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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Wirren und Wege

Wirtschaftsordnung möglichst in sich abgeschlossene Wirtschaftsgruppen ent¬
wickeln, die in sich verlaufende Ringe von Produktion und Konsumtion dar¬
stellten. Aber von diesem Wunsche bis zur Ausführung ist vorläufig noch
kein geebneter Weg vorhanden. Am Ende einer langen und schmerzensreichem
Entwicklung werden sich -- so viel kann man hente mit Sicherheit voraus¬
sagen -- solche Wirtschaftsgruppen bilden. Der Wettbewerb der Nationen
um die außereuropäischen Märkte kann doch nicht in Ewigkeit dauern. Wenn
sich auf dem ganzen Erdball örtliche Industriell gebildet haben werden, wird
das Jagen nach auswärtigen Märkten aufhören, und werden sich die Nationen
mehr und mehr in ihrem eignen Rahmen bewegen müssen. Und wie sich so
die Nationen zu abgeschlossenen -- nahezu abgeschlossenen -- Wirtschafts¬
gruppen entwickeln werden, so werden sich innerhalb der Nation kleinere und
immer kleinere wirtschaftlich auf einander angewiesene Kreise bilden. Bei allem
guten Willen und bei dem herzhaftesten Christentum läßt sich aber so etwas
nicht in kurzer Frist bewerkstelligen- Es würden zu viel liebe Gewohnheiten
verletzt werden, und die Übergangszeit würde zu vielen Menschen den ma¬
teriellen Ruin bringen, solange nicht für eine ausreichende Versicherung aller
derer gesorgt ist, die, sei es durch staatliche Maßregeln oder durch wirtschaft¬
liche Verschiebungen, um Brot oder Amt kommen. Selbst wenn eine so
kolossale Versicherung bestünde, müßte man noch mit einem dnrch richtige
Schulerziehung ausgebildeten Solidaritätsgefühl rechnen können, mit dem in
die breite Masse des Volkes gedrungnen und dort zur Überzeugung gewordnen
Bewußtsein, daß der kluge, wvhlverstcmdne Egoismus ohne Altruismus, ohne
das eigne Wohl in der Förderung des Wohles der andern zu sehen, nicht
denkbar ist. Wann aber wird das alles sein? Wird es überhaupt jemals
sein? Antwort: wir müssen es zu erreichen versuchen.

Vorläufig scheint mir der Versuch, die Produktion und den Umsatz zu
vereinfachen und besonders die Erzeugung von Luxusartikeln einzuschränken,
bei dem der Nachfrage vorauseilenden Angebot von Arbeitskräften die Sache
nur zu verschlimmern. Die unausbleibliche Folge würde vermehrte Arbeits¬
losigkeit sein. Schon heute wird kaum eine Frage im Reichstag erledigt, bei
der nicht das Gespenst der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen würde.

Gäbe es, was wir als Aufgabe einer zukünftigen Erziehung betrachten,
ein weit verbreitetes und tief wurzelndes Solidaritätsgefühl, so könnte jetzt
schon eine große Anzahl von Familien vor dem Untergänge bewahrt werden.
Wie häufig kommt es vor, daß bei Krankheit des Familienoberhauptes das
ganze Schicksal der Familie vielleicht von lumpigen hundert Mark abhängt! Der
Mann brauchte noch acht Tage Schonung, hat aber kein Geld mehr, fängt zu
früh wieder mit der Arbeit an und bekommt einen Rückfall; nun arbeitet sich
die Frau ab, wird ebenfalls krank, und so sort, bis Siechtum, leibliches oder
moralisches, in längern oder kürzern Fristen mit der Familie aufräumt. Um


Wirren und Wege

Wirtschaftsordnung möglichst in sich abgeschlossene Wirtschaftsgruppen ent¬
wickeln, die in sich verlaufende Ringe von Produktion und Konsumtion dar¬
stellten. Aber von diesem Wunsche bis zur Ausführung ist vorläufig noch
kein geebneter Weg vorhanden. Am Ende einer langen und schmerzensreichem
Entwicklung werden sich — so viel kann man hente mit Sicherheit voraus¬
sagen — solche Wirtschaftsgruppen bilden. Der Wettbewerb der Nationen
um die außereuropäischen Märkte kann doch nicht in Ewigkeit dauern. Wenn
sich auf dem ganzen Erdball örtliche Industriell gebildet haben werden, wird
das Jagen nach auswärtigen Märkten aufhören, und werden sich die Nationen
mehr und mehr in ihrem eignen Rahmen bewegen müssen. Und wie sich so
die Nationen zu abgeschlossenen — nahezu abgeschlossenen — Wirtschafts¬
gruppen entwickeln werden, so werden sich innerhalb der Nation kleinere und
immer kleinere wirtschaftlich auf einander angewiesene Kreise bilden. Bei allem
guten Willen und bei dem herzhaftesten Christentum läßt sich aber so etwas
nicht in kurzer Frist bewerkstelligen- Es würden zu viel liebe Gewohnheiten
verletzt werden, und die Übergangszeit würde zu vielen Menschen den ma¬
teriellen Ruin bringen, solange nicht für eine ausreichende Versicherung aller
derer gesorgt ist, die, sei es durch staatliche Maßregeln oder durch wirtschaft¬
liche Verschiebungen, um Brot oder Amt kommen. Selbst wenn eine so
kolossale Versicherung bestünde, müßte man noch mit einem dnrch richtige
Schulerziehung ausgebildeten Solidaritätsgefühl rechnen können, mit dem in
die breite Masse des Volkes gedrungnen und dort zur Überzeugung gewordnen
Bewußtsein, daß der kluge, wvhlverstcmdne Egoismus ohne Altruismus, ohne
das eigne Wohl in der Förderung des Wohles der andern zu sehen, nicht
denkbar ist. Wann aber wird das alles sein? Wird es überhaupt jemals
sein? Antwort: wir müssen es zu erreichen versuchen.

Vorläufig scheint mir der Versuch, die Produktion und den Umsatz zu
vereinfachen und besonders die Erzeugung von Luxusartikeln einzuschränken,
bei dem der Nachfrage vorauseilenden Angebot von Arbeitskräften die Sache
nur zu verschlimmern. Die unausbleibliche Folge würde vermehrte Arbeits¬
losigkeit sein. Schon heute wird kaum eine Frage im Reichstag erledigt, bei
der nicht das Gespenst der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen würde.

Gäbe es, was wir als Aufgabe einer zukünftigen Erziehung betrachten,
ein weit verbreitetes und tief wurzelndes Solidaritätsgefühl, so könnte jetzt
schon eine große Anzahl von Familien vor dem Untergänge bewahrt werden.
Wie häufig kommt es vor, daß bei Krankheit des Familienoberhauptes das
ganze Schicksal der Familie vielleicht von lumpigen hundert Mark abhängt! Der
Mann brauchte noch acht Tage Schonung, hat aber kein Geld mehr, fängt zu
früh wieder mit der Arbeit an und bekommt einen Rückfall; nun arbeitet sich
die Frau ab, wird ebenfalls krank, und so sort, bis Siechtum, leibliches oder
moralisches, in längern oder kürzern Fristen mit der Familie aufräumt. Um


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[0402] Wirren und Wege Wirtschaftsordnung möglichst in sich abgeschlossene Wirtschaftsgruppen ent¬ wickeln, die in sich verlaufende Ringe von Produktion und Konsumtion dar¬ stellten. Aber von diesem Wunsche bis zur Ausführung ist vorläufig noch kein geebneter Weg vorhanden. Am Ende einer langen und schmerzensreichem Entwicklung werden sich — so viel kann man hente mit Sicherheit voraus¬ sagen — solche Wirtschaftsgruppen bilden. Der Wettbewerb der Nationen um die außereuropäischen Märkte kann doch nicht in Ewigkeit dauern. Wenn sich auf dem ganzen Erdball örtliche Industriell gebildet haben werden, wird das Jagen nach auswärtigen Märkten aufhören, und werden sich die Nationen mehr und mehr in ihrem eignen Rahmen bewegen müssen. Und wie sich so die Nationen zu abgeschlossenen — nahezu abgeschlossenen — Wirtschafts¬ gruppen entwickeln werden, so werden sich innerhalb der Nation kleinere und immer kleinere wirtschaftlich auf einander angewiesene Kreise bilden. Bei allem guten Willen und bei dem herzhaftesten Christentum läßt sich aber so etwas nicht in kurzer Frist bewerkstelligen- Es würden zu viel liebe Gewohnheiten verletzt werden, und die Übergangszeit würde zu vielen Menschen den ma¬ teriellen Ruin bringen, solange nicht für eine ausreichende Versicherung aller derer gesorgt ist, die, sei es durch staatliche Maßregeln oder durch wirtschaft¬ liche Verschiebungen, um Brot oder Amt kommen. Selbst wenn eine so kolossale Versicherung bestünde, müßte man noch mit einem dnrch richtige Schulerziehung ausgebildeten Solidaritätsgefühl rechnen können, mit dem in die breite Masse des Volkes gedrungnen und dort zur Überzeugung gewordnen Bewußtsein, daß der kluge, wvhlverstcmdne Egoismus ohne Altruismus, ohne das eigne Wohl in der Förderung des Wohles der andern zu sehen, nicht denkbar ist. Wann aber wird das alles sein? Wird es überhaupt jemals sein? Antwort: wir müssen es zu erreichen versuchen. Vorläufig scheint mir der Versuch, die Produktion und den Umsatz zu vereinfachen und besonders die Erzeugung von Luxusartikeln einzuschränken, bei dem der Nachfrage vorauseilenden Angebot von Arbeitskräften die Sache nur zu verschlimmern. Die unausbleibliche Folge würde vermehrte Arbeits¬ losigkeit sein. Schon heute wird kaum eine Frage im Reichstag erledigt, bei der nicht das Gespenst der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen würde. Gäbe es, was wir als Aufgabe einer zukünftigen Erziehung betrachten, ein weit verbreitetes und tief wurzelndes Solidaritätsgefühl, so könnte jetzt schon eine große Anzahl von Familien vor dem Untergänge bewahrt werden. Wie häufig kommt es vor, daß bei Krankheit des Familienoberhauptes das ganze Schicksal der Familie vielleicht von lumpigen hundert Mark abhängt! Der Mann brauchte noch acht Tage Schonung, hat aber kein Geld mehr, fängt zu früh wieder mit der Arbeit an und bekommt einen Rückfall; nun arbeitet sich die Frau ab, wird ebenfalls krank, und so sort, bis Siechtum, leibliches oder moralisches, in längern oder kürzern Fristen mit der Familie aufräumt. Um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/402>, abgerufen am 24.08.2024.