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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der gerichtliche Eid

Fall ist, so ist damit der Beweis geliefert, daß jene Annahme der Wirklichkeit
nicht mehr entspricht, also eine Fiktion ist, die auf keinen Fall die letzte Grund¬
lage des Prozesses sein darf.

Aus den bisherigen Darlegungen ergeben sich zwei Forderungen für die
Gesetzgebung: auf der einen Seite die Abschaffung des Eides im Prozeß, auf
der andern die Bestrafung der wissentlich oder fahrlässig falschen unbeeidigteu
Aussage. Daß nicht jede unwahre Behauptung einer Partei im Prozeß ohne
weiteres strafbar sein kaun, liegt auf der Hand, wohl aber müßte, wenigstens
im Zivilprozeß, die auf richterliche Anordnung in feierlicher Form von der
Partei abgegebne Beteuerung einer Behauptung, wenn dadurch vorsätzlich oder
fahrlässig die Wahrheit verletzt worden wäre, ebenso strafrechtlich geahndet
werden wie jetzt der Meineid oder der falsche Eid. Auch bei Zeugen und Sach¬
verständigen soll nicht jede förmliche Beteuerung der Wahrheit des Zeugnisses
oder Gutachtens, sondern nur die Anrufung Gottes bei dieser Beteuerung
wegfallen.

Blickt man auf die jahrtausendealte Geschichte des Eides zurück, dann
wird man nicht erwarten, daß eine solche mit uralten Gewohnheiten und An¬
schauungen des Volkes verwachsene Einrichtung, wie sie der Eid als gericht¬
liches Beweismittel bildet, von heute auf morgen beseitigt werden könne, ja
man wird eine solche plötzliche Beseitigung nicht einmal als wünschenswert
ansehen dürfen.

Einen ersten Schritt in der hier bezeichneten Richtung, freilich nur einen
recht kleinen, bedeutet der jetzt dem Reichstag vorliegende Entwurf für eine
Änderung der Strafprozeßordnung, wonach die Vereidigung eines Zeugen
im Strafverfahren soll unterbleiben können, wenn sich seine Aussage nach
Überzeugung des Gerichts als offenbar unglaubwürdig oder für die Beurtei¬
lung der Sache als unerheblich herausstellt. Es ist nur ein kleiner Schritt,
aber immerhin zeigt er, wohin die Entwicklung drängt. Kommt hierdurch die
Eidesfrage jetzt zur Erörterung, dann wird man hoffentlich bei dieser Ein¬
schränkung des Eides nicht stehen bleiben, sondern mindestens im Zivilprozeß,
und im Strafprozeß wenigstens bei Übertretungen und geringern Vergehen,
etwa in den zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörigen Sachen, dem
Gericht überhaupt die Entscheidung übertragen, ob ein Zeuge oder Sachverstän¬
diger vereidigt werden soll. Im Zivilprozeß hängt es jetzt von dem Belieben
der Parteien ab, ob ein Zeuge vereidigt werden muß oder nicht. Verzichten
beide Parteien darauf, so unterbleibt die Vereidigung; beliebt es aber auch
nur einer Partei, dann muß die Vereidigung erfolgen, auch wenn der Zeuge
die volle Gewähr dafür bietet und das Gericht nach feinem Vorleben durchaus
davon überzeugt ist, daß der Zeuge auch unvereidigt die reine Wahrheit sagen
werde. Es ist das eine von den vielen Unbegreiflichkeiten, in denen sich der
Gesetzgeber um des lieben Prinzips (hier des sogenannten "Parteibetriebs")


Der gerichtliche Eid

Fall ist, so ist damit der Beweis geliefert, daß jene Annahme der Wirklichkeit
nicht mehr entspricht, also eine Fiktion ist, die auf keinen Fall die letzte Grund¬
lage des Prozesses sein darf.

Aus den bisherigen Darlegungen ergeben sich zwei Forderungen für die
Gesetzgebung: auf der einen Seite die Abschaffung des Eides im Prozeß, auf
der andern die Bestrafung der wissentlich oder fahrlässig falschen unbeeidigteu
Aussage. Daß nicht jede unwahre Behauptung einer Partei im Prozeß ohne
weiteres strafbar sein kaun, liegt auf der Hand, wohl aber müßte, wenigstens
im Zivilprozeß, die auf richterliche Anordnung in feierlicher Form von der
Partei abgegebne Beteuerung einer Behauptung, wenn dadurch vorsätzlich oder
fahrlässig die Wahrheit verletzt worden wäre, ebenso strafrechtlich geahndet
werden wie jetzt der Meineid oder der falsche Eid. Auch bei Zeugen und Sach¬
verständigen soll nicht jede förmliche Beteuerung der Wahrheit des Zeugnisses
oder Gutachtens, sondern nur die Anrufung Gottes bei dieser Beteuerung
wegfallen.

Blickt man auf die jahrtausendealte Geschichte des Eides zurück, dann
wird man nicht erwarten, daß eine solche mit uralten Gewohnheiten und An¬
schauungen des Volkes verwachsene Einrichtung, wie sie der Eid als gericht¬
liches Beweismittel bildet, von heute auf morgen beseitigt werden könne, ja
man wird eine solche plötzliche Beseitigung nicht einmal als wünschenswert
ansehen dürfen.

Einen ersten Schritt in der hier bezeichneten Richtung, freilich nur einen
recht kleinen, bedeutet der jetzt dem Reichstag vorliegende Entwurf für eine
Änderung der Strafprozeßordnung, wonach die Vereidigung eines Zeugen
im Strafverfahren soll unterbleiben können, wenn sich seine Aussage nach
Überzeugung des Gerichts als offenbar unglaubwürdig oder für die Beurtei¬
lung der Sache als unerheblich herausstellt. Es ist nur ein kleiner Schritt,
aber immerhin zeigt er, wohin die Entwicklung drängt. Kommt hierdurch die
Eidesfrage jetzt zur Erörterung, dann wird man hoffentlich bei dieser Ein¬
schränkung des Eides nicht stehen bleiben, sondern mindestens im Zivilprozeß,
und im Strafprozeß wenigstens bei Übertretungen und geringern Vergehen,
etwa in den zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörigen Sachen, dem
Gericht überhaupt die Entscheidung übertragen, ob ein Zeuge oder Sachverstän¬
diger vereidigt werden soll. Im Zivilprozeß hängt es jetzt von dem Belieben
der Parteien ab, ob ein Zeuge vereidigt werden muß oder nicht. Verzichten
beide Parteien darauf, so unterbleibt die Vereidigung; beliebt es aber auch
nur einer Partei, dann muß die Vereidigung erfolgen, auch wenn der Zeuge
die volle Gewähr dafür bietet und das Gericht nach feinem Vorleben durchaus
davon überzeugt ist, daß der Zeuge auch unvereidigt die reine Wahrheit sagen
werde. Es ist das eine von den vielen Unbegreiflichkeiten, in denen sich der
Gesetzgeber um des lieben Prinzips (hier des sogenannten „Parteibetriebs")


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[0512] Der gerichtliche Eid Fall ist, so ist damit der Beweis geliefert, daß jene Annahme der Wirklichkeit nicht mehr entspricht, also eine Fiktion ist, die auf keinen Fall die letzte Grund¬ lage des Prozesses sein darf. Aus den bisherigen Darlegungen ergeben sich zwei Forderungen für die Gesetzgebung: auf der einen Seite die Abschaffung des Eides im Prozeß, auf der andern die Bestrafung der wissentlich oder fahrlässig falschen unbeeidigteu Aussage. Daß nicht jede unwahre Behauptung einer Partei im Prozeß ohne weiteres strafbar sein kaun, liegt auf der Hand, wohl aber müßte, wenigstens im Zivilprozeß, die auf richterliche Anordnung in feierlicher Form von der Partei abgegebne Beteuerung einer Behauptung, wenn dadurch vorsätzlich oder fahrlässig die Wahrheit verletzt worden wäre, ebenso strafrechtlich geahndet werden wie jetzt der Meineid oder der falsche Eid. Auch bei Zeugen und Sach¬ verständigen soll nicht jede förmliche Beteuerung der Wahrheit des Zeugnisses oder Gutachtens, sondern nur die Anrufung Gottes bei dieser Beteuerung wegfallen. Blickt man auf die jahrtausendealte Geschichte des Eides zurück, dann wird man nicht erwarten, daß eine solche mit uralten Gewohnheiten und An¬ schauungen des Volkes verwachsene Einrichtung, wie sie der Eid als gericht¬ liches Beweismittel bildet, von heute auf morgen beseitigt werden könne, ja man wird eine solche plötzliche Beseitigung nicht einmal als wünschenswert ansehen dürfen. Einen ersten Schritt in der hier bezeichneten Richtung, freilich nur einen recht kleinen, bedeutet der jetzt dem Reichstag vorliegende Entwurf für eine Änderung der Strafprozeßordnung, wonach die Vereidigung eines Zeugen im Strafverfahren soll unterbleiben können, wenn sich seine Aussage nach Überzeugung des Gerichts als offenbar unglaubwürdig oder für die Beurtei¬ lung der Sache als unerheblich herausstellt. Es ist nur ein kleiner Schritt, aber immerhin zeigt er, wohin die Entwicklung drängt. Kommt hierdurch die Eidesfrage jetzt zur Erörterung, dann wird man hoffentlich bei dieser Ein¬ schränkung des Eides nicht stehen bleiben, sondern mindestens im Zivilprozeß, und im Strafprozeß wenigstens bei Übertretungen und geringern Vergehen, etwa in den zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörigen Sachen, dem Gericht überhaupt die Entscheidung übertragen, ob ein Zeuge oder Sachverstän¬ diger vereidigt werden soll. Im Zivilprozeß hängt es jetzt von dem Belieben der Parteien ab, ob ein Zeuge vereidigt werden muß oder nicht. Verzichten beide Parteien darauf, so unterbleibt die Vereidigung; beliebt es aber auch nur einer Partei, dann muß die Vereidigung erfolgen, auch wenn der Zeuge die volle Gewähr dafür bietet und das Gericht nach feinem Vorleben durchaus davon überzeugt ist, daß der Zeuge auch unvereidigt die reine Wahrheit sagen werde. Es ist das eine von den vielen Unbegreiflichkeiten, in denen sich der Gesetzgeber um des lieben Prinzips (hier des sogenannten „Parteibetriebs")

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/512>, abgerufen am 26.08.2024.