Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Engen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

statt sehr gemischt. Überdies wirkt uicht alles Gute, was wirken könnte
und sollte. Manches ist zurückgesetzt oder unterdrückt. Mit dem Guten ist
das Schlimme oft eng verwachsen und führt sich in den von der Autorität
befangnen Geist mit ein, als wäre es auch ein Muster. Litteraturgeschichten
bieten gegen solche Übelstände, die ich zuerst an mir selbst erfahren habe, so
gut wie keine Gegenmittel. Sie beschränken sich auf einige herkömmliche ästhe¬
tische Sonderungen unzulänglicher Art und lassen in andern Punkten, nament¬
lich in den Fragen nach dem Charakterthpus, ganz im Stich. Die Autorität,
von der sie befreien sollten, wuchtet auf ihnen selbst. In ihnen ist weder
Wille noch Fähigkeit anzutreffen, dem Publikum das zu leisten, dessen es am
meisten bedarf. Sie bestärken vielmehr in dem, was jetzt kritisch wegzu¬
schaffen ist.

Mit den vorstehenden Sätzen leitet E. Dühring ein nicht sehr umfang-,
aber höchst inhaltreiches Buch ein, das in zwei Bänden unter dem Titel: Die
Größen der modernen Litteratur, populär und kritisch nach neuen
Gesichtspunkten dargestellt (Leipzig, C. G. Naumann, 1893 bis 1894)
hervorgetreten ist und im Guten und Schlimmen die ernsteste Beachtung aller
fordert, denen die Litteratur noch als Lebensnacht, als die Krone des geistigen
Daseins der Völker und namentlich des eignen Volks gilt. Die Doppelnatur
des Dühringschen Buches tritt schon aus den angeführten Worten deutlich
hervor: der Verfasser will deu Sinn für die Schöpfungen der Poesie läutern,
die Forderungen erhöhen, das Unterscheidungsvermögen schärfen, dem Genuß
der Dichtung ein Bewußtsein unterlegen, daß das Schöne nichts sei ohne das
Edle und Wahre. Da nach seiner Überzeugung "Thaten, Kampf und Liebe,
sowie die Eindrücke, die von der Natur ausgehen, welche zu alledem die Um¬
gebung bildet, die Gegenstände der litterarisch-künstlerischen Gestaltungskraft
sind," so folgert er leicht: "Sind die Thaten uicht gut, die Gefühle nicht
edel und die Gedanken uicht wahr, so hat auch die Kunst, von der sie vor¬
gebracht werden, keinen stichhaltigen Wert. Sie mag als bloße Form ein
weniges bedeuten; aber streng genommen sinkt ihr Wert noch unter Null,
wenn sie sich dazu herabwürdigt, das Schlechte, das Unedle und das Un¬
wahre zu beschönigen." Und auf alle Fälle läßt er uicht den geringsten Zweifel
darüber, daß er die in seinem Sinne höchsten Maßstäbe an alle Werke der
Poetischen Litteratur anlegen und jede Wertschätzung der Schöpfungen, die
diesen Maßstäben nicht gewachsen sind, zu beseitigen beabsichtigt. Man braucht
uicht besonders tief in Dührings Darstellung hiueinzulesen, um zu empfinden,
daß in diesem Werke ein Hauch von dem Geiste des Kalifen Omar lebt, der
der Sage nach die Verbrennung der Bibliothek von Alexandrien mit den
Worten gerechtfertigt hat: entweder stehe der Inhalt der dem Untergang ge¬
weihten Bücherschätze im Koran, und dann seien sie überflüssig, oder sie ent¬
hielten etwas andres als das heilige Buch, und dann seien sie verderblich.


Engen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

statt sehr gemischt. Überdies wirkt uicht alles Gute, was wirken könnte
und sollte. Manches ist zurückgesetzt oder unterdrückt. Mit dem Guten ist
das Schlimme oft eng verwachsen und führt sich in den von der Autorität
befangnen Geist mit ein, als wäre es auch ein Muster. Litteraturgeschichten
bieten gegen solche Übelstände, die ich zuerst an mir selbst erfahren habe, so
gut wie keine Gegenmittel. Sie beschränken sich auf einige herkömmliche ästhe¬
tische Sonderungen unzulänglicher Art und lassen in andern Punkten, nament¬
lich in den Fragen nach dem Charakterthpus, ganz im Stich. Die Autorität,
von der sie befreien sollten, wuchtet auf ihnen selbst. In ihnen ist weder
Wille noch Fähigkeit anzutreffen, dem Publikum das zu leisten, dessen es am
meisten bedarf. Sie bestärken vielmehr in dem, was jetzt kritisch wegzu¬
schaffen ist.

Mit den vorstehenden Sätzen leitet E. Dühring ein nicht sehr umfang-,
aber höchst inhaltreiches Buch ein, das in zwei Bänden unter dem Titel: Die
Größen der modernen Litteratur, populär und kritisch nach neuen
Gesichtspunkten dargestellt (Leipzig, C. G. Naumann, 1893 bis 1894)
hervorgetreten ist und im Guten und Schlimmen die ernsteste Beachtung aller
fordert, denen die Litteratur noch als Lebensnacht, als die Krone des geistigen
Daseins der Völker und namentlich des eignen Volks gilt. Die Doppelnatur
des Dühringschen Buches tritt schon aus den angeführten Worten deutlich
hervor: der Verfasser will deu Sinn für die Schöpfungen der Poesie läutern,
die Forderungen erhöhen, das Unterscheidungsvermögen schärfen, dem Genuß
der Dichtung ein Bewußtsein unterlegen, daß das Schöne nichts sei ohne das
Edle und Wahre. Da nach seiner Überzeugung „Thaten, Kampf und Liebe,
sowie die Eindrücke, die von der Natur ausgehen, welche zu alledem die Um¬
gebung bildet, die Gegenstände der litterarisch-künstlerischen Gestaltungskraft
sind," so folgert er leicht: „Sind die Thaten uicht gut, die Gefühle nicht
edel und die Gedanken uicht wahr, so hat auch die Kunst, von der sie vor¬
gebracht werden, keinen stichhaltigen Wert. Sie mag als bloße Form ein
weniges bedeuten; aber streng genommen sinkt ihr Wert noch unter Null,
wenn sie sich dazu herabwürdigt, das Schlechte, das Unedle und das Un¬
wahre zu beschönigen." Und auf alle Fälle läßt er uicht den geringsten Zweifel
darüber, daß er die in seinem Sinne höchsten Maßstäbe an alle Werke der
Poetischen Litteratur anlegen und jede Wertschätzung der Schöpfungen, die
diesen Maßstäben nicht gewachsen sind, zu beseitigen beabsichtigt. Man braucht
uicht besonders tief in Dührings Darstellung hiueinzulesen, um zu empfinden,
daß in diesem Werke ein Hauch von dem Geiste des Kalifen Omar lebt, der
der Sage nach die Verbrennung der Bibliothek von Alexandrien mit den
Worten gerechtfertigt hat: entweder stehe der Inhalt der dem Untergang ge¬
weihten Bücherschätze im Koran, und dann seien sie überflüssig, oder sie ent¬
hielten etwas andres als das heilige Buch, und dann seien sie verderblich.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0043" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219719"/>
          <fw type="header" place="top"> Engen Dühring und die Größen der modernen Litteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_92" prev="#ID_91"> statt sehr gemischt. Überdies wirkt uicht alles Gute, was wirken könnte<lb/>
und sollte. Manches ist zurückgesetzt oder unterdrückt. Mit dem Guten ist<lb/>
das Schlimme oft eng verwachsen und führt sich in den von der Autorität<lb/>
befangnen Geist mit ein, als wäre es auch ein Muster. Litteraturgeschichten<lb/>
bieten gegen solche Übelstände, die ich zuerst an mir selbst erfahren habe, so<lb/>
gut wie keine Gegenmittel. Sie beschränken sich auf einige herkömmliche ästhe¬<lb/>
tische Sonderungen unzulänglicher Art und lassen in andern Punkten, nament¬<lb/>
lich in den Fragen nach dem Charakterthpus, ganz im Stich. Die Autorität,<lb/>
von der sie befreien sollten, wuchtet auf ihnen selbst. In ihnen ist weder<lb/>
Wille noch Fähigkeit anzutreffen, dem Publikum das zu leisten, dessen es am<lb/>
meisten bedarf. Sie bestärken vielmehr in dem, was jetzt kritisch wegzu¬<lb/>
schaffen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_93"> Mit den vorstehenden Sätzen leitet E. Dühring ein nicht sehr umfang-,<lb/>
aber höchst inhaltreiches Buch ein, das in zwei Bänden unter dem Titel: Die<lb/>
Größen der modernen Litteratur, populär und kritisch nach neuen<lb/>
Gesichtspunkten dargestellt (Leipzig, C. G. Naumann, 1893 bis 1894)<lb/>
hervorgetreten ist und im Guten und Schlimmen die ernsteste Beachtung aller<lb/>
fordert, denen die Litteratur noch als Lebensnacht, als die Krone des geistigen<lb/>
Daseins der Völker und namentlich des eignen Volks gilt. Die Doppelnatur<lb/>
des Dühringschen Buches tritt schon aus den angeführten Worten deutlich<lb/>
hervor: der Verfasser will deu Sinn für die Schöpfungen der Poesie läutern,<lb/>
die Forderungen erhöhen, das Unterscheidungsvermögen schärfen, dem Genuß<lb/>
der Dichtung ein Bewußtsein unterlegen, daß das Schöne nichts sei ohne das<lb/>
Edle und Wahre. Da nach seiner Überzeugung &#x201E;Thaten, Kampf und Liebe,<lb/>
sowie die Eindrücke, die von der Natur ausgehen, welche zu alledem die Um¬<lb/>
gebung bildet, die Gegenstände der litterarisch-künstlerischen Gestaltungskraft<lb/>
sind," so folgert er leicht: &#x201E;Sind die Thaten uicht gut, die Gefühle nicht<lb/>
edel und die Gedanken uicht wahr, so hat auch die Kunst, von der sie vor¬<lb/>
gebracht werden, keinen stichhaltigen Wert. Sie mag als bloße Form ein<lb/>
weniges bedeuten; aber streng genommen sinkt ihr Wert noch unter Null,<lb/>
wenn sie sich dazu herabwürdigt, das Schlechte, das Unedle und das Un¬<lb/>
wahre zu beschönigen." Und auf alle Fälle läßt er uicht den geringsten Zweifel<lb/>
darüber, daß er die in seinem Sinne höchsten Maßstäbe an alle Werke der<lb/>
Poetischen Litteratur anlegen und jede Wertschätzung der Schöpfungen, die<lb/>
diesen Maßstäben nicht gewachsen sind, zu beseitigen beabsichtigt. Man braucht<lb/>
uicht besonders tief in Dührings Darstellung hiueinzulesen, um zu empfinden,<lb/>
daß in diesem Werke ein Hauch von dem Geiste des Kalifen Omar lebt, der<lb/>
der Sage nach die Verbrennung der Bibliothek von Alexandrien mit den<lb/>
Worten gerechtfertigt hat: entweder stehe der Inhalt der dem Untergang ge¬<lb/>
weihten Bücherschätze im Koran, und dann seien sie überflüssig, oder sie ent¬<lb/>
hielten etwas andres als das heilige Buch, und dann seien sie verderblich.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0043] Engen Dühring und die Größen der modernen Litteratur statt sehr gemischt. Überdies wirkt uicht alles Gute, was wirken könnte und sollte. Manches ist zurückgesetzt oder unterdrückt. Mit dem Guten ist das Schlimme oft eng verwachsen und führt sich in den von der Autorität befangnen Geist mit ein, als wäre es auch ein Muster. Litteraturgeschichten bieten gegen solche Übelstände, die ich zuerst an mir selbst erfahren habe, so gut wie keine Gegenmittel. Sie beschränken sich auf einige herkömmliche ästhe¬ tische Sonderungen unzulänglicher Art und lassen in andern Punkten, nament¬ lich in den Fragen nach dem Charakterthpus, ganz im Stich. Die Autorität, von der sie befreien sollten, wuchtet auf ihnen selbst. In ihnen ist weder Wille noch Fähigkeit anzutreffen, dem Publikum das zu leisten, dessen es am meisten bedarf. Sie bestärken vielmehr in dem, was jetzt kritisch wegzu¬ schaffen ist. Mit den vorstehenden Sätzen leitet E. Dühring ein nicht sehr umfang-, aber höchst inhaltreiches Buch ein, das in zwei Bänden unter dem Titel: Die Größen der modernen Litteratur, populär und kritisch nach neuen Gesichtspunkten dargestellt (Leipzig, C. G. Naumann, 1893 bis 1894) hervorgetreten ist und im Guten und Schlimmen die ernsteste Beachtung aller fordert, denen die Litteratur noch als Lebensnacht, als die Krone des geistigen Daseins der Völker und namentlich des eignen Volks gilt. Die Doppelnatur des Dühringschen Buches tritt schon aus den angeführten Worten deutlich hervor: der Verfasser will deu Sinn für die Schöpfungen der Poesie läutern, die Forderungen erhöhen, das Unterscheidungsvermögen schärfen, dem Genuß der Dichtung ein Bewußtsein unterlegen, daß das Schöne nichts sei ohne das Edle und Wahre. Da nach seiner Überzeugung „Thaten, Kampf und Liebe, sowie die Eindrücke, die von der Natur ausgehen, welche zu alledem die Um¬ gebung bildet, die Gegenstände der litterarisch-künstlerischen Gestaltungskraft sind," so folgert er leicht: „Sind die Thaten uicht gut, die Gefühle nicht edel und die Gedanken uicht wahr, so hat auch die Kunst, von der sie vor¬ gebracht werden, keinen stichhaltigen Wert. Sie mag als bloße Form ein weniges bedeuten; aber streng genommen sinkt ihr Wert noch unter Null, wenn sie sich dazu herabwürdigt, das Schlechte, das Unedle und das Un¬ wahre zu beschönigen." Und auf alle Fälle läßt er uicht den geringsten Zweifel darüber, daß er die in seinem Sinne höchsten Maßstäbe an alle Werke der Poetischen Litteratur anlegen und jede Wertschätzung der Schöpfungen, die diesen Maßstäben nicht gewachsen sind, zu beseitigen beabsichtigt. Man braucht uicht besonders tief in Dührings Darstellung hiueinzulesen, um zu empfinden, daß in diesem Werke ein Hauch von dem Geiste des Kalifen Omar lebt, der der Sage nach die Verbrennung der Bibliothek von Alexandrien mit den Worten gerechtfertigt hat: entweder stehe der Inhalt der dem Untergang ge¬ weihten Bücherschätze im Koran, und dann seien sie überflüssig, oder sie ent¬ hielten etwas andres als das heilige Buch, und dann seien sie verderblich.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/43
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/43>, abgerufen am 22.12.2024.