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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der gerichtliche (Lid

le Betrachtungen über die Eidesnot, die vor einiger Zeit ein
Geistlicher in diesen Blättern veröffentlicht hat, haben das Ver¬
dienst, diese Frage losgelöst zu haben aus der Verquickung mit
den augenblicklichen Erscheinungen, die zwar die Ursache sind,
daß man sich gerade heutzutage lebhafter mit dieser Angelegen¬
heit beschäftigt, die an sich aber den Kern der Frage nicht berühren. Der
erwähnte Aufsatz erstrebt eine grundsätzliche Lösung der Frage. Um diese zu
finden, wirft er die Frage auf, woraus der Staat eigentlich das Recht her¬
leite, überhaupt einen Eid zu fordern, da doch der Eid aus einem Reich
herübergenommen sei, mit dem der Staat an sich nichts zu thun habe.

Bei der ernsten Bedeutung der Angelegenheit für unser ganzes Volksleben
und seine religiöse, sittliche und rechtliche Entwicklung sei es einem Richter
erlaubt, die Ausführungen des Geistlichen in einigen Punkten zu ergänzen. Ich
will hierbei nicht auf die religiöse und sittliche Zulüssigkeit oder Verwerflichkeit
des Schwörens an sich eingehen, sondern mich auf das Gebiet des Rechts
beschränken und auch innerhalb dieser Grenze nur den Eid vor Gericht er¬
örtern, dagegen von dem eidlichen Gelöbnis der Treue absehen, das Fürsten
bei ihrem Regierungsantritt, Abgeordnete bei ihrem Eintritt in die Volks¬
vertretung, Beamte und Soldaten beim Eintritt in den Staats- und Kriegs¬
dienst leisten müssen.

Faßt man, wie es der geistliche Verfasser der Betrachtungen über die
Eidesnot gethan hat, nur die Gegenwart ins Auge, so kann man allerdings
bei einigem Nachdenken nicht umhin, mit ihm verwundert zu fragen, wie der
Staat dazu komme, den Eid zu fordern. Denn es ist wahr: der Staat, der
seinen Angehörigen die Freiheit des Religionsbekenntnisses gewährt, der ihnen
damit also auch freistellt, ob sie überhaupt an einen Gott glauben wollen oder
nicht, und der dabei deu Grundsatz der Gleichstellung in allen bürgerlichen
und staatsbürgerlichen Rechten ohne Rücksicht auf das Glaubensbekenntnis
.ausspricht, dieser Staat handelt weder vom logischen noch vom sittlichen
Standpunkt aus vernünftig, wenn er unter gewissen Umstünden allen seinen
Angehörigen die Pflicht einer Versicherung auferlegt, deren selbstverständliche
Voraussetzung und für deren Wert oder Unwert allein entscheidend der Glaube




Der gerichtliche (Lid

le Betrachtungen über die Eidesnot, die vor einiger Zeit ein
Geistlicher in diesen Blättern veröffentlicht hat, haben das Ver¬
dienst, diese Frage losgelöst zu haben aus der Verquickung mit
den augenblicklichen Erscheinungen, die zwar die Ursache sind,
daß man sich gerade heutzutage lebhafter mit dieser Angelegen¬
heit beschäftigt, die an sich aber den Kern der Frage nicht berühren. Der
erwähnte Aufsatz erstrebt eine grundsätzliche Lösung der Frage. Um diese zu
finden, wirft er die Frage auf, woraus der Staat eigentlich das Recht her¬
leite, überhaupt einen Eid zu fordern, da doch der Eid aus einem Reich
herübergenommen sei, mit dem der Staat an sich nichts zu thun habe.

Bei der ernsten Bedeutung der Angelegenheit für unser ganzes Volksleben
und seine religiöse, sittliche und rechtliche Entwicklung sei es einem Richter
erlaubt, die Ausführungen des Geistlichen in einigen Punkten zu ergänzen. Ich
will hierbei nicht auf die religiöse und sittliche Zulüssigkeit oder Verwerflichkeit
des Schwörens an sich eingehen, sondern mich auf das Gebiet des Rechts
beschränken und auch innerhalb dieser Grenze nur den Eid vor Gericht er¬
örtern, dagegen von dem eidlichen Gelöbnis der Treue absehen, das Fürsten
bei ihrem Regierungsantritt, Abgeordnete bei ihrem Eintritt in die Volks¬
vertretung, Beamte und Soldaten beim Eintritt in den Staats- und Kriegs¬
dienst leisten müssen.

Faßt man, wie es der geistliche Verfasser der Betrachtungen über die
Eidesnot gethan hat, nur die Gegenwart ins Auge, so kann man allerdings
bei einigem Nachdenken nicht umhin, mit ihm verwundert zu fragen, wie der
Staat dazu komme, den Eid zu fordern. Denn es ist wahr: der Staat, der
seinen Angehörigen die Freiheit des Religionsbekenntnisses gewährt, der ihnen
damit also auch freistellt, ob sie überhaupt an einen Gott glauben wollen oder
nicht, und der dabei deu Grundsatz der Gleichstellung in allen bürgerlichen
und staatsbürgerlichen Rechten ohne Rücksicht auf das Glaubensbekenntnis
.ausspricht, dieser Staat handelt weder vom logischen noch vom sittlichen
Standpunkt aus vernünftig, wenn er unter gewissen Umstünden allen seinen
Angehörigen die Pflicht einer Versicherung auferlegt, deren selbstverständliche
Voraussetzung und für deren Wert oder Unwert allein entscheidend der Glaube


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/502>, abgerufen am 22.12.2024.