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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

man ni su anstemperireu lossen -- das war sein Bescheid, mochte jemand
krank oder ein kirchliches Gebäude baufällig geworden, oder eine Revolution
ausgebrochen sein, oder die Liese wettern, oder der vor beständiger Ungeduld
zappelnde Kantor erklären, daß er mit seinem Gehalt nicht mehr auskomme
und seine Lage nicht mehr vierundzwanzig Stunden lang ertragen werde. Diese
Weisheit hatte ihn auch in der Revolution von 1848 gerettet. Als ein
wütender Haufe den Pfarrhof umtobte und schwur, daß man den verdammten
katholischen Pfaffen mitsamt dem bösen Weibsbilde verbrennen wolle, war er
vor die Thür gewatschelt und hatte gefragt: Na Kinder, was wollt ihr denn
eegentlich, wollt ihr en Schnops? Darauf hatten sie alle gelacht über das
drollige Gesicht, das er dazu schnitt, und er hatte mit gelacht, und hatte die
Schnapspnlle herumgehen lassen, und die Revolution war vorläufig zu Ende.
Und wird nicht selbst ein europäischer Groszstaat seit vierhundert Jahren nach
dem Grundsatze regiert: austemperireu lassen, dem Grundsatze, den Kaiser
Friedrich III. (oder IV.) zur Habsburgischen Familientradition gemacht hat,
von der eigentlich nur die temperamentvollern Führer der Gegenreformation
abgewichen sind? Und wohl dem Hause Habsburg, daß es an dem bewährten
Grundsatze festhält! Hätte man an der Donau andre Methoden versucht, so
wäre der Kaiserstaat wohl längst aus dem Leime gegangen. Die Völker freilich
fühlen sich nicht immer behaglich dabei und geberden sich manchmal wie der
Nehberger Kantor.

Als ich den Pfarrer für den Borromäusverein zu Pressen unternahm,
schnitt er die Diskussion mit der Bemerkung ab: 'S is ja alles bloß Geld¬
schneiderei! 'S ist ja alles bloß Geldschneiderei -- so hieß es, wenn ein
neuer Verein gegründet, eine Eisenbahn gebant, ein Gesetz beraten, eine neue
Vcleuchtmigsart erfunden oder ein Fest veranstaltet wurde. Und so hat er
schon vor Karl Marx das Wesen des Kapitalismus durchschaut und den
Grund zur materialistischen Geschichtsphilosophie gelegt. Übrigens gelang es
mir, den Beitrag aus ihm herauszupressen, nur sträubte er sich aufs neue,
als er sich aus der Liste, die ich ihm vorlegte, ein Buch auswählen sollte:
'S ist ja alles bloß Geldschneiderei, ächzte er fortwährend, indem er das
Blatt, das er verkehrt in der Hand hielt, hin und her wendete. Habsüchtig
war er nicht, aber geizig. Es kostete unendliche Mühe, ihm einen Thaler zu
entwinden, auch wenn er ihn zu zahlen verpflichtet war, dagegen that er
nichts, seine Einkünfte zu erhöhen. Die Stolgebühren, die freilich unbedeutend
waren, trieb er nicht ein, wenn sie nicht von selber eingingen, und mit dem
Pachtzins, den er für seine drei Widmuten forderte, waren seine Pachtbauern
-- ausnahmslos Protestanten -- sehr zufrieden; aus Dankbarkeit schickten
sie Berge von Kirmcskncheu ans den Pfarrhof.

Sein dritter Weisheitsspruch war: Jedes Ding hat seine zwei Seiten;
den bekam ich zu hören, so oft ich jemanden oder irgend etwas lobte. Und


Grenzboten II 18SK 60
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

man ni su anstemperireu lossen — das war sein Bescheid, mochte jemand
krank oder ein kirchliches Gebäude baufällig geworden, oder eine Revolution
ausgebrochen sein, oder die Liese wettern, oder der vor beständiger Ungeduld
zappelnde Kantor erklären, daß er mit seinem Gehalt nicht mehr auskomme
und seine Lage nicht mehr vierundzwanzig Stunden lang ertragen werde. Diese
Weisheit hatte ihn auch in der Revolution von 1848 gerettet. Als ein
wütender Haufe den Pfarrhof umtobte und schwur, daß man den verdammten
katholischen Pfaffen mitsamt dem bösen Weibsbilde verbrennen wolle, war er
vor die Thür gewatschelt und hatte gefragt: Na Kinder, was wollt ihr denn
eegentlich, wollt ihr en Schnops? Darauf hatten sie alle gelacht über das
drollige Gesicht, das er dazu schnitt, und er hatte mit gelacht, und hatte die
Schnapspnlle herumgehen lassen, und die Revolution war vorläufig zu Ende.
Und wird nicht selbst ein europäischer Groszstaat seit vierhundert Jahren nach
dem Grundsatze regiert: austemperireu lassen, dem Grundsatze, den Kaiser
Friedrich III. (oder IV.) zur Habsburgischen Familientradition gemacht hat,
von der eigentlich nur die temperamentvollern Führer der Gegenreformation
abgewichen sind? Und wohl dem Hause Habsburg, daß es an dem bewährten
Grundsatze festhält! Hätte man an der Donau andre Methoden versucht, so
wäre der Kaiserstaat wohl längst aus dem Leime gegangen. Die Völker freilich
fühlen sich nicht immer behaglich dabei und geberden sich manchmal wie der
Nehberger Kantor.

Als ich den Pfarrer für den Borromäusverein zu Pressen unternahm,
schnitt er die Diskussion mit der Bemerkung ab: 'S is ja alles bloß Geld¬
schneiderei! 'S ist ja alles bloß Geldschneiderei — so hieß es, wenn ein
neuer Verein gegründet, eine Eisenbahn gebant, ein Gesetz beraten, eine neue
Vcleuchtmigsart erfunden oder ein Fest veranstaltet wurde. Und so hat er
schon vor Karl Marx das Wesen des Kapitalismus durchschaut und den
Grund zur materialistischen Geschichtsphilosophie gelegt. Übrigens gelang es
mir, den Beitrag aus ihm herauszupressen, nur sträubte er sich aufs neue,
als er sich aus der Liste, die ich ihm vorlegte, ein Buch auswählen sollte:
'S ist ja alles bloß Geldschneiderei, ächzte er fortwährend, indem er das
Blatt, das er verkehrt in der Hand hielt, hin und her wendete. Habsüchtig
war er nicht, aber geizig. Es kostete unendliche Mühe, ihm einen Thaler zu
entwinden, auch wenn er ihn zu zahlen verpflichtet war, dagegen that er
nichts, seine Einkünfte zu erhöhen. Die Stolgebühren, die freilich unbedeutend
waren, trieb er nicht ein, wenn sie nicht von selber eingingen, und mit dem
Pachtzins, den er für seine drei Widmuten forderte, waren seine Pachtbauern
— ausnahmslos Protestanten — sehr zufrieden; aus Dankbarkeit schickten
sie Berge von Kirmcskncheu ans den Pfarrhof.

Sein dritter Weisheitsspruch war: Jedes Ding hat seine zwei Seiten;
den bekam ich zu hören, so oft ich jemanden oder irgend etwas lobte. Und


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[0481] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome man ni su anstemperireu lossen — das war sein Bescheid, mochte jemand krank oder ein kirchliches Gebäude baufällig geworden, oder eine Revolution ausgebrochen sein, oder die Liese wettern, oder der vor beständiger Ungeduld zappelnde Kantor erklären, daß er mit seinem Gehalt nicht mehr auskomme und seine Lage nicht mehr vierundzwanzig Stunden lang ertragen werde. Diese Weisheit hatte ihn auch in der Revolution von 1848 gerettet. Als ein wütender Haufe den Pfarrhof umtobte und schwur, daß man den verdammten katholischen Pfaffen mitsamt dem bösen Weibsbilde verbrennen wolle, war er vor die Thür gewatschelt und hatte gefragt: Na Kinder, was wollt ihr denn eegentlich, wollt ihr en Schnops? Darauf hatten sie alle gelacht über das drollige Gesicht, das er dazu schnitt, und er hatte mit gelacht, und hatte die Schnapspnlle herumgehen lassen, und die Revolution war vorläufig zu Ende. Und wird nicht selbst ein europäischer Groszstaat seit vierhundert Jahren nach dem Grundsatze regiert: austemperireu lassen, dem Grundsatze, den Kaiser Friedrich III. (oder IV.) zur Habsburgischen Familientradition gemacht hat, von der eigentlich nur die temperamentvollern Führer der Gegenreformation abgewichen sind? Und wohl dem Hause Habsburg, daß es an dem bewährten Grundsatze festhält! Hätte man an der Donau andre Methoden versucht, so wäre der Kaiserstaat wohl längst aus dem Leime gegangen. Die Völker freilich fühlen sich nicht immer behaglich dabei und geberden sich manchmal wie der Nehberger Kantor. Als ich den Pfarrer für den Borromäusverein zu Pressen unternahm, schnitt er die Diskussion mit der Bemerkung ab: 'S is ja alles bloß Geld¬ schneiderei! 'S ist ja alles bloß Geldschneiderei — so hieß es, wenn ein neuer Verein gegründet, eine Eisenbahn gebant, ein Gesetz beraten, eine neue Vcleuchtmigsart erfunden oder ein Fest veranstaltet wurde. Und so hat er schon vor Karl Marx das Wesen des Kapitalismus durchschaut und den Grund zur materialistischen Geschichtsphilosophie gelegt. Übrigens gelang es mir, den Beitrag aus ihm herauszupressen, nur sträubte er sich aufs neue, als er sich aus der Liste, die ich ihm vorlegte, ein Buch auswählen sollte: 'S ist ja alles bloß Geldschneiderei, ächzte er fortwährend, indem er das Blatt, das er verkehrt in der Hand hielt, hin und her wendete. Habsüchtig war er nicht, aber geizig. Es kostete unendliche Mühe, ihm einen Thaler zu entwinden, auch wenn er ihn zu zahlen verpflichtet war, dagegen that er nichts, seine Einkünfte zu erhöhen. Die Stolgebühren, die freilich unbedeutend waren, trieb er nicht ein, wenn sie nicht von selber eingingen, und mit dem Pachtzins, den er für seine drei Widmuten forderte, waren seine Pachtbauern — ausnahmslos Protestanten — sehr zufrieden; aus Dankbarkeit schickten sie Berge von Kirmcskncheu ans den Pfarrhof. Sein dritter Weisheitsspruch war: Jedes Ding hat seine zwei Seiten; den bekam ich zu hören, so oft ich jemanden oder irgend etwas lobte. Und Grenzboten II 18SK 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/481>, abgerufen am 25.08.2024.