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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

kömmlinge im guten und im schlechten Sinne sind, in unserm jungen deutschen
Reiche unsre Gesetze oft, ehe sie Zeit gehabt haben, sich einzuleben, und die
Schroffheit unsrer innern Kämpfe erinnert von Anfang an etwas an den Hoch¬
mut und die absprechende Art des Emporkömmlings.

Noch vor zwanzig Jahren hat man die Frage aufwerfen können, ob es
nicht besser sei, sich überhaupt ohne Parlament zu behelfen, und Vismarck hat
damals wiederholt Gelegenheit nehmen müssen, klar zu machen, daß in Deutsch¬
land kein einsichtiger Staatsmann die Verantwortung übernehmen möchte, ohne
Parlament zu regieren. Heute sind die Stimmen für die absolute Herrschaft
der Regierung verstummt, die Überzeugung von der Unentbehrlichkeit der parla¬
mentarischen Volksvertretung ist allgemein befestigt, weil man erkannt hat, daß
die Notwendigkeit von Staatseinrichtungen nicht lediglich nach ihrer Zweck¬
mäßigkeit zur Förderung des Gemeinwohls beurteilt werden darf. Sind doch
die Führer jener Stimmen sogar selbst dahin gekommen, von ihrem Rechte,
der Regierung entgegenzutreten, ausgiebigen agitatorischen Gebrauch zu machen.
Auf die jetzt hervorgetretne Neigung zu einem frischen, frohen Staatsstreich
durch verfassungswidrigen Erlaß eines neuen Wahlgesetzes paßt aber das be¬
kannte Wort: L'ost xws an'un oriens, (z'sse uns tanto. Der Verfasfungs-
bruch wäre das verhängnisvolle Beispiel einer Revolution von oben, und er
würde ein trauriges Vorspiel eines traurigen Rückzugs sein, wenn er von einem
demokratischen Wahlrecht absehen wollte, sich also nicht mit dem begnügte,
was auch auf verfassungsmäßigen Wege zu erreichen ist. Gesetzt, die Ein¬
führung unsers demokratischen Wahlrechts hätte seinerzeit vermieden werden
können und sollen, so wäre die Folge gewesen, daß die Kämpfe dafür leiden¬
schaftlich und ununterbrochen gewütet hätten, wir würden es heute mutmaßlich
doch haben und nur um die Erfahrung ärmer sein, wie es sich bewährt hat.
Eine solche in der geschichtlichen Entwicklung begründete Maßregel kann wohl
zu früh ergriffen, aber niemals rückgängig gemacht werden. Jede Agitation
gegen Freiheiten und Volksrechte, die einmal gewährt sind, wird von der ge¬
schichtlichen Entwicklung überholt und schließlich mit dem Fluch der Lächer¬
lichkeit beladen. Die Aufhebung der Erbunterthänigkeit und die Neugestaltung
des preußischen Staats durch die Stein-Hardenbergische Verfassung wurde zu
ihrer Zeit auch von den bevorzugten Klassen als etwas empfunden, wofür die
Bevölkerung noch nicht reif sei. Jetzt lächeln wir, wenn wir lesen, wie sich
1811 die Stunde dagegen verwahrten, daß "aus dem alten ehrlichen branden¬
burgischen Preußen ein neumodischer Judenstaat gemacht werden solle."

Aus Friedrichsruh haben wir kürzlich die Worte vernommen, "daß die
Erfolge der nationalen Entwicklung eines Landes auf der Minorität der Ge¬
bildeten beruhen und wir den Schwerpunkt unsrer politischen Entwicklung neben
dem Bundesrat in den Einzellandtagen zu suchen haben." Fürst Bismarck,
der früher oft wiederholt hat, daß er in den breiten Massen des Volkes ein


Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage

kömmlinge im guten und im schlechten Sinne sind, in unserm jungen deutschen
Reiche unsre Gesetze oft, ehe sie Zeit gehabt haben, sich einzuleben, und die
Schroffheit unsrer innern Kämpfe erinnert von Anfang an etwas an den Hoch¬
mut und die absprechende Art des Emporkömmlings.

Noch vor zwanzig Jahren hat man die Frage aufwerfen können, ob es
nicht besser sei, sich überhaupt ohne Parlament zu behelfen, und Vismarck hat
damals wiederholt Gelegenheit nehmen müssen, klar zu machen, daß in Deutsch¬
land kein einsichtiger Staatsmann die Verantwortung übernehmen möchte, ohne
Parlament zu regieren. Heute sind die Stimmen für die absolute Herrschaft
der Regierung verstummt, die Überzeugung von der Unentbehrlichkeit der parla¬
mentarischen Volksvertretung ist allgemein befestigt, weil man erkannt hat, daß
die Notwendigkeit von Staatseinrichtungen nicht lediglich nach ihrer Zweck¬
mäßigkeit zur Förderung des Gemeinwohls beurteilt werden darf. Sind doch
die Führer jener Stimmen sogar selbst dahin gekommen, von ihrem Rechte,
der Regierung entgegenzutreten, ausgiebigen agitatorischen Gebrauch zu machen.
Auf die jetzt hervorgetretne Neigung zu einem frischen, frohen Staatsstreich
durch verfassungswidrigen Erlaß eines neuen Wahlgesetzes paßt aber das be¬
kannte Wort: L'ost xws an'un oriens, (z'sse uns tanto. Der Verfasfungs-
bruch wäre das verhängnisvolle Beispiel einer Revolution von oben, und er
würde ein trauriges Vorspiel eines traurigen Rückzugs sein, wenn er von einem
demokratischen Wahlrecht absehen wollte, sich also nicht mit dem begnügte,
was auch auf verfassungsmäßigen Wege zu erreichen ist. Gesetzt, die Ein¬
führung unsers demokratischen Wahlrechts hätte seinerzeit vermieden werden
können und sollen, so wäre die Folge gewesen, daß die Kämpfe dafür leiden¬
schaftlich und ununterbrochen gewütet hätten, wir würden es heute mutmaßlich
doch haben und nur um die Erfahrung ärmer sein, wie es sich bewährt hat.
Eine solche in der geschichtlichen Entwicklung begründete Maßregel kann wohl
zu früh ergriffen, aber niemals rückgängig gemacht werden. Jede Agitation
gegen Freiheiten und Volksrechte, die einmal gewährt sind, wird von der ge¬
schichtlichen Entwicklung überholt und schließlich mit dem Fluch der Lächer¬
lichkeit beladen. Die Aufhebung der Erbunterthänigkeit und die Neugestaltung
des preußischen Staats durch die Stein-Hardenbergische Verfassung wurde zu
ihrer Zeit auch von den bevorzugten Klassen als etwas empfunden, wofür die
Bevölkerung noch nicht reif sei. Jetzt lächeln wir, wenn wir lesen, wie sich
1811 die Stunde dagegen verwahrten, daß „aus dem alten ehrlichen branden¬
burgischen Preußen ein neumodischer Judenstaat gemacht werden solle."

Aus Friedrichsruh haben wir kürzlich die Worte vernommen, „daß die
Erfolge der nationalen Entwicklung eines Landes auf der Minorität der Ge¬
bildeten beruhen und wir den Schwerpunkt unsrer politischen Entwicklung neben
dem Bundesrat in den Einzellandtagen zu suchen haben." Fürst Bismarck,
der früher oft wiederholt hat, daß er in den breiten Massen des Volkes ein


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[0498] Das Wahlrecht zum deutschen Reichstage kömmlinge im guten und im schlechten Sinne sind, in unserm jungen deutschen Reiche unsre Gesetze oft, ehe sie Zeit gehabt haben, sich einzuleben, und die Schroffheit unsrer innern Kämpfe erinnert von Anfang an etwas an den Hoch¬ mut und die absprechende Art des Emporkömmlings. Noch vor zwanzig Jahren hat man die Frage aufwerfen können, ob es nicht besser sei, sich überhaupt ohne Parlament zu behelfen, und Vismarck hat damals wiederholt Gelegenheit nehmen müssen, klar zu machen, daß in Deutsch¬ land kein einsichtiger Staatsmann die Verantwortung übernehmen möchte, ohne Parlament zu regieren. Heute sind die Stimmen für die absolute Herrschaft der Regierung verstummt, die Überzeugung von der Unentbehrlichkeit der parla¬ mentarischen Volksvertretung ist allgemein befestigt, weil man erkannt hat, daß die Notwendigkeit von Staatseinrichtungen nicht lediglich nach ihrer Zweck¬ mäßigkeit zur Förderung des Gemeinwohls beurteilt werden darf. Sind doch die Führer jener Stimmen sogar selbst dahin gekommen, von ihrem Rechte, der Regierung entgegenzutreten, ausgiebigen agitatorischen Gebrauch zu machen. Auf die jetzt hervorgetretne Neigung zu einem frischen, frohen Staatsstreich durch verfassungswidrigen Erlaß eines neuen Wahlgesetzes paßt aber das be¬ kannte Wort: L'ost xws an'un oriens, (z'sse uns tanto. Der Verfasfungs- bruch wäre das verhängnisvolle Beispiel einer Revolution von oben, und er würde ein trauriges Vorspiel eines traurigen Rückzugs sein, wenn er von einem demokratischen Wahlrecht absehen wollte, sich also nicht mit dem begnügte, was auch auf verfassungsmäßigen Wege zu erreichen ist. Gesetzt, die Ein¬ führung unsers demokratischen Wahlrechts hätte seinerzeit vermieden werden können und sollen, so wäre die Folge gewesen, daß die Kämpfe dafür leiden¬ schaftlich und ununterbrochen gewütet hätten, wir würden es heute mutmaßlich doch haben und nur um die Erfahrung ärmer sein, wie es sich bewährt hat. Eine solche in der geschichtlichen Entwicklung begründete Maßregel kann wohl zu früh ergriffen, aber niemals rückgängig gemacht werden. Jede Agitation gegen Freiheiten und Volksrechte, die einmal gewährt sind, wird von der ge¬ schichtlichen Entwicklung überholt und schließlich mit dem Fluch der Lächer¬ lichkeit beladen. Die Aufhebung der Erbunterthänigkeit und die Neugestaltung des preußischen Staats durch die Stein-Hardenbergische Verfassung wurde zu ihrer Zeit auch von den bevorzugten Klassen als etwas empfunden, wofür die Bevölkerung noch nicht reif sei. Jetzt lächeln wir, wenn wir lesen, wie sich 1811 die Stunde dagegen verwahrten, daß „aus dem alten ehrlichen branden¬ burgischen Preußen ein neumodischer Judenstaat gemacht werden solle." Aus Friedrichsruh haben wir kürzlich die Worte vernommen, „daß die Erfolge der nationalen Entwicklung eines Landes auf der Minorität der Ge¬ bildeten beruhen und wir den Schwerpunkt unsrer politischen Entwicklung neben dem Bundesrat in den Einzellandtagen zu suchen haben." Fürst Bismarck, der früher oft wiederholt hat, daß er in den breiten Massen des Volkes ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/498>, abgerufen am 25.08.2024.