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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

gnügen. Wenn Kanada Zeit behält, was es bei seinem langsamern Tempo
braucht, so wird es trotz der Nähe der Vereinigten Staaten ein ganz andres
Volk in selbständigen Formen bilden, und das gerade ist es, was die Politiker
der Vereinigten Staaten nicht wollen. Das starke französische Element, das
eine sehr starke natürliche Vermehrung zeigt und überhaupt eine der kräftigsten
Rassen Nordamerikas, kirchlich und durch den geschichtlichen Zusammen¬
hang, auch durch Privilegien und Stiftungen gefestigt ist, das Vorwiegen
der nordbritischen und irischen und einer starken deutschen und skandinavisch¬
isländischen Zuwanderung, die geringe Zahl der Neger und Chineseu, die
mildere, gesetzlichere, mehr absorbirende als zerstörende Jndicmerpolitik schaffen
neben den natürlichen Eigenschaften des Landes eine ganz andre Grundlage,
die die Ausfassung der Politiker Lügen straft, Kanada sei zu nichts anderen
bestimmt, als die Vereinigten Staaten im Norden abzurunden. Die politische
Form Kanadas weicht von der der Vereinigten Staaten in einigen wichtigen
Punkten ab, die 1867 mit Bewußtsein festgehalten worden sind. Der Mangel
der Wahlbüreaukratie und der Wechsel der Minister, die Sitze in der Vertre¬
tung haben, je nach deren Abstimmung, sind Vorzüge dieses politischen Körpers,
die selbst von Kanadiern nicht verkannt werden, bei denen die Klage über die
unfreundliche Haltung Kanadas gegenüber den Vereinigten Staaten zur Partei¬
sache geworden ist. Die Korruption bis ins Mark, die den jugendlichen Volks¬
körper der Vereinigten Staaten zerrüttet und seine Seele vergiftet, ist in Ka¬
nada viel weniger tief eingedrungen. Montreal und Toronto sind zwar immer
gern von flüchtige" politischen Schwindlern der Vereinigten Staaten aufgesucht
worden, und die Infektion ist gerade von da aus zu verfolgen gewesen, aber
in der verhältnismäßigen Reinlichkeit des politischen Lebens der Kanadier be¬
wahrheitet es sich, daß sie immer noch mehr englisch als amerikanisch sind.

Die Sympathien der Kanadier für die Vereinigten Staaten haben mit
der Entwicklung des Landes nicht Schritt gehalten. Sie sind größer gewesen,
als Kanada isolirter und ärmer war. Sie verblaßten in dem Maße, als
es dem großen Nachbarlande näher und zugleich in den großen Verkehr trat.
Die Kündigung des für Kanada günstigen Handelsvertrags von 1854 im Jahre
1866 beschleunigte die Vereinigung der kanadischen Gebiete zur Dominion, die
im folgenden Jahre vollzogen wurde, und bezeichnet deu Beginn einer Ära
größerer und schnellerer wirtschaftlicher Entwicklung, die nach einer rasch ver-
wundnen Übergangszeit wirklich folgte. Die große Kapitalmacht Englands,
die sich dabei kühn und billig zeigte, hat damals Sympathien auf dem sterilsten
Boden angesäet. Die Förderung des innern Verkehrs wurde von Anfang an
als eine Hauptaufgabe des neuen Bundes bezeichnet. Man erkannte endlich,
daß, wenn, wie sich der Marquis von Lorne ausdrückte, der kanadische Mantel
einen Rock mit Streifen und Sternen -- den for8 und strixss der Flagge
der Vereinigten Staaten -- bedeckte, die Schwierigkeiten des Verkehrs und die


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

gnügen. Wenn Kanada Zeit behält, was es bei seinem langsamern Tempo
braucht, so wird es trotz der Nähe der Vereinigten Staaten ein ganz andres
Volk in selbständigen Formen bilden, und das gerade ist es, was die Politiker
der Vereinigten Staaten nicht wollen. Das starke französische Element, das
eine sehr starke natürliche Vermehrung zeigt und überhaupt eine der kräftigsten
Rassen Nordamerikas, kirchlich und durch den geschichtlichen Zusammen¬
hang, auch durch Privilegien und Stiftungen gefestigt ist, das Vorwiegen
der nordbritischen und irischen und einer starken deutschen und skandinavisch¬
isländischen Zuwanderung, die geringe Zahl der Neger und Chineseu, die
mildere, gesetzlichere, mehr absorbirende als zerstörende Jndicmerpolitik schaffen
neben den natürlichen Eigenschaften des Landes eine ganz andre Grundlage,
die die Ausfassung der Politiker Lügen straft, Kanada sei zu nichts anderen
bestimmt, als die Vereinigten Staaten im Norden abzurunden. Die politische
Form Kanadas weicht von der der Vereinigten Staaten in einigen wichtigen
Punkten ab, die 1867 mit Bewußtsein festgehalten worden sind. Der Mangel
der Wahlbüreaukratie und der Wechsel der Minister, die Sitze in der Vertre¬
tung haben, je nach deren Abstimmung, sind Vorzüge dieses politischen Körpers,
die selbst von Kanadiern nicht verkannt werden, bei denen die Klage über die
unfreundliche Haltung Kanadas gegenüber den Vereinigten Staaten zur Partei¬
sache geworden ist. Die Korruption bis ins Mark, die den jugendlichen Volks¬
körper der Vereinigten Staaten zerrüttet und seine Seele vergiftet, ist in Ka¬
nada viel weniger tief eingedrungen. Montreal und Toronto sind zwar immer
gern von flüchtige» politischen Schwindlern der Vereinigten Staaten aufgesucht
worden, und die Infektion ist gerade von da aus zu verfolgen gewesen, aber
in der verhältnismäßigen Reinlichkeit des politischen Lebens der Kanadier be¬
wahrheitet es sich, daß sie immer noch mehr englisch als amerikanisch sind.

Die Sympathien der Kanadier für die Vereinigten Staaten haben mit
der Entwicklung des Landes nicht Schritt gehalten. Sie sind größer gewesen,
als Kanada isolirter und ärmer war. Sie verblaßten in dem Maße, als
es dem großen Nachbarlande näher und zugleich in den großen Verkehr trat.
Die Kündigung des für Kanada günstigen Handelsvertrags von 1854 im Jahre
1866 beschleunigte die Vereinigung der kanadischen Gebiete zur Dominion, die
im folgenden Jahre vollzogen wurde, und bezeichnet deu Beginn einer Ära
größerer und schnellerer wirtschaftlicher Entwicklung, die nach einer rasch ver-
wundnen Übergangszeit wirklich folgte. Die große Kapitalmacht Englands,
die sich dabei kühn und billig zeigte, hat damals Sympathien auf dem sterilsten
Boden angesäet. Die Förderung des innern Verkehrs wurde von Anfang an
als eine Hauptaufgabe des neuen Bundes bezeichnet. Man erkannte endlich,
daß, wenn, wie sich der Marquis von Lorne ausdrückte, der kanadische Mantel
einen Rock mit Streifen und Sternen — den for8 und strixss der Flagge
der Vereinigten Staaten — bedeckte, die Schwierigkeiten des Verkehrs und die


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[0076] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik gnügen. Wenn Kanada Zeit behält, was es bei seinem langsamern Tempo braucht, so wird es trotz der Nähe der Vereinigten Staaten ein ganz andres Volk in selbständigen Formen bilden, und das gerade ist es, was die Politiker der Vereinigten Staaten nicht wollen. Das starke französische Element, das eine sehr starke natürliche Vermehrung zeigt und überhaupt eine der kräftigsten Rassen Nordamerikas, kirchlich und durch den geschichtlichen Zusammen¬ hang, auch durch Privilegien und Stiftungen gefestigt ist, das Vorwiegen der nordbritischen und irischen und einer starken deutschen und skandinavisch¬ isländischen Zuwanderung, die geringe Zahl der Neger und Chineseu, die mildere, gesetzlichere, mehr absorbirende als zerstörende Jndicmerpolitik schaffen neben den natürlichen Eigenschaften des Landes eine ganz andre Grundlage, die die Ausfassung der Politiker Lügen straft, Kanada sei zu nichts anderen bestimmt, als die Vereinigten Staaten im Norden abzurunden. Die politische Form Kanadas weicht von der der Vereinigten Staaten in einigen wichtigen Punkten ab, die 1867 mit Bewußtsein festgehalten worden sind. Der Mangel der Wahlbüreaukratie und der Wechsel der Minister, die Sitze in der Vertre¬ tung haben, je nach deren Abstimmung, sind Vorzüge dieses politischen Körpers, die selbst von Kanadiern nicht verkannt werden, bei denen die Klage über die unfreundliche Haltung Kanadas gegenüber den Vereinigten Staaten zur Partei¬ sache geworden ist. Die Korruption bis ins Mark, die den jugendlichen Volks¬ körper der Vereinigten Staaten zerrüttet und seine Seele vergiftet, ist in Ka¬ nada viel weniger tief eingedrungen. Montreal und Toronto sind zwar immer gern von flüchtige» politischen Schwindlern der Vereinigten Staaten aufgesucht worden, und die Infektion ist gerade von da aus zu verfolgen gewesen, aber in der verhältnismäßigen Reinlichkeit des politischen Lebens der Kanadier be¬ wahrheitet es sich, daß sie immer noch mehr englisch als amerikanisch sind. Die Sympathien der Kanadier für die Vereinigten Staaten haben mit der Entwicklung des Landes nicht Schritt gehalten. Sie sind größer gewesen, als Kanada isolirter und ärmer war. Sie verblaßten in dem Maße, als es dem großen Nachbarlande näher und zugleich in den großen Verkehr trat. Die Kündigung des für Kanada günstigen Handelsvertrags von 1854 im Jahre 1866 beschleunigte die Vereinigung der kanadischen Gebiete zur Dominion, die im folgenden Jahre vollzogen wurde, und bezeichnet deu Beginn einer Ära größerer und schnellerer wirtschaftlicher Entwicklung, die nach einer rasch ver- wundnen Übergangszeit wirklich folgte. Die große Kapitalmacht Englands, die sich dabei kühn und billig zeigte, hat damals Sympathien auf dem sterilsten Boden angesäet. Die Förderung des innern Verkehrs wurde von Anfang an als eine Hauptaufgabe des neuen Bundes bezeichnet. Man erkannte endlich, daß, wenn, wie sich der Marquis von Lorne ausdrückte, der kanadische Mantel einen Rock mit Streifen und Sternen — den for8 und strixss der Flagge der Vereinigten Staaten — bedeckte, die Schwierigkeiten des Verkehrs und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/76>, abgerufen am 25.08.2024.