Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Wirren und Wege Konkurrenz, Aber es sind doch verhältnismäßig wenige, die mit kritischem Kann die Schule so durch Vermittlung mancher volkswirtschaftlichen Ein¬ Wirren und Wege Konkurrenz, Aber es sind doch verhältnismäßig wenige, die mit kritischem Kann die Schule so durch Vermittlung mancher volkswirtschaftlichen Ein¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0406" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220082"/> <fw type="header" place="top"> Wirren und Wege</fw><lb/> <p xml:id="ID_1545" prev="#ID_1544"> Konkurrenz, Aber es sind doch verhältnismäßig wenige, die mit kritischem<lb/> Geiste mehrere und entgegengesetzte Zeitungen lesen. Anstatt ohnmächtiger Ver¬<lb/> suche, mit Gesetzgebung dem Preßtreiben beizukommen, sollte doch die Regie¬<lb/> rung ein Interesse daran haben, auf den Oberklassen der Schulen die Staats¬<lb/> bürgersprößlinge auf die ihrer wartende publizistische Korruption vorzubereiten<lb/> und durch Mitgabe von Kriterien dagegen zu feien. Über ein so wichtiges<lb/> Institut wie die Börse zum Beispiel müßte jeder Staatsbürger mindestens<lb/> knappe, jedenfalls aber klare Vorstellungen haben. Es müßte schon der Jugend<lb/> klar gemacht werden, daß die Börse, bei all ihrer berechtigten Thätigkeit, doch<lb/> auch der Ort ist, wo das Nationalvermögen geschröpft wird. Hätte man erst<lb/> in weitesten Kreisen eine richtige Vorstellung, „wies gemacht wird," so würde<lb/> sich das Publikum schon selbst in Acht nehmen, und es bedürfte weder der<lb/> Börsenenqueten, noch eines viel bekrittelten Börsengesetzenlwurfs. Wer dann<lb/> trotz seines Wissens von dem Wesen der Agiotage u. s. w. spielte, der ver¬<lb/> diente gar keinen staatlichen Schutz.</p><lb/> <p xml:id="ID_1546" next="#ID_1547"> Kann die Schule so durch Vermittlung mancher volkswirtschaftlichen Ein¬<lb/> sichten gesetzgeberische Arbeiten überflüssig machen, so kann sie auch durch eine<lb/> neue, bisher nicht vorgcnommue Thätigkeit an den Verstandeswerkzeugen ihrer<lb/> Zöglinge noch ungeahnte» Nutzen stiften. Diese neue und durchaus nicht<lb/> schwierige Aufgabe besteht darin, die jungen Menschen auf die gefährlichen Fall¬<lb/> stricke des Verstandes aufmerksam zu machen und in ihrer Umgehung zu üben,<lb/> zu drillen. Der Verstand ist ein zügelloser, ausschweifender Geselle, gleichviel<lb/> ob groß oder klein. Sein Wille zur Macht besteht in einer fast krankhaften<lb/> Verallgemeinerungssucht. Er schließt in der unverschämtesten Weise von seiner<lb/> eignen Unzulänglichkeit auf die aller andern, aus einem einzelnen Fall macht<lb/> er eine allgemeine Regel, was ihn augenblicklich besonders blendet, das benennt<lb/> er sofort mit dem Superlativ. Aus „ich" macht er „man" oder „wir,"<lb/> „alle, jeder, keiner, niemals, unmöglich, nur" sind seine berauschendsten Worte,<lb/> vielleicht die gefährlichsten in der Sprache, weil sie meist krasse Übertreibungen<lb/> oder Uubeweisbarkeiten enthalten. Bei den berühmtesten und scharfsinnigsten<lb/> Schriftstellern lassen sich unglaubliche Übertreibungen nachweisen, die den ärgsten<lb/> Neklamestil erreichen und doch leicht zu vermeiden waren. Wie kann sich z. B.<lb/> ein hervorragender Schriftsteller zu so unbeweisbaren Behauptungen herbei¬<lb/> lassen, daß Aristoteles der größte Philosoph des Altertums, Bacon der größte<lb/> Naturforscher der Neuzeit sei? Einer behauptet sogar, daß Kant der größte<lb/> Denker aller Zeiten sei. Warum uicht statt Aristoteles Plato oder Sokrates,<lb/> statt Vacou Darwin und noch ein Dutzend andrer, statt Kant ebenfalls ein<lb/> halbes Dutzend andrer? Nietzsche schreibt: „Ich habe der Welt das tiefsinnigste<lb/> Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra." Ein Übersetzer eines pan-<lb/> theistischen indischen Lehrgedichts leistet sich folgendes: „Die Bhagavad Gita<lb/> (oder das „hohe Lied vom Erlöser") wird von allen, die ihren innern Wert</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0406]
Wirren und Wege
Konkurrenz, Aber es sind doch verhältnismäßig wenige, die mit kritischem
Geiste mehrere und entgegengesetzte Zeitungen lesen. Anstatt ohnmächtiger Ver¬
suche, mit Gesetzgebung dem Preßtreiben beizukommen, sollte doch die Regie¬
rung ein Interesse daran haben, auf den Oberklassen der Schulen die Staats¬
bürgersprößlinge auf die ihrer wartende publizistische Korruption vorzubereiten
und durch Mitgabe von Kriterien dagegen zu feien. Über ein so wichtiges
Institut wie die Börse zum Beispiel müßte jeder Staatsbürger mindestens
knappe, jedenfalls aber klare Vorstellungen haben. Es müßte schon der Jugend
klar gemacht werden, daß die Börse, bei all ihrer berechtigten Thätigkeit, doch
auch der Ort ist, wo das Nationalvermögen geschröpft wird. Hätte man erst
in weitesten Kreisen eine richtige Vorstellung, „wies gemacht wird," so würde
sich das Publikum schon selbst in Acht nehmen, und es bedürfte weder der
Börsenenqueten, noch eines viel bekrittelten Börsengesetzenlwurfs. Wer dann
trotz seines Wissens von dem Wesen der Agiotage u. s. w. spielte, der ver¬
diente gar keinen staatlichen Schutz.
Kann die Schule so durch Vermittlung mancher volkswirtschaftlichen Ein¬
sichten gesetzgeberische Arbeiten überflüssig machen, so kann sie auch durch eine
neue, bisher nicht vorgcnommue Thätigkeit an den Verstandeswerkzeugen ihrer
Zöglinge noch ungeahnte» Nutzen stiften. Diese neue und durchaus nicht
schwierige Aufgabe besteht darin, die jungen Menschen auf die gefährlichen Fall¬
stricke des Verstandes aufmerksam zu machen und in ihrer Umgehung zu üben,
zu drillen. Der Verstand ist ein zügelloser, ausschweifender Geselle, gleichviel
ob groß oder klein. Sein Wille zur Macht besteht in einer fast krankhaften
Verallgemeinerungssucht. Er schließt in der unverschämtesten Weise von seiner
eignen Unzulänglichkeit auf die aller andern, aus einem einzelnen Fall macht
er eine allgemeine Regel, was ihn augenblicklich besonders blendet, das benennt
er sofort mit dem Superlativ. Aus „ich" macht er „man" oder „wir,"
„alle, jeder, keiner, niemals, unmöglich, nur" sind seine berauschendsten Worte,
vielleicht die gefährlichsten in der Sprache, weil sie meist krasse Übertreibungen
oder Uubeweisbarkeiten enthalten. Bei den berühmtesten und scharfsinnigsten
Schriftstellern lassen sich unglaubliche Übertreibungen nachweisen, die den ärgsten
Neklamestil erreichen und doch leicht zu vermeiden waren. Wie kann sich z. B.
ein hervorragender Schriftsteller zu so unbeweisbaren Behauptungen herbei¬
lassen, daß Aristoteles der größte Philosoph des Altertums, Bacon der größte
Naturforscher der Neuzeit sei? Einer behauptet sogar, daß Kant der größte
Denker aller Zeiten sei. Warum uicht statt Aristoteles Plato oder Sokrates,
statt Vacou Darwin und noch ein Dutzend andrer, statt Kant ebenfalls ein
halbes Dutzend andrer? Nietzsche schreibt: „Ich habe der Welt das tiefsinnigste
Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra." Ein Übersetzer eines pan-
theistischen indischen Lehrgedichts leistet sich folgendes: „Die Bhagavad Gita
(oder das „hohe Lied vom Erlöser") wird von allen, die ihren innern Wert
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