnig¬
konservativ und abgeschlossen verschrieenen Kanadier große Erfolge als Kolonisten
in Manitoba, wo sich ein westlicher Mittelpunkt ihrer Ausbreitung bildet.

Den Phrasen der Broschürenschreiber, die das Aufgehen Kanadas in den
Vereinigten Staaten ohne weiteres als Notwendigkeit voraussetzen und den
Namen Britisch-Nordnmerika eine hohle Prahlerei nennen, steht endlich der Ge¬
samtcharakter der Bevölkerung gegenüber, mit dem nicht so mechanisch zu rechnen
ist. Und in diesem sind die englischen Züge viel treuer bewahrt als selbst im
neuengländischen. Die Grundursache der Eigenart Kanadas liegt gerade in
seinem engen Anschluß an England. Nie hat eine durch ein breites Meer ge¬
trennte Kolonie das Leben ihres Mutterlandes so mitgelebt. Das Volk, das
sich in nächster Nähe der ganz anders entwickelten selbständigem Vereinigten
Staaten seinen besondern Charakter bewahrt hat, wird das in noch größerm


Zur Kenntnis der englischen Iveltxolitik

nicht mit vollem Recht ihnen allein zugeschriebne Langsamkeit der Entwicklung
Kanadas den Hauptgrund bildeten. Seitdem 1876 die interkoloniale Eisenbahn
Quebek-Hnlifax eröffnet wurde, der 1886 die Canadian Paeifil folgte, traten
kanadische Linien in Wettbewerbung mit amerikanischen, die durch die Gesetz¬
gebung und die gesellschaftlichen Mißstände der Vereinigten Staaten ihnen oft
leichter gemacht worden ist. Erst von da an wurde die Phrase wahr, daß
sich an der langen Linie der kanadischen Grenze die mächtige Welle des Handels
der Vereinigten Staaten breche und in sich zurückrolle. Seitdem hört man
auch öfter als sonst über die lustige Nordostgrenze klage», über die der
große natürliche Weg des nordöstlichen Nordamerikas, der Se. Lorenz, durch
das Naturthvr der schönsten Bucht Nordamerikas in den Ozean mündet.

Es ist längst nicht mehr wahr, daß Kanada nur Vorteile aus der
Verbindung mit den Vereinigten Staaten hoffe. Gerade dem ihm ver¬
wandtesten Neuengland, von dem es die schärfste Wettbewerbung zu fürchten
hat, würde es Nutzen bringen. Diesem alten, erschöpften Nordosten der
Vereinigten Staaten würde Kanada unberührte Wälder und Felder und der
von den Mittel- und Südstaaten her bedrängten Industrie Neuenglands ein
neues Absatzgebiet zuführen, es würde aber als Acker- und Waldland von dem
Eintritt in die Schutzgemeinschaft selber viel weniger Vorteil haben. Wie so
oft, stehen sich diese nächsten Gebiete am fremdesten gegenüber. Die Provinz
Quebek, einst Unterkanada, mit ihrer starken französischen Bevölkerung und
einer mächtigen katholischen Kirche — die Bevölkerung Kanadas ist überhaupt
zu mehr als zwei Fttufteilen katholisch —, die sich alte Privilegien bewahrt
hat, würde eine solche Verbindung aus nationalen Gründen ablehnen und könnte
wohl nach dem Ausdruck eines neuengländischen Politikers „das Irland der
Union" werden. Der französische Kanadier ist schon seinem englischen Lands-
mann nicht verständlich, geschweige dem Angloamerikaner, der ihn wegen seiner
starken Zunahme und seines nationalen und kirchlichen Zusammenhalts schon
als Einwandrer nicht liebt. Übrigens haben diese als unwissend, eigensinnig¬
konservativ und abgeschlossen verschrieenen Kanadier große Erfolge als Kolonisten
in Manitoba, wo sich ein westlicher Mittelpunkt ihrer Ausbreitung bildet.

Den Phrasen der Broschürenschreiber, die das Aufgehen Kanadas in den
Vereinigten Staaten ohne weiteres als Notwendigkeit voraussetzen und den
Namen Britisch-Nordnmerika eine hohle Prahlerei nennen, steht endlich der Ge¬
samtcharakter der Bevölkerung gegenüber, mit dem nicht so mechanisch zu rechnen
ist. Und in diesem sind die englischen Züge viel treuer bewahrt als selbst im
neuengländischen. Die Grundursache der Eigenart Kanadas liegt gerade in
seinem engen Anschluß an England. Nie hat eine durch ein breites Meer ge¬
trennte Kolonie das Leben ihres Mutterlandes so mitgelebt. Das Volk, das
sich in nächster Nähe der ganz anders entwickelten selbständigem Vereinigten
Staaten seinen besondern Charakter bewahrt hat, wird das in noch größerm


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[0077] Zur Kenntnis der englischen Iveltxolitik nicht mit vollem Recht ihnen allein zugeschriebne Langsamkeit der Entwicklung Kanadas den Hauptgrund bildeten. Seitdem 1876 die interkoloniale Eisenbahn Quebek-Hnlifax eröffnet wurde, der 1886 die Canadian Paeifil folgte, traten kanadische Linien in Wettbewerbung mit amerikanischen, die durch die Gesetz¬ gebung und die gesellschaftlichen Mißstände der Vereinigten Staaten ihnen oft leichter gemacht worden ist. Erst von da an wurde die Phrase wahr, daß sich an der langen Linie der kanadischen Grenze die mächtige Welle des Handels der Vereinigten Staaten breche und in sich zurückrolle. Seitdem hört man auch öfter als sonst über die lustige Nordostgrenze klage», über die der große natürliche Weg des nordöstlichen Nordamerikas, der Se. Lorenz, durch das Naturthvr der schönsten Bucht Nordamerikas in den Ozean mündet. Es ist längst nicht mehr wahr, daß Kanada nur Vorteile aus der Verbindung mit den Vereinigten Staaten hoffe. Gerade dem ihm ver¬ wandtesten Neuengland, von dem es die schärfste Wettbewerbung zu fürchten hat, würde es Nutzen bringen. Diesem alten, erschöpften Nordosten der Vereinigten Staaten würde Kanada unberührte Wälder und Felder und der von den Mittel- und Südstaaten her bedrängten Industrie Neuenglands ein neues Absatzgebiet zuführen, es würde aber als Acker- und Waldland von dem Eintritt in die Schutzgemeinschaft selber viel weniger Vorteil haben. Wie so oft, stehen sich diese nächsten Gebiete am fremdesten gegenüber. Die Provinz Quebek, einst Unterkanada, mit ihrer starken französischen Bevölkerung und einer mächtigen katholischen Kirche — die Bevölkerung Kanadas ist überhaupt zu mehr als zwei Fttufteilen katholisch —, die sich alte Privilegien bewahrt hat, würde eine solche Verbindung aus nationalen Gründen ablehnen und könnte wohl nach dem Ausdruck eines neuengländischen Politikers „das Irland der Union" werden. Der französische Kanadier ist schon seinem englischen Lands- mann nicht verständlich, geschweige dem Angloamerikaner, der ihn wegen seiner starken Zunahme und seines nationalen und kirchlichen Zusammenhalts schon als Einwandrer nicht liebt. Übrigens haben diese als unwissend, eigensinnig¬ konservativ und abgeschlossen verschrieenen Kanadier große Erfolge als Kolonisten in Manitoba, wo sich ein westlicher Mittelpunkt ihrer Ausbreitung bildet. Den Phrasen der Broschürenschreiber, die das Aufgehen Kanadas in den Vereinigten Staaten ohne weiteres als Notwendigkeit voraussetzen und den Namen Britisch-Nordnmerika eine hohle Prahlerei nennen, steht endlich der Ge¬ samtcharakter der Bevölkerung gegenüber, mit dem nicht so mechanisch zu rechnen ist. Und in diesem sind die englischen Züge viel treuer bewahrt als selbst im neuengländischen. Die Grundursache der Eigenart Kanadas liegt gerade in seinem engen Anschluß an England. Nie hat eine durch ein breites Meer ge¬ trennte Kolonie das Leben ihres Mutterlandes so mitgelebt. Das Volk, das sich in nächster Nähe der ganz anders entwickelten selbständigem Vereinigten Staaten seinen besondern Charakter bewahrt hat, wird das in noch größerm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/77>, abgerufen am 25.08.2024.