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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

besseres Verständnis für die notwendigen Staatsbedürfnissc als in den höhern
Bevölkerungsklasfen gefunden habe, der Vater des Wahlrechts, das der Stimme
des Ministers und des Proletariers gleiche Vedeutuug giebt, hat selbst während
der jetzt so berechtigten Mißstimmung nicht erkennen lassen, daß er an der
grundsätzlichen Richtigkeit des allgemeinen gleichen Wahlrechts zweifle. Man
könnte meinen, daß der Fürst eher den Reichstag umgehen, ihn gewissermaßen
zu einem Scheinrecht Herabdrücken wolle; aber glücklicherweise hat der große
Mann selbst dafür gesorgt, daß das nicht so leicht geschehen kaun. Die wich¬
tigsten Lebensbedingungen des Reichs, sein Heer, seine Marine und zum großen
Teil auch seine Finanzen sind von den Beschlüssen des Reichstags abhängig,
denn das Reich hat nicht nur die Gesetzgebung über das gesamte Zollwesen,
sondern auch ausnahmslos die Besteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen
Salzes und Tabaks. Dann ist es aber gerade doch der Reichstag, in dem
alle Meinungsarten der Bevölkerung zum Ausdruck kommen, die Landtage, die,
um auch an ein Wort Bismarcks zu erinnern, aus dem denkbar schlechtesten
Wahlsystem hervorgehen, bieten kein Sicherheitsventil für die öffentliche Mei-
nung. Es ist übrigens bei aller Verbesserungsbedürftigkeit des Reichstags doch
eine große Ungerechtigkeit, seine Fähigkeiten und Leistungen so tief unter die
der Landtage zu stellen. Die Durchschnittsbefühigung der Reichstagsabgeord-
neten ist uicht geringer als die der Abgeordneten der einzelnen Landtage, fast
alle hervorragende Vertreter der Parteien haben Doppelmandate inne. Die
leitende Rolle in unsrer Nation spielen aber statt der Parlamentarier die Leute
mit dem verfehlten Beruf, und von den Parlamenten ist sie auf die Presse
übergegangen, man hört dort fast nichts, was nicht hier schon vorher und
besser gesagt worden wäre. Die menschlichen Kräfte bewähren sich in der Not
am besten. Von den Zeiten des großen Alexander bis auf die des großen
Friedrich haben die kleinern Staaten mehr zu leisten vermocht als die in ihrem
Bestände weniger gefährdeten großen Staatsgebilde. Daß sich der päpstliche
Stuhl aus der tiefsten Entsittlichung wieder zu einem leuchtenden sittlichen
Vorbilde der Menschheit erhoben hat, verdankt er nicht den Gläubigen, sondern
Luther. In der Konfliktszeit, jenem bedauerlichen Kampfe, hatten wir ein
Parlament von hoher geistiger Bedeutung. Durch den Kampf ums Dasein,
durch die Maigesetze und das Sozialistengesetz haben Zentrum und Sozial-
dcmokrcttie an Kraft und Macht gewonnen. So aber wie die Kräfte erstarken,
wenn sie sich bewähren müssen, wie der turor tsuwniczus erst erwacht, wenn
welscher Übermut an unsre Thore pocht, so wirkt umgekehrt das Gefühl der
Überlegenheit lähmend. Unsre nationale Vertretung würde sich vielleicht zu
höherer Leistungsfähigkeit und Reife entwickelt haben, wenn unsre großen Er¬
folge nicht so beispiellos schnell errungen worden wären, sondern unausgesetzt
das ernsteste Streben für sie hätte wirken müssen. Das stolze Selbstgefühl,
daß wir an der Spitze der Nationen "marschieren" und uns niemand den ge-


Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

besseres Verständnis für die notwendigen Staatsbedürfnissc als in den höhern
Bevölkerungsklasfen gefunden habe, der Vater des Wahlrechts, das der Stimme
des Ministers und des Proletariers gleiche Vedeutuug giebt, hat selbst während
der jetzt so berechtigten Mißstimmung nicht erkennen lassen, daß er an der
grundsätzlichen Richtigkeit des allgemeinen gleichen Wahlrechts zweifle. Man
könnte meinen, daß der Fürst eher den Reichstag umgehen, ihn gewissermaßen
zu einem Scheinrecht Herabdrücken wolle; aber glücklicherweise hat der große
Mann selbst dafür gesorgt, daß das nicht so leicht geschehen kaun. Die wich¬
tigsten Lebensbedingungen des Reichs, sein Heer, seine Marine und zum großen
Teil auch seine Finanzen sind von den Beschlüssen des Reichstags abhängig,
denn das Reich hat nicht nur die Gesetzgebung über das gesamte Zollwesen,
sondern auch ausnahmslos die Besteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen
Salzes und Tabaks. Dann ist es aber gerade doch der Reichstag, in dem
alle Meinungsarten der Bevölkerung zum Ausdruck kommen, die Landtage, die,
um auch an ein Wort Bismarcks zu erinnern, aus dem denkbar schlechtesten
Wahlsystem hervorgehen, bieten kein Sicherheitsventil für die öffentliche Mei-
nung. Es ist übrigens bei aller Verbesserungsbedürftigkeit des Reichstags doch
eine große Ungerechtigkeit, seine Fähigkeiten und Leistungen so tief unter die
der Landtage zu stellen. Die Durchschnittsbefühigung der Reichstagsabgeord-
neten ist uicht geringer als die der Abgeordneten der einzelnen Landtage, fast
alle hervorragende Vertreter der Parteien haben Doppelmandate inne. Die
leitende Rolle in unsrer Nation spielen aber statt der Parlamentarier die Leute
mit dem verfehlten Beruf, und von den Parlamenten ist sie auf die Presse
übergegangen, man hört dort fast nichts, was nicht hier schon vorher und
besser gesagt worden wäre. Die menschlichen Kräfte bewähren sich in der Not
am besten. Von den Zeiten des großen Alexander bis auf die des großen
Friedrich haben die kleinern Staaten mehr zu leisten vermocht als die in ihrem
Bestände weniger gefährdeten großen Staatsgebilde. Daß sich der päpstliche
Stuhl aus der tiefsten Entsittlichung wieder zu einem leuchtenden sittlichen
Vorbilde der Menschheit erhoben hat, verdankt er nicht den Gläubigen, sondern
Luther. In der Konfliktszeit, jenem bedauerlichen Kampfe, hatten wir ein
Parlament von hoher geistiger Bedeutung. Durch den Kampf ums Dasein,
durch die Maigesetze und das Sozialistengesetz haben Zentrum und Sozial-
dcmokrcttie an Kraft und Macht gewonnen. So aber wie die Kräfte erstarken,
wenn sie sich bewähren müssen, wie der turor tsuwniczus erst erwacht, wenn
welscher Übermut an unsre Thore pocht, so wirkt umgekehrt das Gefühl der
Überlegenheit lähmend. Unsre nationale Vertretung würde sich vielleicht zu
höherer Leistungsfähigkeit und Reife entwickelt haben, wenn unsre großen Er¬
folge nicht so beispiellos schnell errungen worden wären, sondern unausgesetzt
das ernsteste Streben für sie hätte wirken müssen. Das stolze Selbstgefühl,
daß wir an der Spitze der Nationen „marschieren" und uns niemand den ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/499>, abgerufen am 25.08.2024.