Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Herrensitze besucht, sich nicht mit so unerfreulichen Betrachtungen den Natur¬ Wandlungen des Ich im Zeitenstrome 7. In Pfarrhäusern*) üblich kam das heiß ersehnte Anstellungsdekret. Der Nachbar Na, das ist die richtige Pfaffenwirtschaft, sagte mein Begleiter; hier bleib *) Aus naheliegenden Gründen werden viele der von jetzt an zu nennenden Personen s unter erdichteten Namen, teils nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen eingeführt. Grenzboten II 1395 59
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Herrensitze besucht, sich nicht mit so unerfreulichen Betrachtungen den Natur¬ Wandlungen des Ich im Zeitenstrome 7. In Pfarrhäusern*) üblich kam das heiß ersehnte Anstellungsdekret. Der Nachbar Na, das ist die richtige Pfaffenwirtschaft, sagte mein Begleiter; hier bleib *) Aus naheliegenden Gründen werden viele der von jetzt an zu nennenden Personen s unter erdichteten Namen, teils nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen eingeführt. Grenzboten II 1395 59
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0473" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220149"/> <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome</fw><lb/> <p xml:id="ID_1851" prev="#ID_1850"> Herrensitze besucht, sich nicht mit so unerfreulichen Betrachtungen den Natur¬<lb/> genuß zu verderben, wie sie mir sehr gegen meinen Willen gekommen sind. Ich<lb/> rate, sich an einer schönen Stelle ins Gras zu legen und mit blinzelnden<lb/> Augen durch grüne Bäume nach oben zu sehen. Dann erscheinen dem Träumer<lb/> vielleicht ritterliche Helden in strahlender Wehr und miunigliche Jungfrauen auf<lb/> milchweißen Rossen, wie man sie in schönen Bilderbüchern bewundern kann.<lb/> Oder wenn er ein Mensch von politischer Einsicht ist, erscheint ihm vielleicht<lb/> ein Mann, der „voll und ganz" der „Jetztzeit" angehört, und weist ihn hin<lb/> auf lauter lustige, buntscheckige Gestalten, die vorübertanzen, sich überkugeln<lb/> und possirliche Gesichter schneiden, sodaß nicht zu erkennen ist, was sie eigentlich<lb/> vorstellen. Der „Mann der Jetztzeit" aber ruft „unentwegt" mit Stentor¬<lb/> stimme: „Immer heran, meine Herrschaften! Hier sehen Sie die allerneuesten<lb/> Errungenschaften: eine Errungenschaft, noch eine Errungenschaft, lauter schöne,<lb/> bunte Errungenschaften!"</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome<lb/> 7. In Pfarrhäusern*)</head><lb/> <p xml:id="ID_1852"> üblich kam das heiß ersehnte Anstellungsdekret. Der Nachbar<lb/> Julius lud mich und meine Siebensachen auf sein Planwagelchen<lb/> und fuhr mich nach Rehberg, wobei er unterwegs fortwährend<lb/> auf die Pfaffen schimpfte, denn er hatte sich mit seinem Pfarrer<lb/> verfeindet. In Finsternis und Schneesturm — es war No¬<lb/> vember — kamen wir an der Pforte des Pfarrhofs an. Ich zog die Glocke,<lb/> und ein wütendes Hundegebell antwortete. Den Stimmen nach mußten es<lb/> außer einem großen Köter ein halb Dutzend kleine sein. Dazwischen ein<lb/> kräftiger, scharfer Mezzosopran: Still, ihr Bestien! Wer ist da? — Der neue<lb/> Kaplan! — Johann! Wo steckt denn der Tölpel wieder! Johann! Leg den<lb/> Nero an die Kette! Ali, knsch! Wirst du zurück, du Aas! Hierher, Peter!<lb/> Marsch ins Haus. Fips!</p><lb/> <p xml:id="ID_1853"> Na, das ist die richtige Pfaffenwirtschaft, sagte mein Begleiter; hier bleib<lb/> ich keinen Augenblick, ich werde bloß die Sachen abladen und mache mich denn<lb/> fort. Adieu!</p><lb/> <note xml:id="FID_45" place="foot"> *) Aus naheliegenden Gründen werden viele der von jetzt an zu nennenden Personen<lb/> s unter erdichteten Namen, teils nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen eingeführt.</note><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1395 59</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0473]
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
Herrensitze besucht, sich nicht mit so unerfreulichen Betrachtungen den Natur¬
genuß zu verderben, wie sie mir sehr gegen meinen Willen gekommen sind. Ich
rate, sich an einer schönen Stelle ins Gras zu legen und mit blinzelnden
Augen durch grüne Bäume nach oben zu sehen. Dann erscheinen dem Träumer
vielleicht ritterliche Helden in strahlender Wehr und miunigliche Jungfrauen auf
milchweißen Rossen, wie man sie in schönen Bilderbüchern bewundern kann.
Oder wenn er ein Mensch von politischer Einsicht ist, erscheint ihm vielleicht
ein Mann, der „voll und ganz" der „Jetztzeit" angehört, und weist ihn hin
auf lauter lustige, buntscheckige Gestalten, die vorübertanzen, sich überkugeln
und possirliche Gesichter schneiden, sodaß nicht zu erkennen ist, was sie eigentlich
vorstellen. Der „Mann der Jetztzeit" aber ruft „unentwegt" mit Stentor¬
stimme: „Immer heran, meine Herrschaften! Hier sehen Sie die allerneuesten
Errungenschaften: eine Errungenschaft, noch eine Errungenschaft, lauter schöne,
bunte Errungenschaften!"
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome
7. In Pfarrhäusern*)
üblich kam das heiß ersehnte Anstellungsdekret. Der Nachbar
Julius lud mich und meine Siebensachen auf sein Planwagelchen
und fuhr mich nach Rehberg, wobei er unterwegs fortwährend
auf die Pfaffen schimpfte, denn er hatte sich mit seinem Pfarrer
verfeindet. In Finsternis und Schneesturm — es war No¬
vember — kamen wir an der Pforte des Pfarrhofs an. Ich zog die Glocke,
und ein wütendes Hundegebell antwortete. Den Stimmen nach mußten es
außer einem großen Köter ein halb Dutzend kleine sein. Dazwischen ein
kräftiger, scharfer Mezzosopran: Still, ihr Bestien! Wer ist da? — Der neue
Kaplan! — Johann! Wo steckt denn der Tölpel wieder! Johann! Leg den
Nero an die Kette! Ali, knsch! Wirst du zurück, du Aas! Hierher, Peter!
Marsch ins Haus. Fips!
Na, das ist die richtige Pfaffenwirtschaft, sagte mein Begleiter; hier bleib
ich keinen Augenblick, ich werde bloß die Sachen abladen und mache mich denn
fort. Adieu!
*) Aus naheliegenden Gründen werden viele der von jetzt an zu nennenden Personen
s unter erdichteten Namen, teils nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen eingeführt.
Grenzboten II 1395 59
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |