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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Italienische Eindrücke

alle Tage im Kaffeehaus oder im Theater, oft bis tief in die Nacht. Dabei
ist mir in der ganzen Zeit nirgends und niemals ein Betrunkner aufgestoßen.
Freilich, unsern norddeutschen Maßstab darf man auch an die Reinlichkeit des
italienischen Volkes nicht legen. Namentlich die Frauen waschen zwar überall
unendlich viel, natürlich mit Vorliebe aus offner Straße, allein zerlumpte, un¬
reinliche Kleidung, ungepflegtes Haar, Hände und Gesichter, die mit der Seife
nur selten in Berührung gekommen sein können, sind doch bei jung und alt
die Regel. Auch die Wohnungen, die, namentlich im Süden, sehr intime Ein¬
blicke gestatten, wenn sie zu ebner Erde liegen und die Thür, oft die einzige
Öffnung des Gelasses für Luft und Licht, wie gewöhnlich offensteht, verraten
wenig Ordnungs- und Reinlichkeitsliebe und vereinigen oft genug Schlafkammer,
Wohnstube und Werkstätte in einem einzigen, zuweilen geradezu höhlenartigen
Gemache. Weit schärfer als bei uns tritt der Gegensatz der Lebenshaltung
zwischen den obern und den untern Schichten der Bevölkerung hervor, denn
die obern lieben Eleganz der persönlichen Erscheinung und geschmackvolle Aus¬
stattung ihrer Wohnräume mindestens ebenso sehr wie unsre höhern Stände.

Ein sehr häßlicher Zug im Volkscharakter, namentlich im Süden, der dem
Deutschen den dauernden Aufenthalt dort wirklich verleiden kann, ist die Gleich-
giltigkeit, ja Grausamkeit gegen die Zugtiere. Was man in Italien auf einen
der ohnehin schweren, zweirndrigen Karren packt, der von zwei oder drei mit¬
unter schwachen Tieren gezogen wird, ist ganz unglaublich, und wenn einmal
einer leer geht, dann hocken gewiß sechs bis acht Kerle drauf, damit der arme
Esel es ja nur nicht einmal leichter hat. Bei starken Steigungen abzuspringen
fällt niemand ein. Ein neapolitanischer Kutscher kann gar nicht fahren, ohne
sein Tier fortwährend mit dem durchdringenden Ruf: "Ah, ah!" anzutreiben,
mit der Peitsche zu knallen und zu schlagen. Dabei haben sie eine barbarische
Zäumung, die dem Tiere mit einem Ruck einen Metallbügel auf die Nase drückt
und es sofort zum Stehen bringt. Hat der Fremde das ewige Schreien und
Schlagen einmal satt, dann hilft nur festes Auftreten. Auf einer Fahrt von
Pompeji nach Castellamare hieb mein Kutscher auf das ganz flott gehende
Pferd so lange hinein, bis es hinten ausschlug und beinahe die Gabel zerbrach,
worauf ich ausstieg und dem Burschen erklärte, wenn er den Gaul nicht auf
der Stelle zur Ruhe brächte, möchte er zum -- fahren, ich würde zu Fuße
gehen. Trinkgeld gabs hinterher natürlich nicht. Selbst offne Wunden bleiben
unbeachtet, und gewöhnlich sehen die Tiere vor Lastwagen auch abgetrieben
genug aus. Diese Grausamkeit ist offenbar noch ein Erbteil der altrömischen
Zeit mit ihren rohen, blutigen Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen. Die Kirche
scheint nichts oder nicht genug dagegen zu thun, hat doch das Tier "keine
Seele." In neuerer Zeit hat sich ein Tierschutzverein in Neapel gebildet, der
allmählich vielleicht etwas ausrichten wird.

Und doch ist der Italiener auch der niedern Stände keineswegs roh; im


Italienische Eindrücke

alle Tage im Kaffeehaus oder im Theater, oft bis tief in die Nacht. Dabei
ist mir in der ganzen Zeit nirgends und niemals ein Betrunkner aufgestoßen.
Freilich, unsern norddeutschen Maßstab darf man auch an die Reinlichkeit des
italienischen Volkes nicht legen. Namentlich die Frauen waschen zwar überall
unendlich viel, natürlich mit Vorliebe aus offner Straße, allein zerlumpte, un¬
reinliche Kleidung, ungepflegtes Haar, Hände und Gesichter, die mit der Seife
nur selten in Berührung gekommen sein können, sind doch bei jung und alt
die Regel. Auch die Wohnungen, die, namentlich im Süden, sehr intime Ein¬
blicke gestatten, wenn sie zu ebner Erde liegen und die Thür, oft die einzige
Öffnung des Gelasses für Luft und Licht, wie gewöhnlich offensteht, verraten
wenig Ordnungs- und Reinlichkeitsliebe und vereinigen oft genug Schlafkammer,
Wohnstube und Werkstätte in einem einzigen, zuweilen geradezu höhlenartigen
Gemache. Weit schärfer als bei uns tritt der Gegensatz der Lebenshaltung
zwischen den obern und den untern Schichten der Bevölkerung hervor, denn
die obern lieben Eleganz der persönlichen Erscheinung und geschmackvolle Aus¬
stattung ihrer Wohnräume mindestens ebenso sehr wie unsre höhern Stände.

Ein sehr häßlicher Zug im Volkscharakter, namentlich im Süden, der dem
Deutschen den dauernden Aufenthalt dort wirklich verleiden kann, ist die Gleich-
giltigkeit, ja Grausamkeit gegen die Zugtiere. Was man in Italien auf einen
der ohnehin schweren, zweirndrigen Karren packt, der von zwei oder drei mit¬
unter schwachen Tieren gezogen wird, ist ganz unglaublich, und wenn einmal
einer leer geht, dann hocken gewiß sechs bis acht Kerle drauf, damit der arme
Esel es ja nur nicht einmal leichter hat. Bei starken Steigungen abzuspringen
fällt niemand ein. Ein neapolitanischer Kutscher kann gar nicht fahren, ohne
sein Tier fortwährend mit dem durchdringenden Ruf: „Ah, ah!" anzutreiben,
mit der Peitsche zu knallen und zu schlagen. Dabei haben sie eine barbarische
Zäumung, die dem Tiere mit einem Ruck einen Metallbügel auf die Nase drückt
und es sofort zum Stehen bringt. Hat der Fremde das ewige Schreien und
Schlagen einmal satt, dann hilft nur festes Auftreten. Auf einer Fahrt von
Pompeji nach Castellamare hieb mein Kutscher auf das ganz flott gehende
Pferd so lange hinein, bis es hinten ausschlug und beinahe die Gabel zerbrach,
worauf ich ausstieg und dem Burschen erklärte, wenn er den Gaul nicht auf
der Stelle zur Ruhe brächte, möchte er zum — fahren, ich würde zu Fuße
gehen. Trinkgeld gabs hinterher natürlich nicht. Selbst offne Wunden bleiben
unbeachtet, und gewöhnlich sehen die Tiere vor Lastwagen auch abgetrieben
genug aus. Diese Grausamkeit ist offenbar noch ein Erbteil der altrömischen
Zeit mit ihren rohen, blutigen Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen. Die Kirche
scheint nichts oder nicht genug dagegen zu thun, hat doch das Tier „keine
Seele." In neuerer Zeit hat sich ein Tierschutzverein in Neapel gebildet, der
allmählich vielleicht etwas ausrichten wird.

Und doch ist der Italiener auch der niedern Stände keineswegs roh; im


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[0522] Italienische Eindrücke alle Tage im Kaffeehaus oder im Theater, oft bis tief in die Nacht. Dabei ist mir in der ganzen Zeit nirgends und niemals ein Betrunkner aufgestoßen. Freilich, unsern norddeutschen Maßstab darf man auch an die Reinlichkeit des italienischen Volkes nicht legen. Namentlich die Frauen waschen zwar überall unendlich viel, natürlich mit Vorliebe aus offner Straße, allein zerlumpte, un¬ reinliche Kleidung, ungepflegtes Haar, Hände und Gesichter, die mit der Seife nur selten in Berührung gekommen sein können, sind doch bei jung und alt die Regel. Auch die Wohnungen, die, namentlich im Süden, sehr intime Ein¬ blicke gestatten, wenn sie zu ebner Erde liegen und die Thür, oft die einzige Öffnung des Gelasses für Luft und Licht, wie gewöhnlich offensteht, verraten wenig Ordnungs- und Reinlichkeitsliebe und vereinigen oft genug Schlafkammer, Wohnstube und Werkstätte in einem einzigen, zuweilen geradezu höhlenartigen Gemache. Weit schärfer als bei uns tritt der Gegensatz der Lebenshaltung zwischen den obern und den untern Schichten der Bevölkerung hervor, denn die obern lieben Eleganz der persönlichen Erscheinung und geschmackvolle Aus¬ stattung ihrer Wohnräume mindestens ebenso sehr wie unsre höhern Stände. Ein sehr häßlicher Zug im Volkscharakter, namentlich im Süden, der dem Deutschen den dauernden Aufenthalt dort wirklich verleiden kann, ist die Gleich- giltigkeit, ja Grausamkeit gegen die Zugtiere. Was man in Italien auf einen der ohnehin schweren, zweirndrigen Karren packt, der von zwei oder drei mit¬ unter schwachen Tieren gezogen wird, ist ganz unglaublich, und wenn einmal einer leer geht, dann hocken gewiß sechs bis acht Kerle drauf, damit der arme Esel es ja nur nicht einmal leichter hat. Bei starken Steigungen abzuspringen fällt niemand ein. Ein neapolitanischer Kutscher kann gar nicht fahren, ohne sein Tier fortwährend mit dem durchdringenden Ruf: „Ah, ah!" anzutreiben, mit der Peitsche zu knallen und zu schlagen. Dabei haben sie eine barbarische Zäumung, die dem Tiere mit einem Ruck einen Metallbügel auf die Nase drückt und es sofort zum Stehen bringt. Hat der Fremde das ewige Schreien und Schlagen einmal satt, dann hilft nur festes Auftreten. Auf einer Fahrt von Pompeji nach Castellamare hieb mein Kutscher auf das ganz flott gehende Pferd so lange hinein, bis es hinten ausschlug und beinahe die Gabel zerbrach, worauf ich ausstieg und dem Burschen erklärte, wenn er den Gaul nicht auf der Stelle zur Ruhe brächte, möchte er zum — fahren, ich würde zu Fuße gehen. Trinkgeld gabs hinterher natürlich nicht. Selbst offne Wunden bleiben unbeachtet, und gewöhnlich sehen die Tiere vor Lastwagen auch abgetrieben genug aus. Diese Grausamkeit ist offenbar noch ein Erbteil der altrömischen Zeit mit ihren rohen, blutigen Tierhetzen und Gladiatorenkämpfen. Die Kirche scheint nichts oder nicht genug dagegen zu thun, hat doch das Tier „keine Seele." In neuerer Zeit hat sich ein Tierschutzverein in Neapel gebildet, der allmählich vielleicht etwas ausrichten wird. Und doch ist der Italiener auch der niedern Stände keineswegs roh; im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/522>, abgerufen am 27.08.2024.