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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Der Gedanke ist mir entsetzlich, daß sich meines elenden Leichnams wegen die
Leute erkälten oder gar jemand den Tod holen sollte. Überhaupt hielt er die
allgemeine Leichenrederei für einen Unfug; Leichenreden, sagte er, sollten von
Rechts wegen nur großen Männern und berühmten Persönlichkeiten gehalten
werden. Ich gestand ihm gern zu, daß die Sitte der Leichenreden wie viele
andre Sitten höchst unvernünftig sei, aber ich konnte ihm nicht versprechen, gerade
in diesem Falle den Unfug zu bekämpfen, da man sich auch an mein etwaiges
Verbot nicht gekehrt haben würde. Sehr leid that es ihm, daß ich während
seiner Krankheit die ganze (mir nicht im mindesten beschwerliche) Arbeit allein
besorgen und namentlich, daß ich bei großer Kälte, wenn viel Beichtleute
waren, manchmal vom frühen Morgen bis zum Mittag in der Kirche zu¬
bringen mußte. Er sagte dann wohl: Ich möchte es Ihnen gern mit Gelde
lohnen, möchte Ihnen auch gern etwas hinterlassen, aber die Johanna hat
alles verkocht. Scheu Sie doch mal im Sekretär im zweiten Schuhe rechts
nach; da werden Sie ein Schächtelchen finden; darin müssen noch ein paar
Dukaten sein, davon nehmen Sie sich einen! Seine Hinterlassenschaft, die in
einem Pfandbriefe über fünfhundert Thaler und dem Erlös aus dem Verkaufe
seiner Sachen bestand, habe ich dann dem Testament zufolge einer armen Ver¬
wandten von ihm Übermacht.

Die Pfarrei administrirte ich ein halbes Jahr und blieb dann noch ein
Jahr bei seinem Nachfolger M., einem tüchtigen Geistlichen, aber zugleich ge¬
wandten und liebenswürdigen Weltmanne, der bald der Mittelpunkt der
Geselligkeit des Kreises wurde. In diesem Honoratiorenzirkel waren Sanitäts¬
rath die einzige katholische Familie; außerdem wurde das katholische Element
durch einige Pfarrer vertreten. Ich war schon während meiner Administration
eingeführt worden vou einem Assessor, der um diese Zeit nach sah. versetzt
wurde, und Johanna verfehlte nicht, mir zu sagen, daß mir die Gemeinde
diesen Umgang mit Protestanten übel nähme. Und doch vernachlässigte ich
auch die katholischen Bürger und Bauern nicht, blieb nnr in der einen wie
in der andern Art von Geselligkeit sparsam und ließ mir von der sür meine
Bücher und Privatschüler bestimmten Zeit kein wesentliches Stück abhandeln.

Es war das eine glückliche Zeit für mich. Der Druck der Sorge um
die Meinen war ziemlich gehoben. Von meinen beiden Brüdern war der eine
als Apothekcrgehilfe in Montreux, der andre auf dem Gymnasium ganz wohl.
Die Mutter konnte von ihrem kleinen Verdienste und der kleinen Unterstützung,
die ich ihr schickte, leidlich leben. Ich fing an, mit der neuen Brille, die
meine Sehweite für einige Jahre auf den Grad mäßiger Kurzsichtigkeit hob,
die Welt zu entdecken. Voll freudigen Erstaunens bemerkte ich, als ich das
erstemal damit in eine ziemlich große Schulklasse trat, daß ich bis zur hintersten
Bank die Augen meiner Schüler sah. Ich begann, mir die Gesichter und Ge¬
stalten der Menschen genauer anzusehen, auf die Farbe des Gefieders der


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Der Gedanke ist mir entsetzlich, daß sich meines elenden Leichnams wegen die
Leute erkälten oder gar jemand den Tod holen sollte. Überhaupt hielt er die
allgemeine Leichenrederei für einen Unfug; Leichenreden, sagte er, sollten von
Rechts wegen nur großen Männern und berühmten Persönlichkeiten gehalten
werden. Ich gestand ihm gern zu, daß die Sitte der Leichenreden wie viele
andre Sitten höchst unvernünftig sei, aber ich konnte ihm nicht versprechen, gerade
in diesem Falle den Unfug zu bekämpfen, da man sich auch an mein etwaiges
Verbot nicht gekehrt haben würde. Sehr leid that es ihm, daß ich während
seiner Krankheit die ganze (mir nicht im mindesten beschwerliche) Arbeit allein
besorgen und namentlich, daß ich bei großer Kälte, wenn viel Beichtleute
waren, manchmal vom frühen Morgen bis zum Mittag in der Kirche zu¬
bringen mußte. Er sagte dann wohl: Ich möchte es Ihnen gern mit Gelde
lohnen, möchte Ihnen auch gern etwas hinterlassen, aber die Johanna hat
alles verkocht. Scheu Sie doch mal im Sekretär im zweiten Schuhe rechts
nach; da werden Sie ein Schächtelchen finden; darin müssen noch ein paar
Dukaten sein, davon nehmen Sie sich einen! Seine Hinterlassenschaft, die in
einem Pfandbriefe über fünfhundert Thaler und dem Erlös aus dem Verkaufe
seiner Sachen bestand, habe ich dann dem Testament zufolge einer armen Ver¬
wandten von ihm Übermacht.

Die Pfarrei administrirte ich ein halbes Jahr und blieb dann noch ein
Jahr bei seinem Nachfolger M., einem tüchtigen Geistlichen, aber zugleich ge¬
wandten und liebenswürdigen Weltmanne, der bald der Mittelpunkt der
Geselligkeit des Kreises wurde. In diesem Honoratiorenzirkel waren Sanitäts¬
rath die einzige katholische Familie; außerdem wurde das katholische Element
durch einige Pfarrer vertreten. Ich war schon während meiner Administration
eingeführt worden vou einem Assessor, der um diese Zeit nach sah. versetzt
wurde, und Johanna verfehlte nicht, mir zu sagen, daß mir die Gemeinde
diesen Umgang mit Protestanten übel nähme. Und doch vernachlässigte ich
auch die katholischen Bürger und Bauern nicht, blieb nnr in der einen wie
in der andern Art von Geselligkeit sparsam und ließ mir von der sür meine
Bücher und Privatschüler bestimmten Zeit kein wesentliches Stück abhandeln.

Es war das eine glückliche Zeit für mich. Der Druck der Sorge um
die Meinen war ziemlich gehoben. Von meinen beiden Brüdern war der eine
als Apothekcrgehilfe in Montreux, der andre auf dem Gymnasium ganz wohl.
Die Mutter konnte von ihrem kleinen Verdienste und der kleinen Unterstützung,
die ich ihr schickte, leidlich leben. Ich fing an, mit der neuen Brille, die
meine Sehweite für einige Jahre auf den Grad mäßiger Kurzsichtigkeit hob,
die Welt zu entdecken. Voll freudigen Erstaunens bemerkte ich, als ich das
erstemal damit in eine ziemlich große Schulklasse trat, daß ich bis zur hintersten
Bank die Augen meiner Schüler sah. Ich begann, mir die Gesichter und Ge¬
stalten der Menschen genauer anzusehen, auf die Farbe des Gefieders der


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[0624] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Der Gedanke ist mir entsetzlich, daß sich meines elenden Leichnams wegen die Leute erkälten oder gar jemand den Tod holen sollte. Überhaupt hielt er die allgemeine Leichenrederei für einen Unfug; Leichenreden, sagte er, sollten von Rechts wegen nur großen Männern und berühmten Persönlichkeiten gehalten werden. Ich gestand ihm gern zu, daß die Sitte der Leichenreden wie viele andre Sitten höchst unvernünftig sei, aber ich konnte ihm nicht versprechen, gerade in diesem Falle den Unfug zu bekämpfen, da man sich auch an mein etwaiges Verbot nicht gekehrt haben würde. Sehr leid that es ihm, daß ich während seiner Krankheit die ganze (mir nicht im mindesten beschwerliche) Arbeit allein besorgen und namentlich, daß ich bei großer Kälte, wenn viel Beichtleute waren, manchmal vom frühen Morgen bis zum Mittag in der Kirche zu¬ bringen mußte. Er sagte dann wohl: Ich möchte es Ihnen gern mit Gelde lohnen, möchte Ihnen auch gern etwas hinterlassen, aber die Johanna hat alles verkocht. Scheu Sie doch mal im Sekretär im zweiten Schuhe rechts nach; da werden Sie ein Schächtelchen finden; darin müssen noch ein paar Dukaten sein, davon nehmen Sie sich einen! Seine Hinterlassenschaft, die in einem Pfandbriefe über fünfhundert Thaler und dem Erlös aus dem Verkaufe seiner Sachen bestand, habe ich dann dem Testament zufolge einer armen Ver¬ wandten von ihm Übermacht. Die Pfarrei administrirte ich ein halbes Jahr und blieb dann noch ein Jahr bei seinem Nachfolger M., einem tüchtigen Geistlichen, aber zugleich ge¬ wandten und liebenswürdigen Weltmanne, der bald der Mittelpunkt der Geselligkeit des Kreises wurde. In diesem Honoratiorenzirkel waren Sanitäts¬ rath die einzige katholische Familie; außerdem wurde das katholische Element durch einige Pfarrer vertreten. Ich war schon während meiner Administration eingeführt worden vou einem Assessor, der um diese Zeit nach sah. versetzt wurde, und Johanna verfehlte nicht, mir zu sagen, daß mir die Gemeinde diesen Umgang mit Protestanten übel nähme. Und doch vernachlässigte ich auch die katholischen Bürger und Bauern nicht, blieb nnr in der einen wie in der andern Art von Geselligkeit sparsam und ließ mir von der sür meine Bücher und Privatschüler bestimmten Zeit kein wesentliches Stück abhandeln. Es war das eine glückliche Zeit für mich. Der Druck der Sorge um die Meinen war ziemlich gehoben. Von meinen beiden Brüdern war der eine als Apothekcrgehilfe in Montreux, der andre auf dem Gymnasium ganz wohl. Die Mutter konnte von ihrem kleinen Verdienste und der kleinen Unterstützung, die ich ihr schickte, leidlich leben. Ich fing an, mit der neuen Brille, die meine Sehweite für einige Jahre auf den Grad mäßiger Kurzsichtigkeit hob, die Welt zu entdecken. Voll freudigen Erstaunens bemerkte ich, als ich das erstemal damit in eine ziemlich große Schulklasse trat, daß ich bis zur hintersten Bank die Augen meiner Schüler sah. Ich begann, mir die Gesichter und Ge¬ stalten der Menschen genauer anzusehen, auf die Farbe des Gefieders der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/624>, abgerufen am 25.08.2024.