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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

von Ohio und Michigan so behandeln. Sobald die Nordamerikaner unter ein¬
ander die Altersunterschiede bemerken, werden sie ihnen bei den Engländern
nicht mehr den peinlichen Eindruck machen. Kanada gegenüber ist England
sehr klug vorgegangen, indem es die Lehren seines so jäh zerrissenen Verhält¬
nisses zu den Vereinigten Staaten mit geflissentlicher Ruhe und Rücksicht an¬
wandte. Man hat in London nicht gezuckt, wenn in Ottawa mit dem Abfall
an die Vereinigten Staaten gedroht wurde. Als (1882) im kanadischen Par¬
lament das Mißtrauen gegen Übergriffe des Mutterlandes zur Sprache kam,
rief der Marquis os Lorne dieser Vertretung der fast souveränen Kolonien zu:
"Ihr habt die Macht, mit fremden Völkern Vertrüge zu schließen, denn ihr
seid nicht die Unterthanen, sondern die Bundesgenossen eures großen Mutter¬
landes, das jederzeit bereit ist, mit allen Kräften eure Interessen zu wahren
und zu schützen." In der That, was hat England von diesem riesenhaften
Gebiete von Europas Größe mit seinem Senat aus 78 von der Krone er¬
nannten Mitgliedern und seinem Haus der Gemeinen, aus 215 nach einem
liberalen Zensus gewählten Vertretern, seinem von der parlamentarischen
Mehrheit ganz abhängigen Ministerium, seinem obersten Gerichtshof, seinen
eignen Justizgesetzen, seiner Finanz- und Zollverwaltung und seiner Landes¬
verteidigung? Hat es in diesem kolonialen Freistaat mehr als ein Gebiet zum
Abfluß für seine Übervölkerung und einen Absatz für seinen Gewerbfleiß? Und
hat der Governor-General, der die Königin vertritt, mehr zu thun als zu Prä¬
sidiren, zu begnadigen und mit Grazie zu repräsentiren -- seit Jahrzehnten
bekleiden Glieder der höchsten Aristokratie dieses Amt --, zur Not noch in den
Kämpfen der rauhen, demokratisch angehauchten Kanadier zu vermitteln?

Diese Fragen hat man viele Jahre hindurch bejahen hören, wobei noch
hinzugefügt wurde, daß die Einwanderung (1891: 82000) und das Bevöl¬
kerungswachstum (1881 bis 1891: 11,7 Prozent; die Gesamtbevölkerung hat
fünf Millionen überschritten) die geringe Anziehung beweise, die Kanada selbst
für Angelsachsen und Kelten habe, während die Gründungsurkunde der Do¬
minion, die Lritisd-Uortn ^merioa-^ot von 1867 Handel und Verkehr den
Kolonien überlassen habe, die sich seit 1881 durch Schutzzollschranken, kaum
niedriger als die der Vereinigten Staaten, gegen Manchester und Birmingham
abgeschlossen hätten. Auch wird auf die verhältnismäßig starke Jndianerbevöl-
kerung (über 120 000), sowie darauf hingewiesen, daß 30 Prozent der Be¬
völkerung Franzosen von alter Ansässigkeit seien, die in Quebec und Manitoba
dicht sitzen, aus Montreal eine zu zwei Dritteln französische Stadt machen und
zusammen mit 22 Prozent Jrländern und 6 Prozent Deutschen die kanadische
Bevölkerung sehr unenglisch gestalten.

Thatsache bleibt aber doch, daß die Dominion von Kanada samt Neu¬
fundland einen Teil des britischen Weltreichs bildet, daß sie darin eine hervor¬
ragende, wichtige Stellung, wirtschaftlich und politisch, einnimmt, und daß die


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

von Ohio und Michigan so behandeln. Sobald die Nordamerikaner unter ein¬
ander die Altersunterschiede bemerken, werden sie ihnen bei den Engländern
nicht mehr den peinlichen Eindruck machen. Kanada gegenüber ist England
sehr klug vorgegangen, indem es die Lehren seines so jäh zerrissenen Verhält¬
nisses zu den Vereinigten Staaten mit geflissentlicher Ruhe und Rücksicht an¬
wandte. Man hat in London nicht gezuckt, wenn in Ottawa mit dem Abfall
an die Vereinigten Staaten gedroht wurde. Als (1882) im kanadischen Par¬
lament das Mißtrauen gegen Übergriffe des Mutterlandes zur Sprache kam,
rief der Marquis os Lorne dieser Vertretung der fast souveränen Kolonien zu:
„Ihr habt die Macht, mit fremden Völkern Vertrüge zu schließen, denn ihr
seid nicht die Unterthanen, sondern die Bundesgenossen eures großen Mutter¬
landes, das jederzeit bereit ist, mit allen Kräften eure Interessen zu wahren
und zu schützen." In der That, was hat England von diesem riesenhaften
Gebiete von Europas Größe mit seinem Senat aus 78 von der Krone er¬
nannten Mitgliedern und seinem Haus der Gemeinen, aus 215 nach einem
liberalen Zensus gewählten Vertretern, seinem von der parlamentarischen
Mehrheit ganz abhängigen Ministerium, seinem obersten Gerichtshof, seinen
eignen Justizgesetzen, seiner Finanz- und Zollverwaltung und seiner Landes¬
verteidigung? Hat es in diesem kolonialen Freistaat mehr als ein Gebiet zum
Abfluß für seine Übervölkerung und einen Absatz für seinen Gewerbfleiß? Und
hat der Governor-General, der die Königin vertritt, mehr zu thun als zu Prä¬
sidiren, zu begnadigen und mit Grazie zu repräsentiren — seit Jahrzehnten
bekleiden Glieder der höchsten Aristokratie dieses Amt —, zur Not noch in den
Kämpfen der rauhen, demokratisch angehauchten Kanadier zu vermitteln?

Diese Fragen hat man viele Jahre hindurch bejahen hören, wobei noch
hinzugefügt wurde, daß die Einwanderung (1891: 82000) und das Bevöl¬
kerungswachstum (1881 bis 1891: 11,7 Prozent; die Gesamtbevölkerung hat
fünf Millionen überschritten) die geringe Anziehung beweise, die Kanada selbst
für Angelsachsen und Kelten habe, während die Gründungsurkunde der Do¬
minion, die Lritisd-Uortn ^merioa-^ot von 1867 Handel und Verkehr den
Kolonien überlassen habe, die sich seit 1881 durch Schutzzollschranken, kaum
niedriger als die der Vereinigten Staaten, gegen Manchester und Birmingham
abgeschlossen hätten. Auch wird auf die verhältnismäßig starke Jndianerbevöl-
kerung (über 120 000), sowie darauf hingewiesen, daß 30 Prozent der Be¬
völkerung Franzosen von alter Ansässigkeit seien, die in Quebec und Manitoba
dicht sitzen, aus Montreal eine zu zwei Dritteln französische Stadt machen und
zusammen mit 22 Prozent Jrländern und 6 Prozent Deutschen die kanadische
Bevölkerung sehr unenglisch gestalten.

Thatsache bleibt aber doch, daß die Dominion von Kanada samt Neu¬
fundland einen Teil des britischen Weltreichs bildet, daß sie darin eine hervor¬
ragende, wichtige Stellung, wirtschaftlich und politisch, einnimmt, und daß die


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[0072] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik von Ohio und Michigan so behandeln. Sobald die Nordamerikaner unter ein¬ ander die Altersunterschiede bemerken, werden sie ihnen bei den Engländern nicht mehr den peinlichen Eindruck machen. Kanada gegenüber ist England sehr klug vorgegangen, indem es die Lehren seines so jäh zerrissenen Verhält¬ nisses zu den Vereinigten Staaten mit geflissentlicher Ruhe und Rücksicht an¬ wandte. Man hat in London nicht gezuckt, wenn in Ottawa mit dem Abfall an die Vereinigten Staaten gedroht wurde. Als (1882) im kanadischen Par¬ lament das Mißtrauen gegen Übergriffe des Mutterlandes zur Sprache kam, rief der Marquis os Lorne dieser Vertretung der fast souveränen Kolonien zu: „Ihr habt die Macht, mit fremden Völkern Vertrüge zu schließen, denn ihr seid nicht die Unterthanen, sondern die Bundesgenossen eures großen Mutter¬ landes, das jederzeit bereit ist, mit allen Kräften eure Interessen zu wahren und zu schützen." In der That, was hat England von diesem riesenhaften Gebiete von Europas Größe mit seinem Senat aus 78 von der Krone er¬ nannten Mitgliedern und seinem Haus der Gemeinen, aus 215 nach einem liberalen Zensus gewählten Vertretern, seinem von der parlamentarischen Mehrheit ganz abhängigen Ministerium, seinem obersten Gerichtshof, seinen eignen Justizgesetzen, seiner Finanz- und Zollverwaltung und seiner Landes¬ verteidigung? Hat es in diesem kolonialen Freistaat mehr als ein Gebiet zum Abfluß für seine Übervölkerung und einen Absatz für seinen Gewerbfleiß? Und hat der Governor-General, der die Königin vertritt, mehr zu thun als zu Prä¬ sidiren, zu begnadigen und mit Grazie zu repräsentiren — seit Jahrzehnten bekleiden Glieder der höchsten Aristokratie dieses Amt —, zur Not noch in den Kämpfen der rauhen, demokratisch angehauchten Kanadier zu vermitteln? Diese Fragen hat man viele Jahre hindurch bejahen hören, wobei noch hinzugefügt wurde, daß die Einwanderung (1891: 82000) und das Bevöl¬ kerungswachstum (1881 bis 1891: 11,7 Prozent; die Gesamtbevölkerung hat fünf Millionen überschritten) die geringe Anziehung beweise, die Kanada selbst für Angelsachsen und Kelten habe, während die Gründungsurkunde der Do¬ minion, die Lritisd-Uortn ^merioa-^ot von 1867 Handel und Verkehr den Kolonien überlassen habe, die sich seit 1881 durch Schutzzollschranken, kaum niedriger als die der Vereinigten Staaten, gegen Manchester und Birmingham abgeschlossen hätten. Auch wird auf die verhältnismäßig starke Jndianerbevöl- kerung (über 120 000), sowie darauf hingewiesen, daß 30 Prozent der Be¬ völkerung Franzosen von alter Ansässigkeit seien, die in Quebec und Manitoba dicht sitzen, aus Montreal eine zu zwei Dritteln französische Stadt machen und zusammen mit 22 Prozent Jrländern und 6 Prozent Deutschen die kanadische Bevölkerung sehr unenglisch gestalten. Thatsache bleibt aber doch, daß die Dominion von Kanada samt Neu¬ fundland einen Teil des britischen Weltreichs bildet, daß sie darin eine hervor¬ ragende, wichtige Stellung, wirtschaftlich und politisch, einnimmt, und daß die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/72>, abgerufen am 26.08.2024.