Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Mittlerweile war der alte Schwärtner in seiner Ofenecke für immer ent¬ Es war ein Glück für unsre Freundschaft, daß ich bald darauf fortkam. Grenzboten II 1S9S 66
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Mittlerweile war der alte Schwärtner in seiner Ofenecke für immer ent¬ Es war ein Glück für unsre Freundschaft, daß ich bald darauf fortkam. Grenzboten II 1S9S 66
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0529" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220205"/> <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome</fw><lb/> <p xml:id="ID_2067"> Mittlerweile war der alte Schwärtner in seiner Ofenecke für immer ent¬<lb/> schlafen, und seine junge Witwe konnte nicht füglich junge Herrenkaffees geben,<lb/> aber selbdritt besuchten wir, sie, ich und Fuchs, die Bahnmeisterfamilie manchmal,<lb/> die auf einem benachbarten Dorfe wohnte. Fuchs schwärmte unterwegs von<lb/> den lieben Heiligen und sprach seine Sehnsucht nach dem Eremitenleben aus,<lb/> von dem ihn bloß die kindliche Pflicht zurückhalte, da ihn seine Eltern nicht<lb/> gut entbehren könnten. Eines Tages sagte die Bahnmeisterin zu Fuchs und<lb/> der Frau Schwärtuer: Also nächsten Sonntag werdet ihr aufgeboten? —<lb/> Wa — was? rief ich entsetzt. Das haben Sie sich nicht gedacht? entgegnete<lb/> die Bahnmeisterin und wollte sich totlachen, wissen Sie denn nicht, daß Sie<lb/> im ganzen Stüdtel der Engel Rafael heißen? Bei der Hochzeit wäre es bei¬<lb/> nahe zu einem Krach gekommen. Das Gespräch geriet auf die Polterabend¬<lb/> bräuche, und Fuchs äußerte, katholische Christen sollten eigentlich einen solchen<lb/> sündhaften Unfug gar nicht dulden. Da sagte der Pfarrer: Wie denn aber<lb/> da, wenn in einem katholischen Pfarrhause alle Tage schon früh um sechse<lb/> Polterabend ist? Stürmische Heiterkeit; aller Augen richteten sich auf Elisen.<lb/> Diese wurde dunkelrot und schleuderte Dolche; glücklicherweise nur mit den<lb/> Augen; die Hände, die schon nach den Tellern griffen, und den Mund bezwang<lb/> sie tapfer. Der nächste Tag war ein Freitag. Heute, dachte ich, wird das<lb/> Essen wohl sehr süß ausfallen. Richtig, die erste Speise war Milchreis, dem<lb/> Pfarrer ein Greuel; er rührte sie nicht an. Dann kamen Plinsen. Elise führte<lb/> zweierlei: mit Sardellen und mit kleinen Rosinen gefüllte. Wollte ich doch<lb/> wetten, dachte ich, daß es heute lauter Nosiuenplinsen sind. Der Pfarrer<lb/> zerschnitt die erste, die zweite, die dritte, die vierte: lauter Rosinen. Seufzend<lb/> schob der arme Mann die Schüssel von sich, lehnte sich zurück und blickte<lb/> mit schmerzlicher Resignation zu dem evangelisch-friedlichen Mahl an der<lb/> Decke empor.</p><lb/> <p xml:id="ID_2068" next="#ID_2069"> Es war ein Glück für unsre Freundschaft, daß ich bald darauf fortkam.<lb/> Elise war argwöhnisch geworden. Sie fürchtete, die neue Rosenkranzgesellschaft<lb/> möchte auf eine Reform des Pfarrhofs ausgehen, und die Ereignisse gaben<lb/> ihr Recht. Der Kaplnn, der mich ablöste, einer von den sauertöpfischen Frommen,<lb/> gab sich ganz der Partei hin, und es kam zu Denunziationen beim geistlichen<lb/> Amte. Dort hatten Bär und Liese einen guten Freund nichtgeistlichen Standes<lb/> — bei dieser Behörde sind auch einige Juristen angestellt —, der in dank¬<lb/> barer Erinnerung an gute Verpflegung schrieb: „Seien Sie unbesorgt, lieber<lb/> Herr Pfarrer, wir werden Ihnen einen schicken, der ganz zu Ihnen paßt."<lb/> Und sie schickten ihm einen, der mit ihm zu Schnapse ging. Aber der Satan<lb/> war wieder so ganz in die Liese gefahren, daß sie sich auch mit dem uicht<lb/> vertrug. Sie hatte die staunenswerte Kühnheit, ihn selbst zu denunziren, und<lb/> sie hatte Erfolg. Weinend sollen sich die beiden Schnapsbrüder, der alte und<lb/> der junge, beim Abschied umarmt haben: Wir hatten doch einander so lieb!</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1S9S 66</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0529]
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
Mittlerweile war der alte Schwärtner in seiner Ofenecke für immer ent¬
schlafen, und seine junge Witwe konnte nicht füglich junge Herrenkaffees geben,
aber selbdritt besuchten wir, sie, ich und Fuchs, die Bahnmeisterfamilie manchmal,
die auf einem benachbarten Dorfe wohnte. Fuchs schwärmte unterwegs von
den lieben Heiligen und sprach seine Sehnsucht nach dem Eremitenleben aus,
von dem ihn bloß die kindliche Pflicht zurückhalte, da ihn seine Eltern nicht
gut entbehren könnten. Eines Tages sagte die Bahnmeisterin zu Fuchs und
der Frau Schwärtuer: Also nächsten Sonntag werdet ihr aufgeboten? —
Wa — was? rief ich entsetzt. Das haben Sie sich nicht gedacht? entgegnete
die Bahnmeisterin und wollte sich totlachen, wissen Sie denn nicht, daß Sie
im ganzen Stüdtel der Engel Rafael heißen? Bei der Hochzeit wäre es bei¬
nahe zu einem Krach gekommen. Das Gespräch geriet auf die Polterabend¬
bräuche, und Fuchs äußerte, katholische Christen sollten eigentlich einen solchen
sündhaften Unfug gar nicht dulden. Da sagte der Pfarrer: Wie denn aber
da, wenn in einem katholischen Pfarrhause alle Tage schon früh um sechse
Polterabend ist? Stürmische Heiterkeit; aller Augen richteten sich auf Elisen.
Diese wurde dunkelrot und schleuderte Dolche; glücklicherweise nur mit den
Augen; die Hände, die schon nach den Tellern griffen, und den Mund bezwang
sie tapfer. Der nächste Tag war ein Freitag. Heute, dachte ich, wird das
Essen wohl sehr süß ausfallen. Richtig, die erste Speise war Milchreis, dem
Pfarrer ein Greuel; er rührte sie nicht an. Dann kamen Plinsen. Elise führte
zweierlei: mit Sardellen und mit kleinen Rosinen gefüllte. Wollte ich doch
wetten, dachte ich, daß es heute lauter Nosiuenplinsen sind. Der Pfarrer
zerschnitt die erste, die zweite, die dritte, die vierte: lauter Rosinen. Seufzend
schob der arme Mann die Schüssel von sich, lehnte sich zurück und blickte
mit schmerzlicher Resignation zu dem evangelisch-friedlichen Mahl an der
Decke empor.
Es war ein Glück für unsre Freundschaft, daß ich bald darauf fortkam.
Elise war argwöhnisch geworden. Sie fürchtete, die neue Rosenkranzgesellschaft
möchte auf eine Reform des Pfarrhofs ausgehen, und die Ereignisse gaben
ihr Recht. Der Kaplnn, der mich ablöste, einer von den sauertöpfischen Frommen,
gab sich ganz der Partei hin, und es kam zu Denunziationen beim geistlichen
Amte. Dort hatten Bär und Liese einen guten Freund nichtgeistlichen Standes
— bei dieser Behörde sind auch einige Juristen angestellt —, der in dank¬
barer Erinnerung an gute Verpflegung schrieb: „Seien Sie unbesorgt, lieber
Herr Pfarrer, wir werden Ihnen einen schicken, der ganz zu Ihnen paßt."
Und sie schickten ihm einen, der mit ihm zu Schnapse ging. Aber der Satan
war wieder so ganz in die Liese gefahren, daß sie sich auch mit dem uicht
vertrug. Sie hatte die staunenswerte Kühnheit, ihn selbst zu denunziren, und
sie hatte Erfolg. Weinend sollen sich die beiden Schnapsbrüder, der alte und
der junge, beim Abschied umarmt haben: Wir hatten doch einander so lieb!
Grenzboten II 1S9S 66
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