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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Unser Irrenwesen

Sachverständige in Zweifel sein, wo Meinung gegen Meinung stehen kann.
Aber diese Grenzfälle sind kein Grund zur Beunruhigung. Sie mögen ja im
ganzen nicht selten sein, aber soweit sie Veranlassung zum Einschreiten werden,
bilden sie, so viel ich weiß, noch nicht ein Prozent aller Geistesstörungen. In
allen übrigen Füllen können Sachverständige gar nicht verschiedner Ansicht
darüber sein, ob eine Geistesstörung vorliegt oder nicht. Aber auch bei jedem
solchen Grenzfall war doch das zweifelhafte Ergebnis der Untersuchung nicht
vorauszusehen; zunächst mußte doch, ganz wie in jedem andern Falle, Ver¬
fahren werden, um erst das Bestehen einer gewöhnlichen Geisteskrankheit aus¬
zuschließen.

Man könnte mir nun vielleicht einwerfen, daß die Zahl der einander
widersprechenden Gutachten das Verhältnis der zweifelhaften Fülle doch un¬
günstiger erscheinen lasse. Aber ein Teil der Widersprüche erklärt sich dadurch,
daß Geistesstörungen zu begutachten waren, die der Vergangenheit angehörten,
und die Sachverständigen den Zeugenaussagen, auf die sie sich allein stützen
konnten, nicht in gleichem Maße vertraute". In allen Fällen, wo der Be¬
gutachtende Zeugenaussagen zu Hilfe nehmen muß, ist ihm dringend anzuraten,
sein Urteil vorsichtiger abzufassen, ' als es gewöhnlich geschieht, denn er ist
nicht dazu berufen, die Richtigkeit der Zeugenaussagen zu prüfen. Die Mehr¬
zahl der Widersprüche rührt aber daher, daß nicht alle, die Gutachten abgeben,
auch wirklich sachverständig sind. Ärzte können nicht ohne weiteres als Sach¬
verständige angesehen werden, sondern nur soweit sie sich in der Jrrcnheilkunde
theoretisch und praktisch ausgebildet haben. Das ist aber nicht allgemein der Fall;
ist doch die Psychiatrie bisher noch nicht einmal Gegenstand der Staatsprüfung!
Aber auch den Kreisphhsikern, die in diesem Fache besonders geprüft worden
sind, sehlt es vielfach an der nötigen Erfahrung. Auch bewirkt ihre Zwitter¬
stellung, infolge deren sie neben ihrer Veamtenthütigkeit ihrer Privatpraxis
nachgehen, leider nur zu oft, daß sie auf ihre schlecht bezahlten amtlichen
Gutachten nicht die genügende Zeit und Sorgfalt verwenden.

Unsre Betrachtungen haben ergeben, daß wir nur in dem tüchtig vor¬
gebildeten Arzte den Sachverständigen zu suchen haben und nirgends sonst.
Er allein kann den Geisteszustand gründlich prüfen und wird auch fast immer
zu einem sichern Urteil gelangen. Fragen wir noch zum Schluß, auf welche
Weise sich etwa die Sicherheit der Untersuchung noch steigern ließe, so kann
uns wieder das Verfahren bei zweifelhaften körperlichen Gebrechen Auskunft
erteilen. Unser Unfallgesetz veranlaßt bekanntlich sehr oft die Prüfung, in
welchem Maße die Arbeitsfähigkeit durch eine Schädigung des Körpers ver¬
mindert worden ist. Es sind das zum Teil Untersuchungen, die zu dem schwie¬
rigsten gehören, was dem Arzt überhaupt zugemutet werden kann. Ruft
man nun da Laien zu seiner Unterstützung herbei? Sieht man nicht vielmehr
das Heil in dem Fortschreiten der Wissenschaft, in der Ausbildung der Such-


Unser Irrenwesen

Sachverständige in Zweifel sein, wo Meinung gegen Meinung stehen kann.
Aber diese Grenzfälle sind kein Grund zur Beunruhigung. Sie mögen ja im
ganzen nicht selten sein, aber soweit sie Veranlassung zum Einschreiten werden,
bilden sie, so viel ich weiß, noch nicht ein Prozent aller Geistesstörungen. In
allen übrigen Füllen können Sachverständige gar nicht verschiedner Ansicht
darüber sein, ob eine Geistesstörung vorliegt oder nicht. Aber auch bei jedem
solchen Grenzfall war doch das zweifelhafte Ergebnis der Untersuchung nicht
vorauszusehen; zunächst mußte doch, ganz wie in jedem andern Falle, Ver¬
fahren werden, um erst das Bestehen einer gewöhnlichen Geisteskrankheit aus¬
zuschließen.

Man könnte mir nun vielleicht einwerfen, daß die Zahl der einander
widersprechenden Gutachten das Verhältnis der zweifelhaften Fülle doch un¬
günstiger erscheinen lasse. Aber ein Teil der Widersprüche erklärt sich dadurch,
daß Geistesstörungen zu begutachten waren, die der Vergangenheit angehörten,
und die Sachverständigen den Zeugenaussagen, auf die sie sich allein stützen
konnten, nicht in gleichem Maße vertraute». In allen Fällen, wo der Be¬
gutachtende Zeugenaussagen zu Hilfe nehmen muß, ist ihm dringend anzuraten,
sein Urteil vorsichtiger abzufassen, ' als es gewöhnlich geschieht, denn er ist
nicht dazu berufen, die Richtigkeit der Zeugenaussagen zu prüfen. Die Mehr¬
zahl der Widersprüche rührt aber daher, daß nicht alle, die Gutachten abgeben,
auch wirklich sachverständig sind. Ärzte können nicht ohne weiteres als Sach¬
verständige angesehen werden, sondern nur soweit sie sich in der Jrrcnheilkunde
theoretisch und praktisch ausgebildet haben. Das ist aber nicht allgemein der Fall;
ist doch die Psychiatrie bisher noch nicht einmal Gegenstand der Staatsprüfung!
Aber auch den Kreisphhsikern, die in diesem Fache besonders geprüft worden
sind, sehlt es vielfach an der nötigen Erfahrung. Auch bewirkt ihre Zwitter¬
stellung, infolge deren sie neben ihrer Veamtenthütigkeit ihrer Privatpraxis
nachgehen, leider nur zu oft, daß sie auf ihre schlecht bezahlten amtlichen
Gutachten nicht die genügende Zeit und Sorgfalt verwenden.

Unsre Betrachtungen haben ergeben, daß wir nur in dem tüchtig vor¬
gebildeten Arzte den Sachverständigen zu suchen haben und nirgends sonst.
Er allein kann den Geisteszustand gründlich prüfen und wird auch fast immer
zu einem sichern Urteil gelangen. Fragen wir noch zum Schluß, auf welche
Weise sich etwa die Sicherheit der Untersuchung noch steigern ließe, so kann
uns wieder das Verfahren bei zweifelhaften körperlichen Gebrechen Auskunft
erteilen. Unser Unfallgesetz veranlaßt bekanntlich sehr oft die Prüfung, in
welchem Maße die Arbeitsfähigkeit durch eine Schädigung des Körpers ver¬
mindert worden ist. Es sind das zum Teil Untersuchungen, die zu dem schwie¬
rigsten gehören, was dem Arzt überhaupt zugemutet werden kann. Ruft
man nun da Laien zu seiner Unterstützung herbei? Sieht man nicht vielmehr
das Heil in dem Fortschreiten der Wissenschaft, in der Ausbildung der Such-


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[0566] Unser Irrenwesen Sachverständige in Zweifel sein, wo Meinung gegen Meinung stehen kann. Aber diese Grenzfälle sind kein Grund zur Beunruhigung. Sie mögen ja im ganzen nicht selten sein, aber soweit sie Veranlassung zum Einschreiten werden, bilden sie, so viel ich weiß, noch nicht ein Prozent aller Geistesstörungen. In allen übrigen Füllen können Sachverständige gar nicht verschiedner Ansicht darüber sein, ob eine Geistesstörung vorliegt oder nicht. Aber auch bei jedem solchen Grenzfall war doch das zweifelhafte Ergebnis der Untersuchung nicht vorauszusehen; zunächst mußte doch, ganz wie in jedem andern Falle, Ver¬ fahren werden, um erst das Bestehen einer gewöhnlichen Geisteskrankheit aus¬ zuschließen. Man könnte mir nun vielleicht einwerfen, daß die Zahl der einander widersprechenden Gutachten das Verhältnis der zweifelhaften Fülle doch un¬ günstiger erscheinen lasse. Aber ein Teil der Widersprüche erklärt sich dadurch, daß Geistesstörungen zu begutachten waren, die der Vergangenheit angehörten, und die Sachverständigen den Zeugenaussagen, auf die sie sich allein stützen konnten, nicht in gleichem Maße vertraute». In allen Fällen, wo der Be¬ gutachtende Zeugenaussagen zu Hilfe nehmen muß, ist ihm dringend anzuraten, sein Urteil vorsichtiger abzufassen, ' als es gewöhnlich geschieht, denn er ist nicht dazu berufen, die Richtigkeit der Zeugenaussagen zu prüfen. Die Mehr¬ zahl der Widersprüche rührt aber daher, daß nicht alle, die Gutachten abgeben, auch wirklich sachverständig sind. Ärzte können nicht ohne weiteres als Sach¬ verständige angesehen werden, sondern nur soweit sie sich in der Jrrcnheilkunde theoretisch und praktisch ausgebildet haben. Das ist aber nicht allgemein der Fall; ist doch die Psychiatrie bisher noch nicht einmal Gegenstand der Staatsprüfung! Aber auch den Kreisphhsikern, die in diesem Fache besonders geprüft worden sind, sehlt es vielfach an der nötigen Erfahrung. Auch bewirkt ihre Zwitter¬ stellung, infolge deren sie neben ihrer Veamtenthütigkeit ihrer Privatpraxis nachgehen, leider nur zu oft, daß sie auf ihre schlecht bezahlten amtlichen Gutachten nicht die genügende Zeit und Sorgfalt verwenden. Unsre Betrachtungen haben ergeben, daß wir nur in dem tüchtig vor¬ gebildeten Arzte den Sachverständigen zu suchen haben und nirgends sonst. Er allein kann den Geisteszustand gründlich prüfen und wird auch fast immer zu einem sichern Urteil gelangen. Fragen wir noch zum Schluß, auf welche Weise sich etwa die Sicherheit der Untersuchung noch steigern ließe, so kann uns wieder das Verfahren bei zweifelhaften körperlichen Gebrechen Auskunft erteilen. Unser Unfallgesetz veranlaßt bekanntlich sehr oft die Prüfung, in welchem Maße die Arbeitsfähigkeit durch eine Schädigung des Körpers ver¬ mindert worden ist. Es sind das zum Teil Untersuchungen, die zu dem schwie¬ rigsten gehören, was dem Arzt überhaupt zugemutet werden kann. Ruft man nun da Laien zu seiner Unterstützung herbei? Sieht man nicht vielmehr das Heil in dem Fortschreiten der Wissenschaft, in der Ausbildung der Such-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/566>, abgerufen am 25.08.2024.