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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Arzt, hilf dir selber!

Berliner ärztlichen Stcmdesvcreine durch eine Eingabe an den Kultusminister
dem geharnischten Protest Cnyrims anschließen, berichtet das ärztliche Ver¬
einsblatt vom 1. April über drei Broschüren, die, von angesehenen Ärzten
geschrieben, alle mehr oder weniger die Hilfe des Staats anrufen, um den
Ärzten in ihren sozialen Nöten wirksamen Beistand zu leisten. Dr. Zadek in
Berlin kritisirt die heutige Krankenversicherung in höchst abfälliger Weise und
verlangt Unentgeltlichkcit der Krankenpflege und freie Hospitalbehandlung,
Forderungen, die von der Sozialdemokratie auf verschiednen Parteitagen längst
gestellt worden sind; Dr. Zepter in Berlin schlägt die Errichtung von ärzt¬
lichen Syndikaten vor, die, vom Staate anerkannt und mit den nötigen Voll¬
machten ausgestattet, den geschäftlichen Verkehr zwischen ärztlichen "Arbeit¬
gebern" und "Arbeitnehmern" in der Weise regeln sollen, daß sie eine nach
zeitlichen und örtlichen Verhältnissen verschiedne und für alle Arzte verbind¬
liche Lohntaxe ausarbeiten, die Rechnungen der Ärzte nach den Einzelleistungen
festsetzen und ihre Einziehung und Überweisung an die Arzte besorgen;
Dr. Beckers in Hannover endlich verlangt mit dürren Worten die Verstaat¬
lichung des Heilwesens: der Kranke bezahlt für die ihm gewährte ärztliche
Hilfe den Staat, und der legt ihm dafür eine seinem Einkommen entsprechende,
nach der Staatssteuer berechnete Abgabe auf; der Arzt erhält seinen Lohn
vom Staat, und zwar nach einer festen Taxe, die für ältere, durch ihren Beruf
oder Krankheit geschwächte oder mit zahlreicher Familie gesegnete Ärzte nach
bestimmten Regeln erhöht werden kann. Alle drei Verfasser fordern die freie
Arztwahl, die sich auch in ihre Vorschlüge leicht einfügt.

Die hier mitgeteilten Meinungsäußerungen und Thatsachen schildern wohl
besser und eindringlicher als viele Bogen gelehrter Auseinandersetzungen die
Verwirrung, die in den ärztlichen Kreisen herrscht; denn schroffere Gegensätze
als die zwischen der staatlich anerkannten Vertretung des ärztlichen Standes,
die es noch für eine ihrer Hauptaufgaben hält, das Gift der Sozialdemokratie
in den Reihen der Ärzte zu bekämpfen, zwischen Herrn Cnhrim, der von der
Sozialdemokratie sagt, "daß sie für den Fortschritt der menschlichen Gesell¬
schaft gute Früchte getragen habe und noch hervorzubringen verspreche," und
zwischen deu Freischärlern in der Litteratur, die auf ärztlichem Gebiete bereits
zu den äußersten Folgen des Sozialismus durchgedrungen sind, kann es kaum
geben. Aber man sieht wenigstens frische Bewegung und kräftiges Leben; die
Gegensätze stoßen heftig auf einander, und aus dem schroffen Widerstreit der
Meinungen entspringen zwei günstige Folgen: erstens wird eine immer größere
Zahl von Ärzten aus ihrer Gleichgiltigkeit gegen ärztliche Standesfragen und
Interessen herausgerissen, und zweitens wird es in kurzer Zeit zu einer ge¬
nauen Feststellung der Gegensätze, zu einer Klärung der Ansichten und zum
Kampfe um die Durchführung praktischer Forderungen kommen. Und davon
allein ist ein Fortschritt zum bessern auch auf diesem Gebiete zu erwarten.


Arzt, hilf dir selber!

Berliner ärztlichen Stcmdesvcreine durch eine Eingabe an den Kultusminister
dem geharnischten Protest Cnyrims anschließen, berichtet das ärztliche Ver¬
einsblatt vom 1. April über drei Broschüren, die, von angesehenen Ärzten
geschrieben, alle mehr oder weniger die Hilfe des Staats anrufen, um den
Ärzten in ihren sozialen Nöten wirksamen Beistand zu leisten. Dr. Zadek in
Berlin kritisirt die heutige Krankenversicherung in höchst abfälliger Weise und
verlangt Unentgeltlichkcit der Krankenpflege und freie Hospitalbehandlung,
Forderungen, die von der Sozialdemokratie auf verschiednen Parteitagen längst
gestellt worden sind; Dr. Zepter in Berlin schlägt die Errichtung von ärzt¬
lichen Syndikaten vor, die, vom Staate anerkannt und mit den nötigen Voll¬
machten ausgestattet, den geschäftlichen Verkehr zwischen ärztlichen „Arbeit¬
gebern" und „Arbeitnehmern" in der Weise regeln sollen, daß sie eine nach
zeitlichen und örtlichen Verhältnissen verschiedne und für alle Arzte verbind¬
liche Lohntaxe ausarbeiten, die Rechnungen der Ärzte nach den Einzelleistungen
festsetzen und ihre Einziehung und Überweisung an die Arzte besorgen;
Dr. Beckers in Hannover endlich verlangt mit dürren Worten die Verstaat¬
lichung des Heilwesens: der Kranke bezahlt für die ihm gewährte ärztliche
Hilfe den Staat, und der legt ihm dafür eine seinem Einkommen entsprechende,
nach der Staatssteuer berechnete Abgabe auf; der Arzt erhält seinen Lohn
vom Staat, und zwar nach einer festen Taxe, die für ältere, durch ihren Beruf
oder Krankheit geschwächte oder mit zahlreicher Familie gesegnete Ärzte nach
bestimmten Regeln erhöht werden kann. Alle drei Verfasser fordern die freie
Arztwahl, die sich auch in ihre Vorschlüge leicht einfügt.

Die hier mitgeteilten Meinungsäußerungen und Thatsachen schildern wohl
besser und eindringlicher als viele Bogen gelehrter Auseinandersetzungen die
Verwirrung, die in den ärztlichen Kreisen herrscht; denn schroffere Gegensätze
als die zwischen der staatlich anerkannten Vertretung des ärztlichen Standes,
die es noch für eine ihrer Hauptaufgaben hält, das Gift der Sozialdemokratie
in den Reihen der Ärzte zu bekämpfen, zwischen Herrn Cnhrim, der von der
Sozialdemokratie sagt, „daß sie für den Fortschritt der menschlichen Gesell¬
schaft gute Früchte getragen habe und noch hervorzubringen verspreche," und
zwischen deu Freischärlern in der Litteratur, die auf ärztlichem Gebiete bereits
zu den äußersten Folgen des Sozialismus durchgedrungen sind, kann es kaum
geben. Aber man sieht wenigstens frische Bewegung und kräftiges Leben; die
Gegensätze stoßen heftig auf einander, und aus dem schroffen Widerstreit der
Meinungen entspringen zwei günstige Folgen: erstens wird eine immer größere
Zahl von Ärzten aus ihrer Gleichgiltigkeit gegen ärztliche Standesfragen und
Interessen herausgerissen, und zweitens wird es in kurzer Zeit zu einer ge¬
nauen Feststellung der Gegensätze, zu einer Klärung der Ansichten und zum
Kampfe um die Durchführung praktischer Forderungen kommen. Und davon
allein ist ein Fortschritt zum bessern auch auf diesem Gebiete zu erwarten.


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[0597] Arzt, hilf dir selber! Berliner ärztlichen Stcmdesvcreine durch eine Eingabe an den Kultusminister dem geharnischten Protest Cnyrims anschließen, berichtet das ärztliche Ver¬ einsblatt vom 1. April über drei Broschüren, die, von angesehenen Ärzten geschrieben, alle mehr oder weniger die Hilfe des Staats anrufen, um den Ärzten in ihren sozialen Nöten wirksamen Beistand zu leisten. Dr. Zadek in Berlin kritisirt die heutige Krankenversicherung in höchst abfälliger Weise und verlangt Unentgeltlichkcit der Krankenpflege und freie Hospitalbehandlung, Forderungen, die von der Sozialdemokratie auf verschiednen Parteitagen längst gestellt worden sind; Dr. Zepter in Berlin schlägt die Errichtung von ärzt¬ lichen Syndikaten vor, die, vom Staate anerkannt und mit den nötigen Voll¬ machten ausgestattet, den geschäftlichen Verkehr zwischen ärztlichen „Arbeit¬ gebern" und „Arbeitnehmern" in der Weise regeln sollen, daß sie eine nach zeitlichen und örtlichen Verhältnissen verschiedne und für alle Arzte verbind¬ liche Lohntaxe ausarbeiten, die Rechnungen der Ärzte nach den Einzelleistungen festsetzen und ihre Einziehung und Überweisung an die Arzte besorgen; Dr. Beckers in Hannover endlich verlangt mit dürren Worten die Verstaat¬ lichung des Heilwesens: der Kranke bezahlt für die ihm gewährte ärztliche Hilfe den Staat, und der legt ihm dafür eine seinem Einkommen entsprechende, nach der Staatssteuer berechnete Abgabe auf; der Arzt erhält seinen Lohn vom Staat, und zwar nach einer festen Taxe, die für ältere, durch ihren Beruf oder Krankheit geschwächte oder mit zahlreicher Familie gesegnete Ärzte nach bestimmten Regeln erhöht werden kann. Alle drei Verfasser fordern die freie Arztwahl, die sich auch in ihre Vorschlüge leicht einfügt. Die hier mitgeteilten Meinungsäußerungen und Thatsachen schildern wohl besser und eindringlicher als viele Bogen gelehrter Auseinandersetzungen die Verwirrung, die in den ärztlichen Kreisen herrscht; denn schroffere Gegensätze als die zwischen der staatlich anerkannten Vertretung des ärztlichen Standes, die es noch für eine ihrer Hauptaufgaben hält, das Gift der Sozialdemokratie in den Reihen der Ärzte zu bekämpfen, zwischen Herrn Cnhrim, der von der Sozialdemokratie sagt, „daß sie für den Fortschritt der menschlichen Gesell¬ schaft gute Früchte getragen habe und noch hervorzubringen verspreche," und zwischen deu Freischärlern in der Litteratur, die auf ärztlichem Gebiete bereits zu den äußersten Folgen des Sozialismus durchgedrungen sind, kann es kaum geben. Aber man sieht wenigstens frische Bewegung und kräftiges Leben; die Gegensätze stoßen heftig auf einander, und aus dem schroffen Widerstreit der Meinungen entspringen zwei günstige Folgen: erstens wird eine immer größere Zahl von Ärzten aus ihrer Gleichgiltigkeit gegen ärztliche Standesfragen und Interessen herausgerissen, und zweitens wird es in kurzer Zeit zu einer ge¬ nauen Feststellung der Gegensätze, zu einer Klärung der Ansichten und zum Kampfe um die Durchführung praktischer Forderungen kommen. Und davon allein ist ein Fortschritt zum bessern auch auf diesem Gebiete zu erwarten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/597>, abgerufen am 24.08.2024.