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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstroine

Gelobt sei Jesus Christus! grüßte ich, als sich endlich die Pforte öffnete,
denn das Jahr Achtundvierzig hatte mit den übrigen Bestandteilen der ka¬
tholischen Restauration auch diesen bis dahin in Schlesien unbekannten Gruß
gebracht.

Guten Abend, antwortete die Dame mit scharfer, spöttischer Betonung.
Sie führte mich in meine Stube, wo ich eine Bettstelle, einen Tisch und zwei
Stühle fand, und dann in das Eßzimmer. Hier wurde mir eine sehr reich¬
liche und vorzüglich zubereitete Mahlzeit aufgetischt, während deren Fräulein
Elise erschien, um mich ein wenig zu unterhalten, d. h. natürlich, zu exami-
niren. Sie sagte mir, der Herr Pfarrer habe seinen gewöhnlichen Abend¬
ausgang gemacht (wie ich später erfuhr, saß er jeden Abend von sechs bis
neun Uhr und jeden Morgen von zehn bis zwölf bei einem alten Ehepaare
und trank dort seinen Kornschnaps), und ich würde stets allein zu Abend essen.
Dann darf ich wohl bitten, sagte ich, daß Sie mir nicht jeden Abend so ein
Souper vorsetzen; ich brauche bloß ein Butterbrot. -- Ganz wie Sie wünschen.

Es ist für einen, der daran gewöhnt ist, eine sehr leichte Art von Askese,
außer der Hauptmahlzeit sehr wenig zu genießen, wenn diese Hauptmahlzeit
so reichlich und gut ist, wie das Mittagessen stets auf dem Nehberger Pfarr¬
hofe war. Der Pfarrer Bär, der die Askese nicht einmal dem Namen nach
kannte, aß den ganzen übrigen Tag buchstäblich nichts. Das einzige, was er
genoß, war außer dem Morgen- und Abendschnaps eine halbe Tasse Kaffee
zum Frühstück und eine zweite nachmittags; die andre Hälfte supplem seine
Hunde aus. Weit schwieriger ist es, sich an ein schlechtes Mittagessen zu
gewöhnen oder mit verbindlichem Dank und freundlichem Gesicht einen scheußlich
schmeckenden Cichorienkaffee hinunterzuwürgen, den man als Besuch von guten
Leuten vorgesetzt bekommt.

Den Hauptstoff des Gesprächs, zu dem ich wenig beitrug, bildete eine
Skandalgeschichte von einem benachbarten Pfarrhofe. 'S ist eine Schande,
rief die Wirtschafterin blitzenden Auges, einen so prächtigen Herrn wegen einer
solchen Gans zu suspendiren! Mir sollten sie nur kommen, die Breslauer
Herrn! Ich wollte sie -- wenn ich der Pfarrer wäre! Und dabei ballte
sie die Faust und schlug auf den Tisch. Es war eine sehr kräftige Faust.
Elise war ungefähr vierzig Jahre alt, sehr kräftig gebaut, von üppigen Formen.
Ihr Gesicht war frisch und wäre hübsch zu nennen gewesen, wenn es nicht
aller Augenblicke durch höhnische Verziehung des Mundes, Zornrunzeln und
stechende Blicke einen unheimlichen Ausdruck erhalten hätte. Haare und Augen
waren pechschwarz.

Am andern Morgen stellte ich mich dem Pfarrer Bär vor. Was ist es
denn für ein Mann? hatte ich zu Hause einen Kaufmann gefragt, der ihn
kannte. Das will ich Ihnen sagen, hatte der erwidert. Ich hatte ihn mehrere
Jahre nicht gesehen, da kam ich vor einiger Zeit durch Rehberg und besuchte


Wandlungen des Ich im Zeitenstroine

Gelobt sei Jesus Christus! grüßte ich, als sich endlich die Pforte öffnete,
denn das Jahr Achtundvierzig hatte mit den übrigen Bestandteilen der ka¬
tholischen Restauration auch diesen bis dahin in Schlesien unbekannten Gruß
gebracht.

Guten Abend, antwortete die Dame mit scharfer, spöttischer Betonung.
Sie führte mich in meine Stube, wo ich eine Bettstelle, einen Tisch und zwei
Stühle fand, und dann in das Eßzimmer. Hier wurde mir eine sehr reich¬
liche und vorzüglich zubereitete Mahlzeit aufgetischt, während deren Fräulein
Elise erschien, um mich ein wenig zu unterhalten, d. h. natürlich, zu exami-
niren. Sie sagte mir, der Herr Pfarrer habe seinen gewöhnlichen Abend¬
ausgang gemacht (wie ich später erfuhr, saß er jeden Abend von sechs bis
neun Uhr und jeden Morgen von zehn bis zwölf bei einem alten Ehepaare
und trank dort seinen Kornschnaps), und ich würde stets allein zu Abend essen.
Dann darf ich wohl bitten, sagte ich, daß Sie mir nicht jeden Abend so ein
Souper vorsetzen; ich brauche bloß ein Butterbrot. — Ganz wie Sie wünschen.

Es ist für einen, der daran gewöhnt ist, eine sehr leichte Art von Askese,
außer der Hauptmahlzeit sehr wenig zu genießen, wenn diese Hauptmahlzeit
so reichlich und gut ist, wie das Mittagessen stets auf dem Nehberger Pfarr¬
hofe war. Der Pfarrer Bär, der die Askese nicht einmal dem Namen nach
kannte, aß den ganzen übrigen Tag buchstäblich nichts. Das einzige, was er
genoß, war außer dem Morgen- und Abendschnaps eine halbe Tasse Kaffee
zum Frühstück und eine zweite nachmittags; die andre Hälfte supplem seine
Hunde aus. Weit schwieriger ist es, sich an ein schlechtes Mittagessen zu
gewöhnen oder mit verbindlichem Dank und freundlichem Gesicht einen scheußlich
schmeckenden Cichorienkaffee hinunterzuwürgen, den man als Besuch von guten
Leuten vorgesetzt bekommt.

Den Hauptstoff des Gesprächs, zu dem ich wenig beitrug, bildete eine
Skandalgeschichte von einem benachbarten Pfarrhofe. 'S ist eine Schande,
rief die Wirtschafterin blitzenden Auges, einen so prächtigen Herrn wegen einer
solchen Gans zu suspendiren! Mir sollten sie nur kommen, die Breslauer
Herrn! Ich wollte sie — wenn ich der Pfarrer wäre! Und dabei ballte
sie die Faust und schlug auf den Tisch. Es war eine sehr kräftige Faust.
Elise war ungefähr vierzig Jahre alt, sehr kräftig gebaut, von üppigen Formen.
Ihr Gesicht war frisch und wäre hübsch zu nennen gewesen, wenn es nicht
aller Augenblicke durch höhnische Verziehung des Mundes, Zornrunzeln und
stechende Blicke einen unheimlichen Ausdruck erhalten hätte. Haare und Augen
waren pechschwarz.

Am andern Morgen stellte ich mich dem Pfarrer Bär vor. Was ist es
denn für ein Mann? hatte ich zu Hause einen Kaufmann gefragt, der ihn
kannte. Das will ich Ihnen sagen, hatte der erwidert. Ich hatte ihn mehrere
Jahre nicht gesehen, da kam ich vor einiger Zeit durch Rehberg und besuchte


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[0474] Wandlungen des Ich im Zeitenstroine Gelobt sei Jesus Christus! grüßte ich, als sich endlich die Pforte öffnete, denn das Jahr Achtundvierzig hatte mit den übrigen Bestandteilen der ka¬ tholischen Restauration auch diesen bis dahin in Schlesien unbekannten Gruß gebracht. Guten Abend, antwortete die Dame mit scharfer, spöttischer Betonung. Sie führte mich in meine Stube, wo ich eine Bettstelle, einen Tisch und zwei Stühle fand, und dann in das Eßzimmer. Hier wurde mir eine sehr reich¬ liche und vorzüglich zubereitete Mahlzeit aufgetischt, während deren Fräulein Elise erschien, um mich ein wenig zu unterhalten, d. h. natürlich, zu exami- niren. Sie sagte mir, der Herr Pfarrer habe seinen gewöhnlichen Abend¬ ausgang gemacht (wie ich später erfuhr, saß er jeden Abend von sechs bis neun Uhr und jeden Morgen von zehn bis zwölf bei einem alten Ehepaare und trank dort seinen Kornschnaps), und ich würde stets allein zu Abend essen. Dann darf ich wohl bitten, sagte ich, daß Sie mir nicht jeden Abend so ein Souper vorsetzen; ich brauche bloß ein Butterbrot. — Ganz wie Sie wünschen. Es ist für einen, der daran gewöhnt ist, eine sehr leichte Art von Askese, außer der Hauptmahlzeit sehr wenig zu genießen, wenn diese Hauptmahlzeit so reichlich und gut ist, wie das Mittagessen stets auf dem Nehberger Pfarr¬ hofe war. Der Pfarrer Bär, der die Askese nicht einmal dem Namen nach kannte, aß den ganzen übrigen Tag buchstäblich nichts. Das einzige, was er genoß, war außer dem Morgen- und Abendschnaps eine halbe Tasse Kaffee zum Frühstück und eine zweite nachmittags; die andre Hälfte supplem seine Hunde aus. Weit schwieriger ist es, sich an ein schlechtes Mittagessen zu gewöhnen oder mit verbindlichem Dank und freundlichem Gesicht einen scheußlich schmeckenden Cichorienkaffee hinunterzuwürgen, den man als Besuch von guten Leuten vorgesetzt bekommt. Den Hauptstoff des Gesprächs, zu dem ich wenig beitrug, bildete eine Skandalgeschichte von einem benachbarten Pfarrhofe. 'S ist eine Schande, rief die Wirtschafterin blitzenden Auges, einen so prächtigen Herrn wegen einer solchen Gans zu suspendiren! Mir sollten sie nur kommen, die Breslauer Herrn! Ich wollte sie — wenn ich der Pfarrer wäre! Und dabei ballte sie die Faust und schlug auf den Tisch. Es war eine sehr kräftige Faust. Elise war ungefähr vierzig Jahre alt, sehr kräftig gebaut, von üppigen Formen. Ihr Gesicht war frisch und wäre hübsch zu nennen gewesen, wenn es nicht aller Augenblicke durch höhnische Verziehung des Mundes, Zornrunzeln und stechende Blicke einen unheimlichen Ausdruck erhalten hätte. Haare und Augen waren pechschwarz. Am andern Morgen stellte ich mich dem Pfarrer Bär vor. Was ist es denn für ein Mann? hatte ich zu Hause einen Kaufmann gefragt, der ihn kannte. Das will ich Ihnen sagen, hatte der erwidert. Ich hatte ihn mehrere Jahre nicht gesehen, da kam ich vor einiger Zeit durch Rehberg und besuchte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/474>, abgerufen am 22.12.2024.