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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

aus Eichenholz. Die zugehörigen Gebeine wurden mit möglichster Sorgfalt
aus dem Erdreich herausgehoben. Professor His. der herbeigerufen worden
war, erkannte darin die Reste eines jungen Weibes. Während man noch mit
dem Sammeln der Gebeine beschäftigt war, kam nahe dabei ein zweiter eichener
Sarg zum Vorschein. Da aber inzwischen die Mittagspause eingetreten war,
wurde die Aushebung dieses zweiten Sarges auf den Nachmittag verschoben.
Auch hier wieder wurden -- trotz des schlechten Wetters, es war ein Regen¬
tag --, nachdem der Schädel freigelegt war, auch alle übrigen Teile des Skeletts
sorgfältig gesammelt. Wie sich' herausstellte, waren es diesmal die Gebeine
eines ältern Mannes. Um sie genauer prüfen zu können, wurden sie nach der
anatomischen Anstalt gebracht und dort gereinigt, getrocknet und in der rich¬
tigen Ordnung auf einem Brett zusammengestellt.

Der Schädel war sehr auffällig. Mit einem Dutzendkopfe hatte man es
nicht zu thun. Er zeigte namentlich vier Eigentümlichkeiten: die mäßig lange
und in ihrer hintern Hälfte breite Gehirnkapsel hatte eine etwas zurückweichende,
eine sogenannte fliehende Stirn; die Augenbrauenbogen gingen nach der Mitte
in einen starken Stirnnasenwnlst über, sodaß die Nasenwurzel einen tiefen Ein¬
schnitt bildete, aus dem der Nasenrücken in scharfem Winkel hervorsprang; die
Augenhöhlen waren verhältnismäßig niedrig, mehr breit als hoch; endlich
das eigentümlichste: der Unterkiefer trat etwas über den Oberkiefer vor.

Es galt nun zunächst Bildnisse Bachs zur Stelle zu schaffen, um sie mit
dem Schädel zu vergleichen, vor allem Originalbildnisse. In Leipzig giebt es
deren zwei: das allbekannte Bild von Hausmann in der Thomasschule, das
Bach mit dem sechsstimmigen Kanon in der Hand zeigt, und das namentlich
durch die Lithographie von Schlick (1840) und durch den Sichliugschen Stich
(1851) bekannt geworden ist, und ein bisher weniger bekannt gewordnes, an¬
geblich auch von Hausmann gemalt, im Besitz des Herrn Dr. Abraham, des
Verlegers der weltbekannten "Edition Peters." Die beiden Bilder sind ein¬
ander sehr unähnlich; wenn sie in dem Porträtzimmer eines öffentlichen
Museums ohne Bezeichnung neben einander hingen, würde schwerlich jemand
daraus verfallen, sie für ein und dieselbe Person zu halten. Bei näherm Zu¬
sehen entdeckt man aber doch gemeinsame Züge, und zwar -- genau dieselben
Wie an dem Schädel; weil sie so auffällig sind, hat sie der Maler auf keinem
der beiden Bilder verfehlen können. Das sind die niedrigen Augenhöhlen mit
ihren engen Lidspalten, die uuter einem deutlichen Stirnwulst kräftig vor¬
springende Nase und ein leises Vortreten des Unterkiefers über den Ober¬
kiefer. Nur die "fliehende" Stirn scheint zu fehlen; aber darüber läßt die Perücke
kein Urteil zu.

Um sich z" vergewissern, daß hier auch keine Täuschung vorliege, schlug
nun Professor His einen Weg ein, der bisher noch nie betreten worden war.
Er sagte sich:°wenn ein Künstler imstande ist. über einen Gipsabguß des


Grenzboten II I3K5 53
Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs

aus Eichenholz. Die zugehörigen Gebeine wurden mit möglichster Sorgfalt
aus dem Erdreich herausgehoben. Professor His. der herbeigerufen worden
war, erkannte darin die Reste eines jungen Weibes. Während man noch mit
dem Sammeln der Gebeine beschäftigt war, kam nahe dabei ein zweiter eichener
Sarg zum Vorschein. Da aber inzwischen die Mittagspause eingetreten war,
wurde die Aushebung dieses zweiten Sarges auf den Nachmittag verschoben.
Auch hier wieder wurden — trotz des schlechten Wetters, es war ein Regen¬
tag —, nachdem der Schädel freigelegt war, auch alle übrigen Teile des Skeletts
sorgfältig gesammelt. Wie sich' herausstellte, waren es diesmal die Gebeine
eines ältern Mannes. Um sie genauer prüfen zu können, wurden sie nach der
anatomischen Anstalt gebracht und dort gereinigt, getrocknet und in der rich¬
tigen Ordnung auf einem Brett zusammengestellt.

Der Schädel war sehr auffällig. Mit einem Dutzendkopfe hatte man es
nicht zu thun. Er zeigte namentlich vier Eigentümlichkeiten: die mäßig lange
und in ihrer hintern Hälfte breite Gehirnkapsel hatte eine etwas zurückweichende,
eine sogenannte fliehende Stirn; die Augenbrauenbogen gingen nach der Mitte
in einen starken Stirnnasenwnlst über, sodaß die Nasenwurzel einen tiefen Ein¬
schnitt bildete, aus dem der Nasenrücken in scharfem Winkel hervorsprang; die
Augenhöhlen waren verhältnismäßig niedrig, mehr breit als hoch; endlich
das eigentümlichste: der Unterkiefer trat etwas über den Oberkiefer vor.

Es galt nun zunächst Bildnisse Bachs zur Stelle zu schaffen, um sie mit
dem Schädel zu vergleichen, vor allem Originalbildnisse. In Leipzig giebt es
deren zwei: das allbekannte Bild von Hausmann in der Thomasschule, das
Bach mit dem sechsstimmigen Kanon in der Hand zeigt, und das namentlich
durch die Lithographie von Schlick (1840) und durch den Sichliugschen Stich
(1851) bekannt geworden ist, und ein bisher weniger bekannt gewordnes, an¬
geblich auch von Hausmann gemalt, im Besitz des Herrn Dr. Abraham, des
Verlegers der weltbekannten „Edition Peters." Die beiden Bilder sind ein¬
ander sehr unähnlich; wenn sie in dem Porträtzimmer eines öffentlichen
Museums ohne Bezeichnung neben einander hingen, würde schwerlich jemand
daraus verfallen, sie für ein und dieselbe Person zu halten. Bei näherm Zu¬
sehen entdeckt man aber doch gemeinsame Züge, und zwar — genau dieselben
Wie an dem Schädel; weil sie so auffällig sind, hat sie der Maler auf keinem
der beiden Bilder verfehlen können. Das sind die niedrigen Augenhöhlen mit
ihren engen Lidspalten, die uuter einem deutlichen Stirnwulst kräftig vor¬
springende Nase und ein leises Vortreten des Unterkiefers über den Ober¬
kiefer. Nur die „fliehende" Stirn scheint zu fehlen; aber darüber läßt die Perücke
kein Urteil zu.

Um sich z» vergewissern, daß hier auch keine Täuschung vorliege, schlug
nun Professor His einen Weg ein, der bisher noch nie betreten worden war.
Er sagte sich:°wenn ein Künstler imstande ist. über einen Gipsabguß des


Grenzboten II I3K5 53
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[0425] Die Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs aus Eichenholz. Die zugehörigen Gebeine wurden mit möglichster Sorgfalt aus dem Erdreich herausgehoben. Professor His. der herbeigerufen worden war, erkannte darin die Reste eines jungen Weibes. Während man noch mit dem Sammeln der Gebeine beschäftigt war, kam nahe dabei ein zweiter eichener Sarg zum Vorschein. Da aber inzwischen die Mittagspause eingetreten war, wurde die Aushebung dieses zweiten Sarges auf den Nachmittag verschoben. Auch hier wieder wurden — trotz des schlechten Wetters, es war ein Regen¬ tag —, nachdem der Schädel freigelegt war, auch alle übrigen Teile des Skeletts sorgfältig gesammelt. Wie sich' herausstellte, waren es diesmal die Gebeine eines ältern Mannes. Um sie genauer prüfen zu können, wurden sie nach der anatomischen Anstalt gebracht und dort gereinigt, getrocknet und in der rich¬ tigen Ordnung auf einem Brett zusammengestellt. Der Schädel war sehr auffällig. Mit einem Dutzendkopfe hatte man es nicht zu thun. Er zeigte namentlich vier Eigentümlichkeiten: die mäßig lange und in ihrer hintern Hälfte breite Gehirnkapsel hatte eine etwas zurückweichende, eine sogenannte fliehende Stirn; die Augenbrauenbogen gingen nach der Mitte in einen starken Stirnnasenwnlst über, sodaß die Nasenwurzel einen tiefen Ein¬ schnitt bildete, aus dem der Nasenrücken in scharfem Winkel hervorsprang; die Augenhöhlen waren verhältnismäßig niedrig, mehr breit als hoch; endlich das eigentümlichste: der Unterkiefer trat etwas über den Oberkiefer vor. Es galt nun zunächst Bildnisse Bachs zur Stelle zu schaffen, um sie mit dem Schädel zu vergleichen, vor allem Originalbildnisse. In Leipzig giebt es deren zwei: das allbekannte Bild von Hausmann in der Thomasschule, das Bach mit dem sechsstimmigen Kanon in der Hand zeigt, und das namentlich durch die Lithographie von Schlick (1840) und durch den Sichliugschen Stich (1851) bekannt geworden ist, und ein bisher weniger bekannt gewordnes, an¬ geblich auch von Hausmann gemalt, im Besitz des Herrn Dr. Abraham, des Verlegers der weltbekannten „Edition Peters." Die beiden Bilder sind ein¬ ander sehr unähnlich; wenn sie in dem Porträtzimmer eines öffentlichen Museums ohne Bezeichnung neben einander hingen, würde schwerlich jemand daraus verfallen, sie für ein und dieselbe Person zu halten. Bei näherm Zu¬ sehen entdeckt man aber doch gemeinsame Züge, und zwar — genau dieselben Wie an dem Schädel; weil sie so auffällig sind, hat sie der Maler auf keinem der beiden Bilder verfehlen können. Das sind die niedrigen Augenhöhlen mit ihren engen Lidspalten, die uuter einem deutlichen Stirnwulst kräftig vor¬ springende Nase und ein leises Vortreten des Unterkiefers über den Ober¬ kiefer. Nur die „fliehende" Stirn scheint zu fehlen; aber darüber läßt die Perücke kein Urteil zu. Um sich z» vergewissern, daß hier auch keine Täuschung vorliege, schlug nun Professor His einen Weg ein, der bisher noch nie betreten worden war. Er sagte sich:°wenn ein Künstler imstande ist. über einen Gipsabguß des Grenzboten II I3K5 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/425>, abgerufen am 25.08.2024.