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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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zuschalten, er vermag im allgemeinen auch gar nicht zwischen kranken und ge¬
sunden Teilen seiner Seelenthätigkeit zu unterscheiden. Der krankhafte Reiz
zwingt die erkrankten Teile, sich öfter und lebhafter zu bethätigen und die
Thätigkeit der gesunden zu durchkreuzen. Die Krankheit schreitet ruhig fort,
auch wenn sie zeitweise nicht zur Erscheinung kommt, und macht, so lange sie
besteht, den Kranken dauernd unzurechnungsfähig. Man ist bei ihm keinen
Augenblick sicher, daß nicht ein kranker Gedanke dazwischentritt und sein Handeln
bestimmt, ja man kann es oft zunächst gar nicht entscheiden, ob irgend welche
seiner Angaben den Thatsachen entsprechen oder auf krankhafter Einbildung
beruhen.

Wie aber auf der einen Seite die Zurechnungsfähigkeit des Kranken
zur Zeit anscheinender Vernünftigkeit vom Laien leicht überschätzt wird, so
werden auf der andern Seite zur Zeit offenkundiger Krankheit seine Geistes¬
kräfte eben so leicht unterschützt. Der Kranke, der in der einen Minute eine
scharfsinnige Unterhaltung führt, um gleich darauf wunderliche, aller Wahr¬
scheinlichkeit spottende Wahnideen kundzuthun, braucht von seinem Scharfsinn
nicht das geringste eingebüßt zu haben. Je mehr sich seine Gedanken von
der besonnenen Überlegung des Gesunden zu entfernen scheinen, um fo eher
ist man geneigt, von einem Mangel an Kritik oder einfach von Schwachsinn
zu reden. Aber ganz mit Unrecht. Die logische Schärfe des Denkens sichert
allein nicht die Richtigkeit der Schlüsse, die Voraussetzungen, von denen aus¬
gegangen wird, müssen richtig sein. Die letzten Quellen unsrer Gedanken sind
unsre Empfindungen; sind diese gestört, dann ist auch alles gestört, was sich
daraus aufbaut. Hat z. V. ein Kranker ungewöhnliche Geschmacksempfindungen,
leidet er an einem Gefühl, als würde er elektrisirt, und hört er dazu noch
eine Stimme rufen: Tötet ihn! dann ist es wohl nicht verwunderlich, daß er
sich von Verfolgern umringt glaubt, die ihm mit Gift und elektrischen Ma¬
schinen nach dem Leben trachten. Alle Versuche, ihm diese Sinnestäuschung
auszureden, müssen scheitern, wir lassen uns die Wahrnehmungen unsrer Sinne
nicht Wegdisputiren und können eben so wenig selbst über sie zu Gericht sitzen.
Die Wahngebilde der Kranken sind nichts als Versuche, sich ihre Wahrneh¬
mungen zu erklären, und sie müssen um so wunderlicher ausfallen, je merk¬
würdiger ihre Ursachen sind. Es giebt also hiernach Geisteskranke, die nicht
dümmer sind als andre Leute, sie bilden sogar einen großen Teil der Ge¬
samtheit, und gerade die gefährlichsten gehören zu ihnen. Mit ihrem Denken
ist auch ihr Handeln in eine falsche Richtung geraten und bringt sie bei un¬
geschwächtem Scharfsinn und oft gesteigerter Energie leicht in Streit mit der
gesetzlichen Ordnung. Solche Kranke sind recht wohl imstande, Broschüren zu
schreiben, in denen sie sich in glaubhafter Weise als Opfer der Justiz und
der Irrenärzte hinzustellen wissen. Von ihren Wahnideen braucht kein Wort
in ihre Schriften hinübergegangen zu sein, sie können sie auch in so folge-


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zuschalten, er vermag im allgemeinen auch gar nicht zwischen kranken und ge¬
sunden Teilen seiner Seelenthätigkeit zu unterscheiden. Der krankhafte Reiz
zwingt die erkrankten Teile, sich öfter und lebhafter zu bethätigen und die
Thätigkeit der gesunden zu durchkreuzen. Die Krankheit schreitet ruhig fort,
auch wenn sie zeitweise nicht zur Erscheinung kommt, und macht, so lange sie
besteht, den Kranken dauernd unzurechnungsfähig. Man ist bei ihm keinen
Augenblick sicher, daß nicht ein kranker Gedanke dazwischentritt und sein Handeln
bestimmt, ja man kann es oft zunächst gar nicht entscheiden, ob irgend welche
seiner Angaben den Thatsachen entsprechen oder auf krankhafter Einbildung
beruhen.

Wie aber auf der einen Seite die Zurechnungsfähigkeit des Kranken
zur Zeit anscheinender Vernünftigkeit vom Laien leicht überschätzt wird, so
werden auf der andern Seite zur Zeit offenkundiger Krankheit seine Geistes¬
kräfte eben so leicht unterschützt. Der Kranke, der in der einen Minute eine
scharfsinnige Unterhaltung führt, um gleich darauf wunderliche, aller Wahr¬
scheinlichkeit spottende Wahnideen kundzuthun, braucht von seinem Scharfsinn
nicht das geringste eingebüßt zu haben. Je mehr sich seine Gedanken von
der besonnenen Überlegung des Gesunden zu entfernen scheinen, um fo eher
ist man geneigt, von einem Mangel an Kritik oder einfach von Schwachsinn
zu reden. Aber ganz mit Unrecht. Die logische Schärfe des Denkens sichert
allein nicht die Richtigkeit der Schlüsse, die Voraussetzungen, von denen aus¬
gegangen wird, müssen richtig sein. Die letzten Quellen unsrer Gedanken sind
unsre Empfindungen; sind diese gestört, dann ist auch alles gestört, was sich
daraus aufbaut. Hat z. V. ein Kranker ungewöhnliche Geschmacksempfindungen,
leidet er an einem Gefühl, als würde er elektrisirt, und hört er dazu noch
eine Stimme rufen: Tötet ihn! dann ist es wohl nicht verwunderlich, daß er
sich von Verfolgern umringt glaubt, die ihm mit Gift und elektrischen Ma¬
schinen nach dem Leben trachten. Alle Versuche, ihm diese Sinnestäuschung
auszureden, müssen scheitern, wir lassen uns die Wahrnehmungen unsrer Sinne
nicht Wegdisputiren und können eben so wenig selbst über sie zu Gericht sitzen.
Die Wahngebilde der Kranken sind nichts als Versuche, sich ihre Wahrneh¬
mungen zu erklären, und sie müssen um so wunderlicher ausfallen, je merk¬
würdiger ihre Ursachen sind. Es giebt also hiernach Geisteskranke, die nicht
dümmer sind als andre Leute, sie bilden sogar einen großen Teil der Ge¬
samtheit, und gerade die gefährlichsten gehören zu ihnen. Mit ihrem Denken
ist auch ihr Handeln in eine falsche Richtung geraten und bringt sie bei un¬
geschwächtem Scharfsinn und oft gesteigerter Energie leicht in Streit mit der
gesetzlichen Ordnung. Solche Kranke sind recht wohl imstande, Broschüren zu
schreiben, in denen sie sich in glaubhafter Weise als Opfer der Justiz und
der Irrenärzte hinzustellen wissen. Von ihren Wahnideen braucht kein Wort
in ihre Schriften hinübergegangen zu sein, sie können sie auch in so folge-


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[0564] Unser Jrrenwesen zuschalten, er vermag im allgemeinen auch gar nicht zwischen kranken und ge¬ sunden Teilen seiner Seelenthätigkeit zu unterscheiden. Der krankhafte Reiz zwingt die erkrankten Teile, sich öfter und lebhafter zu bethätigen und die Thätigkeit der gesunden zu durchkreuzen. Die Krankheit schreitet ruhig fort, auch wenn sie zeitweise nicht zur Erscheinung kommt, und macht, so lange sie besteht, den Kranken dauernd unzurechnungsfähig. Man ist bei ihm keinen Augenblick sicher, daß nicht ein kranker Gedanke dazwischentritt und sein Handeln bestimmt, ja man kann es oft zunächst gar nicht entscheiden, ob irgend welche seiner Angaben den Thatsachen entsprechen oder auf krankhafter Einbildung beruhen. Wie aber auf der einen Seite die Zurechnungsfähigkeit des Kranken zur Zeit anscheinender Vernünftigkeit vom Laien leicht überschätzt wird, so werden auf der andern Seite zur Zeit offenkundiger Krankheit seine Geistes¬ kräfte eben so leicht unterschützt. Der Kranke, der in der einen Minute eine scharfsinnige Unterhaltung führt, um gleich darauf wunderliche, aller Wahr¬ scheinlichkeit spottende Wahnideen kundzuthun, braucht von seinem Scharfsinn nicht das geringste eingebüßt zu haben. Je mehr sich seine Gedanken von der besonnenen Überlegung des Gesunden zu entfernen scheinen, um fo eher ist man geneigt, von einem Mangel an Kritik oder einfach von Schwachsinn zu reden. Aber ganz mit Unrecht. Die logische Schärfe des Denkens sichert allein nicht die Richtigkeit der Schlüsse, die Voraussetzungen, von denen aus¬ gegangen wird, müssen richtig sein. Die letzten Quellen unsrer Gedanken sind unsre Empfindungen; sind diese gestört, dann ist auch alles gestört, was sich daraus aufbaut. Hat z. V. ein Kranker ungewöhnliche Geschmacksempfindungen, leidet er an einem Gefühl, als würde er elektrisirt, und hört er dazu noch eine Stimme rufen: Tötet ihn! dann ist es wohl nicht verwunderlich, daß er sich von Verfolgern umringt glaubt, die ihm mit Gift und elektrischen Ma¬ schinen nach dem Leben trachten. Alle Versuche, ihm diese Sinnestäuschung auszureden, müssen scheitern, wir lassen uns die Wahrnehmungen unsrer Sinne nicht Wegdisputiren und können eben so wenig selbst über sie zu Gericht sitzen. Die Wahngebilde der Kranken sind nichts als Versuche, sich ihre Wahrneh¬ mungen zu erklären, und sie müssen um so wunderlicher ausfallen, je merk¬ würdiger ihre Ursachen sind. Es giebt also hiernach Geisteskranke, die nicht dümmer sind als andre Leute, sie bilden sogar einen großen Teil der Ge¬ samtheit, und gerade die gefährlichsten gehören zu ihnen. Mit ihrem Denken ist auch ihr Handeln in eine falsche Richtung geraten und bringt sie bei un¬ geschwächtem Scharfsinn und oft gesteigerter Energie leicht in Streit mit der gesetzlichen Ordnung. Solche Kranke sind recht wohl imstande, Broschüren zu schreiben, in denen sie sich in glaubhafter Weise als Opfer der Justiz und der Irrenärzte hinzustellen wissen. Von ihren Wahnideen braucht kein Wort in ihre Schriften hinübergegangen zu sein, sie können sie auch in so folge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/564>, abgerufen am 26.08.2024.