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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

bührenden Platz streitig machen darf, die Sicherheit, in der wir uns trotz
innerer und äußerer Feinde wiegen, lenkt den Blick von der allgemeinen Wohlfahrt
ab und verleitet uns zu einer kleinlichen Interessenpolitik mit ihrem die Mittel¬
mäßigkeit in den Vordergrund drängenden Parteihader.

Würden wir uns denn aber bester stehen, wenn bei den Wahlen die durch
Bildung und Besitz bevorzugten Klassen den Ausschlag gäben? Wohl kaum.
Die Landtage sind trotz des Diätenbezugs der Mitglieder nicht pflichttreuer
als der Reichstag, und bisher hat sich die bessergestellte Minderheit keineswegs
als am opferwilligsten für das Allgemeinwohl und am wenigsten selbstsüchtig
für ihre Souderinteressen gezeigt. Die Weltmachtstellung Deutschlands liegt
den Volksmassen ebenso am Herzen wie den bevorzugten; es fehlt auch nicht
die Einsicht, daß eine solche Stellung ohne die Hälfte aller Macht, ohne eine
große Seemacht auf die Dauer nicht zu behaupten ist und ohne diese für
Deutschland eine Kolonialpolitik so viel bedeutet wie den zweiten Schritt thun,
ehe man den ersten gethan hat. Die Hauptschuld aber, daß es uns nicht
gelingt, auch auf dem Meere die uns gebührende Macht zu entfalten, trägt
die kleinliche Finanzpolitik der Besitzenden. Sie wollen es nicht verstehen, daß
sich eines nicht für alle schickt, und eine Sparsamkeit, die das kleine Preußen
groß gemacht hat, bei dem großen Deutschland recht übel angebracht ist, ob¬
gleich uns England, das ohne seine Schuldenlast von vielen Milliarden nie¬
mals seine drückende Überlegenheit erlangt haben würde, lehrt, wie man mit
großen Schulden sehr reich werden kann. Die Agrarier und Tabakindustriellen
wirken für ihre Interessen nicht weniger eigennützig als die Sozialdemokraten
sür die ihrigen. Es ist nur ein Vorurteil, die Verführung der Arbeitermassen
dnrch Luftschlösser für gefährlicher zu halten, als den Bauernfaug durch die
Aussicht auf einen verbürgten Mindestpreis für Getreide. Nur der durch
Lebenserfahrungen gereifte Verstand und gefestigte Charakter ist solchen Be-
thörungen schwerer zugänglich; er genießt in allen Volksklassen das Ansehen,
das dem reifern Alter zukommt, er wäre imstande, den richtigen nationalen
Willen zum Ausdruck zu bringen.

Als beachtenswerte Vorschläge zur Änderung des Wahlrechts sind zu er¬
wähnen: die Abschaffung der geheimen Wahl, der Beginn des Wahlrechts mit
dem zurückgelegten dreißigsten Lebensjahre. Aber es ist eine unbegründete Ver¬
mutung, daß die Öffentlichkeit der Wahl ein von dem bisherigen abweichendes
Wahlergebnis zeitigen würde, anders als durch eine gewisse Wahlbeeinflnssung
könnte sie es jedenfalls nicht erreichen, und sie würde uuter keinen Umständen
dazu dienen, den nationalen Willen besser und richtiger zum Ausdruck zu
bringen. Der Vorschlag einer Altersgrenze von dreißig Jahren geht zwar
von der richtigen Voraussetzung aus, dem reifern Urteil den größern Einfluß
zu geben, ist aber doch ein Mißgriff. Die jüngern Männer mögen durch¬
schnittlich politisch unreif sein, sie sind immerhin eine mächtige politische Größe,


Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

bührenden Platz streitig machen darf, die Sicherheit, in der wir uns trotz
innerer und äußerer Feinde wiegen, lenkt den Blick von der allgemeinen Wohlfahrt
ab und verleitet uns zu einer kleinlichen Interessenpolitik mit ihrem die Mittel¬
mäßigkeit in den Vordergrund drängenden Parteihader.

Würden wir uns denn aber bester stehen, wenn bei den Wahlen die durch
Bildung und Besitz bevorzugten Klassen den Ausschlag gäben? Wohl kaum.
Die Landtage sind trotz des Diätenbezugs der Mitglieder nicht pflichttreuer
als der Reichstag, und bisher hat sich die bessergestellte Minderheit keineswegs
als am opferwilligsten für das Allgemeinwohl und am wenigsten selbstsüchtig
für ihre Souderinteressen gezeigt. Die Weltmachtstellung Deutschlands liegt
den Volksmassen ebenso am Herzen wie den bevorzugten; es fehlt auch nicht
die Einsicht, daß eine solche Stellung ohne die Hälfte aller Macht, ohne eine
große Seemacht auf die Dauer nicht zu behaupten ist und ohne diese für
Deutschland eine Kolonialpolitik so viel bedeutet wie den zweiten Schritt thun,
ehe man den ersten gethan hat. Die Hauptschuld aber, daß es uns nicht
gelingt, auch auf dem Meere die uns gebührende Macht zu entfalten, trägt
die kleinliche Finanzpolitik der Besitzenden. Sie wollen es nicht verstehen, daß
sich eines nicht für alle schickt, und eine Sparsamkeit, die das kleine Preußen
groß gemacht hat, bei dem großen Deutschland recht übel angebracht ist, ob¬
gleich uns England, das ohne seine Schuldenlast von vielen Milliarden nie¬
mals seine drückende Überlegenheit erlangt haben würde, lehrt, wie man mit
großen Schulden sehr reich werden kann. Die Agrarier und Tabakindustriellen
wirken für ihre Interessen nicht weniger eigennützig als die Sozialdemokraten
sür die ihrigen. Es ist nur ein Vorurteil, die Verführung der Arbeitermassen
dnrch Luftschlösser für gefährlicher zu halten, als den Bauernfaug durch die
Aussicht auf einen verbürgten Mindestpreis für Getreide. Nur der durch
Lebenserfahrungen gereifte Verstand und gefestigte Charakter ist solchen Be-
thörungen schwerer zugänglich; er genießt in allen Volksklassen das Ansehen,
das dem reifern Alter zukommt, er wäre imstande, den richtigen nationalen
Willen zum Ausdruck zu bringen.

Als beachtenswerte Vorschläge zur Änderung des Wahlrechts sind zu er¬
wähnen: die Abschaffung der geheimen Wahl, der Beginn des Wahlrechts mit
dem zurückgelegten dreißigsten Lebensjahre. Aber es ist eine unbegründete Ver¬
mutung, daß die Öffentlichkeit der Wahl ein von dem bisherigen abweichendes
Wahlergebnis zeitigen würde, anders als durch eine gewisse Wahlbeeinflnssung
könnte sie es jedenfalls nicht erreichen, und sie würde uuter keinen Umständen
dazu dienen, den nationalen Willen besser und richtiger zum Ausdruck zu
bringen. Der Vorschlag einer Altersgrenze von dreißig Jahren geht zwar
von der richtigen Voraussetzung aus, dem reifern Urteil den größern Einfluß
zu geben, ist aber doch ein Mißgriff. Die jüngern Männer mögen durch¬
schnittlich politisch unreif sein, sie sind immerhin eine mächtige politische Größe,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/500>, abgerufen am 25.08.2024.