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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der gerichtliche Eid

bildeten wie bei den gewerblichen Arbeitern in großem Umfang atheistische oder
pantheistische Anschauungen vorherrschen.

Daß man von einem "Gewissenszwang" gegen Atheisten reden könne,
werden Strenggläubige nicht zugeben wollen, wenn es auch gewiß unter den
Atheisten gar manchen giebt, der den Zwang, in feierlicher Form ein von ihm
nicht geglaubtes Wesen anzurufen, als eine Verletzung seiner Überzeugung
empfindet. Jedenfalls aber liegt ein unzulässiger Gewissenszwang gegenüber
denen vor, die es mit dem Gebote Christi, Matthäus 5, 33 bis 37, strenger
nehmen, als es schon bald nach ihm, äußern Bedürfnissen nachgebend, die
Kirche that. Auch wo nicht, wie bei Zeugen oder Sachverständigen, ein un¬
mittelbarer Zwang zum Eide durch Androhung von Geld- und Freiheitsstrafen
ausgeübt wird, sondern wie beim Parteieid im Zivilprozeß die Leistung des
Eides von dem Willen der Partei abhängt, wirkt die Einrichtung des Eides
häufig ungerecht. Ich habe in meiner gerichtlichen Thätigkeit eine Reihe von
Personen kennen gelernt, die grundsätzlich in einem Streit um Mein und
Dein als Parteien keinen Eid leisteten. Sie gingen natürlich jedem Rechts¬
streit möglichst aus dem Wege. Kam es aber doch zu einem solchen, und
der Eid wurde ihnen nach den gesetzlichen Bestimmungen schließlich auferlegt,
so zahlten sie lieber oder verzichteten auf ihren Anspruch, ehe sie den Eid
leisteten, auch wo sie ihre Behauptung hätten mit gutem Gewissen beschwören
können.

Wie hier die Hereinziehung des religiösen Gebiets in das Rechtsleben
einen Nachteil gerade für den (vielleicht übertrieben) gewissenhaften und ängst¬
lichen Mann bewirkt, so führt sie auch noch zu andern Ungerechtigkeiten.
Nehmen wir an, es gelte in einem Rechtsstreit, bei dem auf der einen Seite
ein Strenggläubiger, auf der ander" ein Atheist steht, eine Thatsache zu be¬
weisen, zu deren Feststellung nach dem geltenden Prozeßrecht nur der Eid der
einen oder der andern Partei übrig ist. Beide Parteien sind in ihrem bürger¬
lichen Leben gleich unbescholtene, rechtschaffene Männer, und der Richter hat
keine Veranlassung, der Angabe des einen mehr zu trauen oder zu mißtrauen,
als der des audern. Der eine, dem nach den gewöhnlichen Regeln der Be¬
weislast der Eid aufzuerlegen wäre, ist nun ein Atheist, sein Gegner ein streng¬
gläubiger Christ. Legt der Richter dem erstern den Eid auf, und dieser schwört
ihn, so wird sich der Gegner nicht ohne den Schein eines Rechts darüber be¬
schweren können, daß zu seinen Ungunsten entschieden worden sei auf Grund
eines Eides, der nur der Form nach ein solcher sei, in Wahrheit aber gar
keinen Wert habe, weil der Schwörende ja an die Existenz dessen, den er als
Zeugen der Wahrheit angerufen habe, gar nicht glaube. Legt aber umgekehrt
der Richter gerade mit Rücksicht auf die Ungläubigkeit des einen den Eid dem
Gegner auf, so kann sich wieder der Übergcmgne mit Fug beschweren, daß er
um seiner religiösen Überzeugung willen, deren Freiheit und Gleichberechtigung


Der gerichtliche Eid

bildeten wie bei den gewerblichen Arbeitern in großem Umfang atheistische oder
pantheistische Anschauungen vorherrschen.

Daß man von einem „Gewissenszwang" gegen Atheisten reden könne,
werden Strenggläubige nicht zugeben wollen, wenn es auch gewiß unter den
Atheisten gar manchen giebt, der den Zwang, in feierlicher Form ein von ihm
nicht geglaubtes Wesen anzurufen, als eine Verletzung seiner Überzeugung
empfindet. Jedenfalls aber liegt ein unzulässiger Gewissenszwang gegenüber
denen vor, die es mit dem Gebote Christi, Matthäus 5, 33 bis 37, strenger
nehmen, als es schon bald nach ihm, äußern Bedürfnissen nachgebend, die
Kirche that. Auch wo nicht, wie bei Zeugen oder Sachverständigen, ein un¬
mittelbarer Zwang zum Eide durch Androhung von Geld- und Freiheitsstrafen
ausgeübt wird, sondern wie beim Parteieid im Zivilprozeß die Leistung des
Eides von dem Willen der Partei abhängt, wirkt die Einrichtung des Eides
häufig ungerecht. Ich habe in meiner gerichtlichen Thätigkeit eine Reihe von
Personen kennen gelernt, die grundsätzlich in einem Streit um Mein und
Dein als Parteien keinen Eid leisteten. Sie gingen natürlich jedem Rechts¬
streit möglichst aus dem Wege. Kam es aber doch zu einem solchen, und
der Eid wurde ihnen nach den gesetzlichen Bestimmungen schließlich auferlegt,
so zahlten sie lieber oder verzichteten auf ihren Anspruch, ehe sie den Eid
leisteten, auch wo sie ihre Behauptung hätten mit gutem Gewissen beschwören
können.

Wie hier die Hereinziehung des religiösen Gebiets in das Rechtsleben
einen Nachteil gerade für den (vielleicht übertrieben) gewissenhaften und ängst¬
lichen Mann bewirkt, so führt sie auch noch zu andern Ungerechtigkeiten.
Nehmen wir an, es gelte in einem Rechtsstreit, bei dem auf der einen Seite
ein Strenggläubiger, auf der ander» ein Atheist steht, eine Thatsache zu be¬
weisen, zu deren Feststellung nach dem geltenden Prozeßrecht nur der Eid der
einen oder der andern Partei übrig ist. Beide Parteien sind in ihrem bürger¬
lichen Leben gleich unbescholtene, rechtschaffene Männer, und der Richter hat
keine Veranlassung, der Angabe des einen mehr zu trauen oder zu mißtrauen,
als der des audern. Der eine, dem nach den gewöhnlichen Regeln der Be¬
weislast der Eid aufzuerlegen wäre, ist nun ein Atheist, sein Gegner ein streng¬
gläubiger Christ. Legt der Richter dem erstern den Eid auf, und dieser schwört
ihn, so wird sich der Gegner nicht ohne den Schein eines Rechts darüber be¬
schweren können, daß zu seinen Ungunsten entschieden worden sei auf Grund
eines Eides, der nur der Form nach ein solcher sei, in Wahrheit aber gar
keinen Wert habe, weil der Schwörende ja an die Existenz dessen, den er als
Zeugen der Wahrheit angerufen habe, gar nicht glaube. Legt aber umgekehrt
der Richter gerade mit Rücksicht auf die Ungläubigkeit des einen den Eid dem
Gegner auf, so kann sich wieder der Übergcmgne mit Fug beschweren, daß er
um seiner religiösen Überzeugung willen, deren Freiheit und Gleichberechtigung


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[0509] Der gerichtliche Eid bildeten wie bei den gewerblichen Arbeitern in großem Umfang atheistische oder pantheistische Anschauungen vorherrschen. Daß man von einem „Gewissenszwang" gegen Atheisten reden könne, werden Strenggläubige nicht zugeben wollen, wenn es auch gewiß unter den Atheisten gar manchen giebt, der den Zwang, in feierlicher Form ein von ihm nicht geglaubtes Wesen anzurufen, als eine Verletzung seiner Überzeugung empfindet. Jedenfalls aber liegt ein unzulässiger Gewissenszwang gegenüber denen vor, die es mit dem Gebote Christi, Matthäus 5, 33 bis 37, strenger nehmen, als es schon bald nach ihm, äußern Bedürfnissen nachgebend, die Kirche that. Auch wo nicht, wie bei Zeugen oder Sachverständigen, ein un¬ mittelbarer Zwang zum Eide durch Androhung von Geld- und Freiheitsstrafen ausgeübt wird, sondern wie beim Parteieid im Zivilprozeß die Leistung des Eides von dem Willen der Partei abhängt, wirkt die Einrichtung des Eides häufig ungerecht. Ich habe in meiner gerichtlichen Thätigkeit eine Reihe von Personen kennen gelernt, die grundsätzlich in einem Streit um Mein und Dein als Parteien keinen Eid leisteten. Sie gingen natürlich jedem Rechts¬ streit möglichst aus dem Wege. Kam es aber doch zu einem solchen, und der Eid wurde ihnen nach den gesetzlichen Bestimmungen schließlich auferlegt, so zahlten sie lieber oder verzichteten auf ihren Anspruch, ehe sie den Eid leisteten, auch wo sie ihre Behauptung hätten mit gutem Gewissen beschwören können. Wie hier die Hereinziehung des religiösen Gebiets in das Rechtsleben einen Nachteil gerade für den (vielleicht übertrieben) gewissenhaften und ängst¬ lichen Mann bewirkt, so führt sie auch noch zu andern Ungerechtigkeiten. Nehmen wir an, es gelte in einem Rechtsstreit, bei dem auf der einen Seite ein Strenggläubiger, auf der ander» ein Atheist steht, eine Thatsache zu be¬ weisen, zu deren Feststellung nach dem geltenden Prozeßrecht nur der Eid der einen oder der andern Partei übrig ist. Beide Parteien sind in ihrem bürger¬ lichen Leben gleich unbescholtene, rechtschaffene Männer, und der Richter hat keine Veranlassung, der Angabe des einen mehr zu trauen oder zu mißtrauen, als der des audern. Der eine, dem nach den gewöhnlichen Regeln der Be¬ weislast der Eid aufzuerlegen wäre, ist nun ein Atheist, sein Gegner ein streng¬ gläubiger Christ. Legt der Richter dem erstern den Eid auf, und dieser schwört ihn, so wird sich der Gegner nicht ohne den Schein eines Rechts darüber be¬ schweren können, daß zu seinen Ungunsten entschieden worden sei auf Grund eines Eides, der nur der Form nach ein solcher sei, in Wahrheit aber gar keinen Wert habe, weil der Schwörende ja an die Existenz dessen, den er als Zeugen der Wahrheit angerufen habe, gar nicht glaube. Legt aber umgekehrt der Richter gerade mit Rücksicht auf die Ungläubigkeit des einen den Eid dem Gegner auf, so kann sich wieder der Übergcmgne mit Fug beschweren, daß er um seiner religiösen Überzeugung willen, deren Freiheit und Gleichberechtigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/509>, abgerufen am 26.08.2024.