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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der gerichtliche Lid

Dieser Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung, die der Eid auf dem
Gebiete des Prozesses und des Privatrechts hinter sich hat, erklärt uns einer¬
seits, wie es kommt, daß sich das gerichtliche Verfahren überhaupt des Eides
bedient, auf der andern Seite zeigt er uns aber auch die Richtung, in der
sich die Entwicklung auf diesem Gebiete bewegt hat und bei folgerichtigem Fort¬
gange weiter bewegen muß. An sich sind für die weitere Entwicklung zwei
Wege denkbar. Entweder könnte die Entwicklung wieder nach einem Zustande
hingeführt werden, wo alle Volksgenossen auch Bekenner derselben Religion
sind und nur insoweit, als sie dies sind, auch vom Gesetz als vollberechtigte
Volksgenossen anerkannt werden. Das wäre eine Umkehr der Entwicklung in
der Richtung nach dem ursprünglichen Ausgangspunkte hin, die vor allem die
Aufhebung des Reichsgesetzes vom 3. Juli 1869 und der gleichartigen Be¬
stimmungen der meisten Landesverfassungen voraussetzte. Nach liberaler An¬
sicht wäre eine solche Entwicklung natürlich die ärgste Reaktion, auch wenn
diese Umkehr nicht in dem "Kampf für Religion, Sitte und Ordnung"
durch äußere Zwangsmittel herbeigeführt würde, sondern sich aus einer
Wandlung des Volksgeistes ergäbe, die frei von innen heraus erfolgte.
Auf absehbare Zeit ist jedoch beides gleich unwahrscheinlich. So bleibt
nur der andre Weg offen: die völlige Beseitigung des Eides im gerichtlichen
Verfahren, d. h. des Eides in seiner jetzigen Form der Anrufung Gottes zum
Zeugen.

Daß der heutige Zustand auf diesem Gebiete voller Widersprüche ist, ist
schon im Eingange hervorgehoben worden. Ein Staat, der seinen Angehörigen
die Freiheit giebt, an einen persönlichen Gott zu glauben oder nicht, der allen
dieselben bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte giebt, gleichviel ob sie diesen
Glauben haben oder ob sie dessen Gegenteil offen bekennen, der handelt un¬
zweifelhaft nicht folgerichtig, wenn er trotzdem allen Angehörigen den Zwang
auferlegt, diesen Gott als Zeugen der Wahrheit ihrer Aussage und als Rächer
der UnWahrhaftigkeit anzurufen. Indem der Staat allen seinen Unterthanen
ohne Rücksicht auf ihren Glauben diesen Zwang auferlegt (in Preußen sind
nur zwei Sekten, die Mennoniten und Philipponen von der Eidespslicht be¬
freit), verletzt er einmal offen die von ihm gewährleistete Freiheit des Bekennt¬
nisses, und er entwürdigt diese Anrufung Gottes, indem er sie überhaupt von
einem Menschen zuläßt, der offenkundig das Dasein eines persönlichen Gottes
leugnet oder auch nur anzweifelt. Auch früher hat es solche Leugner und
Zweifler gegeben, aber sie waren nur verschwindende Ausnahmen; heutzutage
ist das nicht mehr so, und es hieße die Augen vor offen liegenden Thatsachen
verschließen, wenn man verkennen wollte, daß die Ungläubigen einen recht
großen Teil des Volkes bilden.

Man mag das bedauern, aber damit kann man die Thatsache nicht aus
der Welt schaffen, daß in den obern wie in den untern Kreisen, bei den Ge-


Der gerichtliche Lid

Dieser Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung, die der Eid auf dem
Gebiete des Prozesses und des Privatrechts hinter sich hat, erklärt uns einer¬
seits, wie es kommt, daß sich das gerichtliche Verfahren überhaupt des Eides
bedient, auf der andern Seite zeigt er uns aber auch die Richtung, in der
sich die Entwicklung auf diesem Gebiete bewegt hat und bei folgerichtigem Fort¬
gange weiter bewegen muß. An sich sind für die weitere Entwicklung zwei
Wege denkbar. Entweder könnte die Entwicklung wieder nach einem Zustande
hingeführt werden, wo alle Volksgenossen auch Bekenner derselben Religion
sind und nur insoweit, als sie dies sind, auch vom Gesetz als vollberechtigte
Volksgenossen anerkannt werden. Das wäre eine Umkehr der Entwicklung in
der Richtung nach dem ursprünglichen Ausgangspunkte hin, die vor allem die
Aufhebung des Reichsgesetzes vom 3. Juli 1869 und der gleichartigen Be¬
stimmungen der meisten Landesverfassungen voraussetzte. Nach liberaler An¬
sicht wäre eine solche Entwicklung natürlich die ärgste Reaktion, auch wenn
diese Umkehr nicht in dem „Kampf für Religion, Sitte und Ordnung"
durch äußere Zwangsmittel herbeigeführt würde, sondern sich aus einer
Wandlung des Volksgeistes ergäbe, die frei von innen heraus erfolgte.
Auf absehbare Zeit ist jedoch beides gleich unwahrscheinlich. So bleibt
nur der andre Weg offen: die völlige Beseitigung des Eides im gerichtlichen
Verfahren, d. h. des Eides in seiner jetzigen Form der Anrufung Gottes zum
Zeugen.

Daß der heutige Zustand auf diesem Gebiete voller Widersprüche ist, ist
schon im Eingange hervorgehoben worden. Ein Staat, der seinen Angehörigen
die Freiheit giebt, an einen persönlichen Gott zu glauben oder nicht, der allen
dieselben bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte giebt, gleichviel ob sie diesen
Glauben haben oder ob sie dessen Gegenteil offen bekennen, der handelt un¬
zweifelhaft nicht folgerichtig, wenn er trotzdem allen Angehörigen den Zwang
auferlegt, diesen Gott als Zeugen der Wahrheit ihrer Aussage und als Rächer
der UnWahrhaftigkeit anzurufen. Indem der Staat allen seinen Unterthanen
ohne Rücksicht auf ihren Glauben diesen Zwang auferlegt (in Preußen sind
nur zwei Sekten, die Mennoniten und Philipponen von der Eidespslicht be¬
freit), verletzt er einmal offen die von ihm gewährleistete Freiheit des Bekennt¬
nisses, und er entwürdigt diese Anrufung Gottes, indem er sie überhaupt von
einem Menschen zuläßt, der offenkundig das Dasein eines persönlichen Gottes
leugnet oder auch nur anzweifelt. Auch früher hat es solche Leugner und
Zweifler gegeben, aber sie waren nur verschwindende Ausnahmen; heutzutage
ist das nicht mehr so, und es hieße die Augen vor offen liegenden Thatsachen
verschließen, wenn man verkennen wollte, daß die Ungläubigen einen recht
großen Teil des Volkes bilden.

Man mag das bedauern, aber damit kann man die Thatsache nicht aus
der Welt schaffen, daß in den obern wie in den untern Kreisen, bei den Ge-


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[0508] Der gerichtliche Lid Dieser Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung, die der Eid auf dem Gebiete des Prozesses und des Privatrechts hinter sich hat, erklärt uns einer¬ seits, wie es kommt, daß sich das gerichtliche Verfahren überhaupt des Eides bedient, auf der andern Seite zeigt er uns aber auch die Richtung, in der sich die Entwicklung auf diesem Gebiete bewegt hat und bei folgerichtigem Fort¬ gange weiter bewegen muß. An sich sind für die weitere Entwicklung zwei Wege denkbar. Entweder könnte die Entwicklung wieder nach einem Zustande hingeführt werden, wo alle Volksgenossen auch Bekenner derselben Religion sind und nur insoweit, als sie dies sind, auch vom Gesetz als vollberechtigte Volksgenossen anerkannt werden. Das wäre eine Umkehr der Entwicklung in der Richtung nach dem ursprünglichen Ausgangspunkte hin, die vor allem die Aufhebung des Reichsgesetzes vom 3. Juli 1869 und der gleichartigen Be¬ stimmungen der meisten Landesverfassungen voraussetzte. Nach liberaler An¬ sicht wäre eine solche Entwicklung natürlich die ärgste Reaktion, auch wenn diese Umkehr nicht in dem „Kampf für Religion, Sitte und Ordnung" durch äußere Zwangsmittel herbeigeführt würde, sondern sich aus einer Wandlung des Volksgeistes ergäbe, die frei von innen heraus erfolgte. Auf absehbare Zeit ist jedoch beides gleich unwahrscheinlich. So bleibt nur der andre Weg offen: die völlige Beseitigung des Eides im gerichtlichen Verfahren, d. h. des Eides in seiner jetzigen Form der Anrufung Gottes zum Zeugen. Daß der heutige Zustand auf diesem Gebiete voller Widersprüche ist, ist schon im Eingange hervorgehoben worden. Ein Staat, der seinen Angehörigen die Freiheit giebt, an einen persönlichen Gott zu glauben oder nicht, der allen dieselben bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte giebt, gleichviel ob sie diesen Glauben haben oder ob sie dessen Gegenteil offen bekennen, der handelt un¬ zweifelhaft nicht folgerichtig, wenn er trotzdem allen Angehörigen den Zwang auferlegt, diesen Gott als Zeugen der Wahrheit ihrer Aussage und als Rächer der UnWahrhaftigkeit anzurufen. Indem der Staat allen seinen Unterthanen ohne Rücksicht auf ihren Glauben diesen Zwang auferlegt (in Preußen sind nur zwei Sekten, die Mennoniten und Philipponen von der Eidespslicht be¬ freit), verletzt er einmal offen die von ihm gewährleistete Freiheit des Bekennt¬ nisses, und er entwürdigt diese Anrufung Gottes, indem er sie überhaupt von einem Menschen zuläßt, der offenkundig das Dasein eines persönlichen Gottes leugnet oder auch nur anzweifelt. Auch früher hat es solche Leugner und Zweifler gegeben, aber sie waren nur verschwindende Ausnahmen; heutzutage ist das nicht mehr so, und es hieße die Augen vor offen liegenden Thatsachen verschließen, wenn man verkennen wollte, daß die Ungläubigen einen recht großen Teil des Volkes bilden. Man mag das bedauern, aber damit kann man die Thatsache nicht aus der Welt schaffen, daß in den obern wie in den untern Kreisen, bei den Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/508>, abgerufen am 26.08.2024.