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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

zur Verstärkung ihrer Beweise in Ansehen setzt, während sie das Selbständige,
das Abweichende, das subjektiv Eigentümliche, das einmal vergessen ist, ruhig
der Vergessenheit überläßt, die auf die Erkenntnis des eigentlich schöpferischen
Elements in den Talenten so gut wie verzichtet, muß den leidenschaft¬
lichsten Widerspruch jedes gesunden Gefühls wachrufen. Man braucht nur die
Anwendung dieser Einseitigkeit auf die Gegenwart zu beobachten. Der ver¬
meintliche "Stil der Periode" findet sich unter dem ganzen Haufen der ein¬
ander zum Verwechseln ähnlichen Schriftsteller, die das gleiche abscheuliche, zer¬
hackte und zerrupfte Deutsch schreiben, das geschlechtliche "Problem" breit
erörtern, ihr "Milieu" im Straßcndunst der Industriestadt und im Qualm
der Kneipe suchen. Was rechts und links davon besseres Deutsch schreibt,
wessen Blick für größeres und gesünderes Leben offen ist, wessen Sinn reinere
Luft verlangt, das fällt aus dem Stilprinzip der Periode heraus und ist darum
für die methodisch geschulten Seminarzöglinge, die mit der "Ästhetik" Genu߬
fähigkeit, Empfindung und Urteil zugleich über Bord geworfen haben, einfach
nicht vorhanden. Vergegenwärtigt man sich, was die blinde Unterwürfigkeit
unter eine Untersuchungs- und Darstellungsweise, die ebenso viel Mode als
Methode einschließt, bewirkt, welche Hügel, ja Berge leblosen Materials sie
aufgehäuft hat, so wird der Ingrimm eines Beurteilers begreiflich, der wie
Dühring "eine feinere Ästhetik als die bisherige und die entschiedne Bethätigung
einer eigentlichen Charakterkritik individueller wie nationaler Art" verlangt und
natürlich zu geben beabsichtigt. Auch das muß dem Philosophen, der die
Literarhistoriker von der Bank schiebt, um uns selbst zu belehren, ohne
weiteres eingeräumt werden, daß die neuere Litteraturgeschichte und Kritik die
sittliche Seite alles litterarischen Schaffens und Lebens mit viel zu souveräner
Gleichgiltigkeit behandelt hat. Die um sich berechtigte Losung "Die Kunst um
der Kunst willen!" ist nußverständlicher- und mißbräuchlicherweise zu einer
völligen Gleichgiltigkeit gegen den innern Gehalt, gegen die edle oder gemeine
Natur der Vertreter der poetischen Litteratur aus- und umgedeutet worden.
Eine traurige Empirie, die sich gründlich nennt, bemüht sich, die Unterschiede
zwischen dem sittlich Hohen und dem leichtfertig Flachen möglichst zu verwischen,
jeden festen Kern in die breiten Bettelsuppen des Zeitgeschmacks und der Zeit¬
stimmung aufzulösen. Kein Wunder, wenn sich demgegenüber eine Anschauung
rücksichtslos geltend macht, wie die, die Dühring in den Worten zusammenfaßt:
"Sicherlich kann die bloß künstlerische Form, wie etwa das Metrum odereine
gewisse Gewandtheit im Gebrauch der Sprache, auch außer Zusammenhang mit
dem Charakter etwas bedeuten, wie ja rund und eckig, blau und grün an sich
mit dem Sittlichen nichts zu thun haben. Abstrakte Eigenschaften eines Kunst¬
werks von formeller Natur mögen daher bisweilen ganz isolirt zu beurteilen
sein, obwohl mich schon in dieser Beziehung genng Zusammenhang mit dem
Charakter in Frage kommen kann. Schon der bloße Gang und die bloße Hat-


Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

zur Verstärkung ihrer Beweise in Ansehen setzt, während sie das Selbständige,
das Abweichende, das subjektiv Eigentümliche, das einmal vergessen ist, ruhig
der Vergessenheit überläßt, die auf die Erkenntnis des eigentlich schöpferischen
Elements in den Talenten so gut wie verzichtet, muß den leidenschaft¬
lichsten Widerspruch jedes gesunden Gefühls wachrufen. Man braucht nur die
Anwendung dieser Einseitigkeit auf die Gegenwart zu beobachten. Der ver¬
meintliche „Stil der Periode" findet sich unter dem ganzen Haufen der ein¬
ander zum Verwechseln ähnlichen Schriftsteller, die das gleiche abscheuliche, zer¬
hackte und zerrupfte Deutsch schreiben, das geschlechtliche „Problem" breit
erörtern, ihr „Milieu" im Straßcndunst der Industriestadt und im Qualm
der Kneipe suchen. Was rechts und links davon besseres Deutsch schreibt,
wessen Blick für größeres und gesünderes Leben offen ist, wessen Sinn reinere
Luft verlangt, das fällt aus dem Stilprinzip der Periode heraus und ist darum
für die methodisch geschulten Seminarzöglinge, die mit der „Ästhetik" Genu߬
fähigkeit, Empfindung und Urteil zugleich über Bord geworfen haben, einfach
nicht vorhanden. Vergegenwärtigt man sich, was die blinde Unterwürfigkeit
unter eine Untersuchungs- und Darstellungsweise, die ebenso viel Mode als
Methode einschließt, bewirkt, welche Hügel, ja Berge leblosen Materials sie
aufgehäuft hat, so wird der Ingrimm eines Beurteilers begreiflich, der wie
Dühring „eine feinere Ästhetik als die bisherige und die entschiedne Bethätigung
einer eigentlichen Charakterkritik individueller wie nationaler Art" verlangt und
natürlich zu geben beabsichtigt. Auch das muß dem Philosophen, der die
Literarhistoriker von der Bank schiebt, um uns selbst zu belehren, ohne
weiteres eingeräumt werden, daß die neuere Litteraturgeschichte und Kritik die
sittliche Seite alles litterarischen Schaffens und Lebens mit viel zu souveräner
Gleichgiltigkeit behandelt hat. Die um sich berechtigte Losung „Die Kunst um
der Kunst willen!" ist nußverständlicher- und mißbräuchlicherweise zu einer
völligen Gleichgiltigkeit gegen den innern Gehalt, gegen die edle oder gemeine
Natur der Vertreter der poetischen Litteratur aus- und umgedeutet worden.
Eine traurige Empirie, die sich gründlich nennt, bemüht sich, die Unterschiede
zwischen dem sittlich Hohen und dem leichtfertig Flachen möglichst zu verwischen,
jeden festen Kern in die breiten Bettelsuppen des Zeitgeschmacks und der Zeit¬
stimmung aufzulösen. Kein Wunder, wenn sich demgegenüber eine Anschauung
rücksichtslos geltend macht, wie die, die Dühring in den Worten zusammenfaßt:
„Sicherlich kann die bloß künstlerische Form, wie etwa das Metrum odereine
gewisse Gewandtheit im Gebrauch der Sprache, auch außer Zusammenhang mit
dem Charakter etwas bedeuten, wie ja rund und eckig, blau und grün an sich
mit dem Sittlichen nichts zu thun haben. Abstrakte Eigenschaften eines Kunst¬
werks von formeller Natur mögen daher bisweilen ganz isolirt zu beurteilen
sein, obwohl mich schon in dieser Beziehung genng Zusammenhang mit dem
Charakter in Frage kommen kann. Schon der bloße Gang und die bloße Hat-


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[0045] Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur zur Verstärkung ihrer Beweise in Ansehen setzt, während sie das Selbständige, das Abweichende, das subjektiv Eigentümliche, das einmal vergessen ist, ruhig der Vergessenheit überläßt, die auf die Erkenntnis des eigentlich schöpferischen Elements in den Talenten so gut wie verzichtet, muß den leidenschaft¬ lichsten Widerspruch jedes gesunden Gefühls wachrufen. Man braucht nur die Anwendung dieser Einseitigkeit auf die Gegenwart zu beobachten. Der ver¬ meintliche „Stil der Periode" findet sich unter dem ganzen Haufen der ein¬ ander zum Verwechseln ähnlichen Schriftsteller, die das gleiche abscheuliche, zer¬ hackte und zerrupfte Deutsch schreiben, das geschlechtliche „Problem" breit erörtern, ihr „Milieu" im Straßcndunst der Industriestadt und im Qualm der Kneipe suchen. Was rechts und links davon besseres Deutsch schreibt, wessen Blick für größeres und gesünderes Leben offen ist, wessen Sinn reinere Luft verlangt, das fällt aus dem Stilprinzip der Periode heraus und ist darum für die methodisch geschulten Seminarzöglinge, die mit der „Ästhetik" Genu߬ fähigkeit, Empfindung und Urteil zugleich über Bord geworfen haben, einfach nicht vorhanden. Vergegenwärtigt man sich, was die blinde Unterwürfigkeit unter eine Untersuchungs- und Darstellungsweise, die ebenso viel Mode als Methode einschließt, bewirkt, welche Hügel, ja Berge leblosen Materials sie aufgehäuft hat, so wird der Ingrimm eines Beurteilers begreiflich, der wie Dühring „eine feinere Ästhetik als die bisherige und die entschiedne Bethätigung einer eigentlichen Charakterkritik individueller wie nationaler Art" verlangt und natürlich zu geben beabsichtigt. Auch das muß dem Philosophen, der die Literarhistoriker von der Bank schiebt, um uns selbst zu belehren, ohne weiteres eingeräumt werden, daß die neuere Litteraturgeschichte und Kritik die sittliche Seite alles litterarischen Schaffens und Lebens mit viel zu souveräner Gleichgiltigkeit behandelt hat. Die um sich berechtigte Losung „Die Kunst um der Kunst willen!" ist nußverständlicher- und mißbräuchlicherweise zu einer völligen Gleichgiltigkeit gegen den innern Gehalt, gegen die edle oder gemeine Natur der Vertreter der poetischen Litteratur aus- und umgedeutet worden. Eine traurige Empirie, die sich gründlich nennt, bemüht sich, die Unterschiede zwischen dem sittlich Hohen und dem leichtfertig Flachen möglichst zu verwischen, jeden festen Kern in die breiten Bettelsuppen des Zeitgeschmacks und der Zeit¬ stimmung aufzulösen. Kein Wunder, wenn sich demgegenüber eine Anschauung rücksichtslos geltend macht, wie die, die Dühring in den Worten zusammenfaßt: „Sicherlich kann die bloß künstlerische Form, wie etwa das Metrum odereine gewisse Gewandtheit im Gebrauch der Sprache, auch außer Zusammenhang mit dem Charakter etwas bedeuten, wie ja rund und eckig, blau und grün an sich mit dem Sittlichen nichts zu thun haben. Abstrakte Eigenschaften eines Kunst¬ werks von formeller Natur mögen daher bisweilen ganz isolirt zu beurteilen sein, obwohl mich schon in dieser Beziehung genng Zusammenhang mit dem Charakter in Frage kommen kann. Schon der bloße Gang und die bloße Hat-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/45>, abgerufen am 25.08.2024.